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Von Kai Vöckler.

Zwischen Priština und Graz – eine europäische Begegnung

Visar Geci, geboren in Priština, ist Architekturstudent in Graz, Barkeeper mit eigener Fernsehsendung und Fitnessstudiobesitzer. Außerdem definiert sich Geci als kosovarischer Patriot, der alles für den Aufbau des Kosovo tut. Kai Vöckler beschreibt für „Report“ seine Begegnung mit dem überzeugten Europäer, der zwischen Graz und Priština sein ungewöhnliches Lebensmodell findet.

Den heute 33-jährigen Visar Geci, geboren in Priština (auf Albanisch: Prishtinë), Kosovo, und seit dem Jahr 2007 österreichischer Staatsbürger, traf ich erstmals 2005 auf einer Konferenz der Technischen Universität Graz zum Thema Stadtentwicklung in Osteuropa. Der kosovo-albanische Student an der Fakultät für Architektur zeigte in der Kaffeepause Fotos aus seiner Heimatstadt Priština, die mich schlicht „umgehauen“ haben. Die Fotografien dokumentierten beeindruckende Gebäude und Baustrukturen; eine ungeregelte, alle mir bekannten Maßstäbe überschreitende Bautätigkeit schien die Stadt nach Einmarsch der NATO-Truppen im Jahr 1999 förmlich gesprengt zu haben. Und auch beim ersten Augenschein war mir klar, dass es sich um eine besondere Form sogenannter „informeller“ Siedlungstätigkeit handeln musste. Im Gespräch mit Visar Geci und seinem Freund Gezim Kastrati wurde mein erster Eindruck bestätigt: An dieser Bautätigkeit waren weite Kreise der kosovo-albanischen Gesellschaft beteiligt, von Landmigranten bis hin zu Ministern der provisorischen Selbstregierung, von den aus der EU oder der Schweiz repatriierten albanischen Flüchtlingen bis hin zu alteingesessenen Familien. Ohne hier auf die komplizierte politische Situation eingehen zu können, waren die anderen Bevölkerungsgruppen wie die Kosovo-Serben wenig interessiert, unter den -neuen Verhältnissen im Kosovo in Form von Immobilien in die Zukunft zu investieren.

Besonders frustrierend war aus architektonischer und planerischer Sicht, dass die existierende Stadtstruktur weitgehend zerstört, die professionelle Expertise von den Bauherren praktisch nicht in Anspruch genommen wurde und die politisch Verantwortlichen, die UN-Verwaltung und die provisorische Regierung, tatenlos dem Treiben zuschauten. Mein Interesse war geweckt und spontan bot ich an, im Sommer nach Priština zu kommen. So buchte ich einen Flug und fand mich im August 2005 in der Wartezone des Flughafens Wien zusammen mit kosovo-albanischen Großfamilien, uniformierten Angehörigen der KFOR (Kosovo Force) aus den verschiedensten Ländern dieser Welt und den üblichen im Politgeschäft tätigen Anzugträgern wieder. Was es heißt, in ein von der UNO verwaltetes Land einzureisen, wurde mir erst klar, als ich die von der im Kosovo eingesetzten Interimsverwaltung der Vereinten Nationen ausgestellten UNMIK-Pässe der Kosovo-Albaner bei der Passkontrolle sah und in Priština auf dem Flugfeld österreichischen Grenzschützern begegnete, ein indischer KFOR-Angehöriger meinen Pass kontrollierte und ich bei der Gepäckausgabe auf italienische Carabinieri stieß, die hier die Aufsicht führten. Vor dem Flughafen begrüßte mich ein Panzerspähwagen der KFOR und ich wurde herzlich von Visar Geci und Gezim Kastrati inmitten einer auf ihre Familienangehörigen wartenden Menge in Empfang genommen.

