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Von Kathrin Lauer.

"Ein Kommunist lügt immer"

Dispute zwischen Linken, Rechten und Liberalen in Ungarn. Kathrin Lauer: Eine Situationsanalyse

Die aus Moskau aufgezwungene Staatsideologie wurde in Ungarn nicht nur wegen Terrors und Freiheitseinschränkungen gehasst, sondern auch wegen ihrem originär als Lüge empfundenen Kern: nämlich dem Versprechen, alle Menschen gleich und glücklich zu machen. „Ein Kommunist lügt immer“ ist daher das Schlagwort gemäßigter wie auch radikaler Antikommunisten in Osteuropa – und es war auch während der Budapester Protestdemos im Herbst 2006 zu hören. Dispute zwischen Linken, Rechten und Liberalen spalten momentan das Land und die wochenlangen Demonstrationen am Parlamentsplatz nach der „Lügenrede“ des sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány schienen wie ein vorhersehbarer Unfall. Dennoch: Die offiziellen Etiketten stimmen nicht mit dem realen Inhalt der einzelnen Parteien überein. Eine Analyse der Ereignisse, Wirrnisse und historischen Hintergründe.

Das grandioseste Fest in Ungarns turbulentem Jahr 2006 war ausgerechnet ein Begräbnis: Ferenc Puskás, die ungarische Fußball-Legende, gestorben in diesem November nach langer, schwerer Krankheit, wurde nach einer sage und schreibe sechsstündigen Trauerfeier in der Krypta der Budapester Sankt-Stephans-Basilika beigesetzt. Historisch kostümierte Soldaten brachten den Sarg auf einem traditionellen Pferdewagen zur Kirche, internationale Sport-VIPs und der Staatspräsident hielten Traueransprachen, ein Chor sang himmlisch. Die „schöne Leich’“ passte zur traditionellen Todessehnsucht, die, gepaart mit Pessimismus, den Ungarn schon seit jeher nachgesagt wird. Am Tag danach ätzte die linksliberale Tageszeitung „Népszabadság“, man habe den „Toten der Nation“ ohne politische Querelen „friedlich begraben“ – und dies sei eine Sensation. Denn normalerweise wird in Ungarn jedes Großereignis von parteipolitischen Querelen begleitet. So war es auch bei den Feiern zum 50-Jahre-Jubiläum des antikommunistischen Ungarn-Aufstands von 1956. Die linksliberale Regierung und die rechtskonservative Opposition feierten getrennt. Zum einen werfen die Rechten den Linken generell vor, geistige Erben der damals stalinistischen Kommunisten zu sein. Zum anderen hatten die kurz vor den 1956er-Feierlichkeiten aufgeflammten Krawalle um die „Lügen-Rede“ des sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány die Fronten noch mehr verhärtet.

Dispute zwischen Linken, Rechten und Liberalen spalten das Land, beenden in Ungarn Freundschaften, scheiden Ehen. Insofern wirkten die Krawalle, die Attacken des rechten Mobs auf das Fernsehgebäude, die wochenlangen Demonstrationen auf dem Parlamentsplatz nach Gyurcsánys „Lügenrede“ wie ein vorhersehbarer Unfall. Der Anlass war spektakulär. Im September war eine parteiinterne Rede bekannt geworden, in der Gyurcsány sich selbst und seinen Parteifreunden vorhielt, dem Volk die wahre, desaströse Budgetlage sowie die Sparpläne verschwiegen zu haben, um die Parlamentswahl im Frühjahr 2006 zu gewinnen. „Wir haben gelogen, morgens, nachts und abends“, sagte Gyurcsány. Zweck dieser Rede war, die eigenen Leute aufzurütteln, ihnen klarzumachen, dass es so nicht weitergehe, dass man den Menschen die Wahrheit sagen müsse. Dennoch wog das Wort „Lüge“, das Gyurcsány dabei mehrmals gebrauchte, schwer. Es war, so schien es, der letzte Kick, den Ungarns Rechtskonservative und Rechtsradikale brauchten, um auf die Straße zu gehen. Dass es dabei zu Gewalt kam, hat zunächst dieselben irrationalen Gründe, derentwegen in aller Welt Fußballrowdys mit Baseballknüppeln um sich schlagen. Dass aber Tausende normalerweise brave Bürger wochenlang auf die Straße gingen und mit den Gewalttätern sympathisierten, hat tiefer gehende Motive. Vordergründig war es das schwere Wort „Lüge“, das nahezu im ganzen früheren Ostblock mit den Kommunisten identifiziert wird. Die aus Moskau aufgezwungene Staatsideologie wurde nicht nur wegen des Terrors und Freiheitseinschränkungen gehasst, sondern auch wegen ihrem originär als Lüge empfundenen Kern: nämlich dem Versprechen, alle Menschen gleich und glücklich zu machen. „Ein Kommunist lügt immer“ ist daher das Schlagwort gemäßigter wie auch radikaler Antikommunisten in Osteuropa – und es war auch während der Budapester Protestdemos zu hören.