Schon die Fahrt in die Stadt zeigte eindrucksvoll die rasanten Veränderungen in den vergangenen Jahren seit der Beendigung des Krieges. Links und rechts standen auf den Äckern halbfertige Häuser, entlang der Straße reihten sich kleine Kioske, dahinter die Geschäfte in den neu errichteten Gebäuden, deren Obergeschoße zumeist bewohnt wurden, aneinander, dazwischen waren Baustofflager und Tankstellen zu sehen und kurz vor Priština dann rechterhand die Betonwälle des UN-Compounds. Je näher wir Priština kamen, umso mehr nahmen der Verkehr und die Bebauungsdichte zu. Am Stadtrand tauchte der jugoslawische Geschoßwohnungsbau am Straßenrand auf, der um ein bis zwei nicht geplante Geschoße nach oben erweitert worden war. Von einer der Fassaden hing ein riesiges Poster mit dem lächelnden und winkenden Bill Clinton, der Ankommende willkommen hieß. Nach ihm wurde auch der Boulevard benannt, der vom Flughafen in die Stadt führt. Überall wehten Fahnen der USA, Großbritanniens, Deutschlands und der NATO, gelegentlich auch der EU, die die enge Verbundenheit der kosovo-albanischen Bevölkerungsmehrheit mit den KFOR-Truppen bekundeten.

Die ganze Stadt schien sich in einem Zustand permanenter Veränderung zu befinden, allerorten waren Baustellen zu sehen, fanden Abbrüche statt und standen halbfertige Stahlbetonkonstruktionen herum. Jede freie Ecke war noch mit einem kleinen Geschäft zugebaut, meis-tens eine einfache Stahlkonstruktion mit Metallwänden. In noch nicht fertiggestellten Häusern, in denen die Obergeschoße als Stahlbetonskelett in die Höhe ragten, wurden die unteren Geschoße bereits genutzt. Blau oder grün verspiegelte Glasfassaden verwiesen auf Büroräume und Geschäfte, auf den unverputzten Balkonen der darüberliegenden Geschoße hatte man die Wäsche zum Trocknen aufgehängt: Man hatte sich bereits im Provisorium eingerichtet. Und je mehr wir uns dem Zentrum näherten, umso unvermittelter prallten die Gegensätze aufeinander: Moscheen kontrastierten mit den neu errichteten Glaspalästen von Banken und Unternehmen, Bauten der jugoslawischen Moderne mit den in den vergangenen Jahren schnell hochgezogenen mehrgeschoßigen Wohn- und Bürobauten; dazwischen duckten sich vereinzelt noch die traditionellen albanischen, eingeschoßig-quadratischen Wohnhäuser. Ein riesiges Durcheinander, das eine beeindruckende Energie ausstrahlte. Bei unseren Streifzügen durch die Stadt war es Visar Gecis tiefgründiger Humor, der zum Verständnis selbst der absonderlichsten Ausformungen beitrug.
Erst mit der Zeit begann ich, durch seine Vermittlung die dahinterliegenden Kräfte dieses unregulierten Bauens zu verstehen, wie unter ungeklärten Rechtsbedingungen und ökonomisch unsicheren Lebensverhältnissen die albanischen Bewohner von Priština mit großem Optimismus angesichts der veränderten politischen Lage angefangen hatten, ihre Zukunft zu gestalten. Dies war umso erstaunlicher, als der Kosovo die schlechtesten wirtschaftlichen Daten der Region und eine Arbeitslosigkeit von über 40 Prozent aufweist. Faktisch vermag der Kosovo nur durch die Hilfeleistungen von Familienmitgliedern zu überleben, die legal oder illegal in der EU oder anderen wohlhabenden Ländern arbeiten und ihr Geld nach Hause überweisen. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa ein Fünftel der kosovarischen Bevölkerung in Österreich, der Schweiz und Deutschland lebt. Dort werden sie aber mehr und mehr in die Illegalität getrieben, da es erklärtes Ziel der EU (und der mit ihr assoziierten Schweiz) ist, Migranten in ihre Heimatländer zurückzuschicken –
absurd angesichts der Tatsache, dass gleichzeitig von der EU Milliarden an Entwicklungshilfe in den Kosovo überwiesen werden.
Visar Geci hat dagegen das Kunststück fertiggebracht, in Umkehrung der wirtschaftlichen Lage sein Geld für das Architekturstudium in Graz im Kosovo zu verdienen.
Zunächst standen die Zeichen aber nicht dafür. 1994 versuchte er, im Kosovo seine Ausbildung zu beginnen, und studierte Grafik-Design in Priština unter widrigsten Umständen. Seit der Verhängung des Ausnahmezustands 1989 durch das serbische Milošević-Regime wurde eine Apartheidpolitik gegenüber den Albanern durchgesetzt, die diese faktisch aus allen öffentlichen Institutionen sowie maßgeblichen wirtschaftlichen Branchen verbannte, ihre Sprache verbot und sie dazu zwang, illegale Strukturen, beispielsweise im Bildungssektor, aufzubauen. Unterrichtet wurde in privaten Wohnungen, jeden Monat musste die Örtlichkeit gewechselt werden. Wurde man ertappt, gab es Prügel von den serbischen Milizen, und die Lehrer wurden verhaftet.
Unter diesen Umständen nahm Visar Geci 1995 das Angebot wahr, sein Studium in Österreich fortzusetzen. Nachdem er einen Vorbereitungskurs mit Sprachtest erfolgreich bestanden hatte, konnte er sein Architekturstudium beginnen. Doch wovon sollte er leben? Als Student durfte er legal arbeiten, aber die immer noch ungenügenden Sprachkenntnisse ließen keine qualifizierte Arbeit zu. Im Winter wurde Schnee geräumt, nachts Würstel verkauft und zwischendurch Prospekte verteilt. Sein Zimmer im Studentenwohnheim teilte er sich mit seinem Freund Gezim, auch der PC wurde gemeinsam genutzt.
Die Wende setzte mit einem Aushilfsjob im „Poco Loco“ in Graz ein. Man war zum -Gläser einsammeln eingestellt worden, aber Visar Geci war fasziniert vom Cocktailmixen, von der Show, die die mit den Flaschen jonglierenden Barmixer abzogen. Das gab es im Kosovo nicht. Er lernte von den Barkeepern die Tricks und im Sommer 2002 fing er in einer Bar im Zentrum von Priština an zu arbeiten – zusammen mit Gezim. Sie machten die Nachtschicht, organisierten alles, auch die Kellner, und bekamen 20 Prozent des Umsatzes. Ein großer Erfolg, so etwas hatte man in Priština noch nicht gesehen. Im Sommer 2003 trat der Eigentümer des „QMI“ an sie heran: Sie sollten in dem ungenutzten Kellergeschoß des zwölf Kilometer außerhalb der Stadt gelegenen Shoppingcenters eine temporäre Bar einrichten. Das Konzept ging auf, dreimal die Woche kamen bis zu tausend Besucher. Davon ermutigt, wurde in den Semesterferien 2004 innerhalb Prištinas in einem Neubau wiederum eine temporäre Bar eingerichtet. Diesmal verblieb die Hälfte des Gewinns bei den beiden jungen Männern.
Die zwei waren längst Stadtgespräch. Der private Fernsehsender KTV fragte Visar Geci, ob er nicht eine Cocktailshow für das Fernsehen machen wolle. Ab 2005 lief die Sendung – ohne Bezahlung, aber dafür mit bester Werbung für die Bar. Das Besondere an der Cocktailshow war, dass Geci daraus eine Politiksatiresendung machte, in der er oftmals das öffentlich aussprach, was sich keiner zu sagen traute. Was nicht alle freute, insbesondere die lokalen Politiker. Der durchschlagende Erfolg mit Einschaltquoten über 80 Prozent sollte ihm recht geben –
und seiner Bar nützen. Auf dem Parkplatz des „Hiper Market“ am Rand der Stadt gelegen, hatte er eine improvisierte Bar errichtet, zu der dreimal wöchentlich mehrere Tausend kamen und bis in die Morgenstunden feierten. Das Geschäftsmodell war so erfolgreich, dass davon die Miete des Zimmers in Graz und der Lebensunterhalt für ein Jahr, ein neuer Laptop und ein Motorrad bezahlt werden konnten. „Den Rest habe ich meinen Eltern gegeben, meine Eltern haben mich immer unterstützt und jetzt kann ich ihnen etwas zurückgeben.“
Im Sommer 2006 wurde das erfolgreiche Konzept wiederholt, gleichzeitig erfolgte der Aufbau eines professionellen Fitnessstudios in Priština. Dort trainieren nun die Mitarbeiter der UN-Verwaltung ebenso wie ehemalige UÇK-Kämpfer (der kosovo-albanischen Befreiungsarmee), Ministerialbeamte und Angehörige der KFOR. Aber Visar Geci sieht sich als Architekt und will in erster Linie am Aufbau des Kosovo mitarbeiten. Er legt großen Wert darauf, dass in seinem Fitnessstudio auch Kosovo-Serben Mitglieder sind. Er verfolgt zudem bereits erste Architekturprojekte in Priština, einzig das Diplom in Graz fehlt noch. Dazwischen kam die Einbürgerung in Österreich 2007, der unmittelbar die Einberufung zum sechsmonatigen Militärdienst folgte. Für Visar Geci kein Problem – er ist Österreich außerordentlich dankbar, dass er seinerzeit aufgenommen wurde.
Was er jetzt in Priština durchsetzt: Zusammen mit Kollegen wurde mit Unterstützung der internationalen Architekturzeitschrift „Archis/Volume“ die lokale nichtstaatliche Organisation Archis Interventions/Priština gegründet, die in den laufenden Prozess der Stadtentwicklung interveniert und mit fachlicher Expertise versucht, den chaotischen Verlauf der Stadtentwicklung zu verbessern. Mit großem Erfolg, wie sich gerade zeigt – eine eigene Fernsehsendung zu den Problemen des illegalen Bauens ist in Vorbereitung. Aber es muss noch das Diplom in Graz gemacht werden. Auch wenn schon an der Zukunft des Kosovo mitgebaut wird.



Kai Vöckler, geboren 1961, ist freischaffender Stadtforscher und Publizist in Berlin. Er hat zahlreiche Publikationen zu urbanistischen Themen veröffentlicht, ist Gastkurator an europäischen Kulturinstitutionen und realisiert seit vielen Jahren Projekte mit Architekten und Stadtplanern. Vöckler ist Gründungsmitglied von Archis Interventions, einer nichtstaatlichen Organisation, die sich in Zusammenarbeit mit lokalen Initiativen seit 2005 mit den Problemen städtischer Entwicklung in Postkonfliktsituationen auseinandersetzt. Archis Interventions ist zurzeit in Pri‰tina, Mostar, Beirut und Kabul aktiv.

Im Oktober 2008 erscheint die Publikation „Prishtina is everywhere. Turbo-Urbanismus als Resultat einer Krise“ von Kai Vöckler. Er kuratiert auch die Ausstellung „Balkanology. Neue Architektur und urbane Phänomene in Südosteuropa“ im Schweizerischen Architekturmuseum in Basel, die am 3. Oktober eröffnet wird. Vöckler baut zurzeit ein Netzwerk unabhängiger urbanistischer Initiativen in Südosteuropa auf.
www.kai.voeckler.de

Kai Vöcklers Recherchen werden maßgeblichlich von der ERSTE Stiftung unterstützt. www.erstestiftung.org


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa, Oktober 2008
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