Zugleich offenbarte der Volksprotest gegen die linksliberale Regierung auch eine nicht nur für Ungarn typische Verwischung der Begriffe „links“ und „rechts“. Gyurcsány ist zwar offiziell ein Sozialist, aber kein Linker. Mit seinem Sparprogramm zur Verringerung des katastrophalen Budgetdefizits, mit seinem Werben für Leistung, Wettbewerb und für ausländische Investoren, die mehr Arbeitsplätze bringen sollen, propagiert er einen Neoliberalismus à la Tony Blair. Die sich als rechtsnational fühlenden Demonstranten verlangten wiederum eine etatistische Fürsorgepolitik, wie etwa die Beibehaltung der defizitären staatlichen Krankenhäuser und höhere Renten.

„Wenn jemand Grund hat, in Ungarn Protestdemonstrationen zu organisieren, dann ist es der betrogene sozialistische Wähler. Dennoch treffen wir keine Demonstranten mit roter Fahne an.“ Das schreibt Gáspár Miklós Tamás, Philosophieprofessor in Budapest, einer der interessantesten Querdenker und Animateure der politischen Debatten in Ungarn, der auch dann Respekt genießt, wenn er nicht recht hat. So rief Tamás, den man auch unter seinem Markenzeichen TGM (nach den Initialen seines Namens) kennt, in diesem Sommer das Volk auf, die regierenden Sozialisten durch Boykott der landesweiten Kommunalwahlen im Herbst zu bestrafen. Die verbürgerlichten Sozis, so meinte er, sollten dadurch gezwungen werden, sich auf „das linke Minimum“ zu besinnen – das heißt: auf den Vorrang der sozialen Gerechtigkeit. Die Kommunalwahlen, die kurz nach Gyurcsánys „Lügenskandal“ stattfanden, gewann dann tatsächlich die oppositionelle rechtskonservative Fidesz (Fiatal Demokraták Szövetsége) des Populisten Viktor Orbán. Tamás sieht allerdings die politischen Fronten in Ungarn nicht „links“ oder „rechts“, sondern in politischen Urbildern, die schon seit den antihabsburgischen Revolten in Ungarn einander unversöhnlich gegenüberstehen. Auf der einen Seite sind es die „dogmatischen Modernisierer“, denen früher die pro-habsburgischen Aufklärer zuzuordnen waren und heute die kosmopolitischen, pragmatischen und urbanen Linksliberalen sind. Ihnen gegenüber stehen die „beleidigten Nationalisten“, die früher zum antikaiserlichen Widerstand gehörten und sich heute in vielerlei rechten bis ultrarechten Strömungen offenbaren. Damals wie heute gehörte, so Tamás, die Neigung zum ländlichen, angeblich guten alten Ungarn, die Ablehnung des Urbanen und des Fremden zu deren Grundgefühl. Dominant als Grundhaltung der Linksliberalen ist das Bekenntnis zur Vernunft, bei den Rechten hingegen die Leidenschaft. Dies äußerte sich auch jetzt im Wahlkampfverhalten der beiden Blöcke. Orbáns Fidesz versprach in irrationaler Weise unter anderem Hunderttausende neue Arbeitsplätze und eine 14. Monatsrente, nachdem dieselbe Partei im Parlament gegen die 13. Rente gestimmt hatte. Die Sozialliberalen versprachen auch eine Menge, doch in pragmatischer Weise in allgemeiner formulierten Schlagwörtern.

Vorherrschend bei den Rechten ist nach Tamás’ Lesart zudem der selbstmitleidige „Kult für die Niederlage“. In übersteigerter Form führt er dazu, dass viele Rechte sogar die Niederlage in Mohács gegen die Türken im Jahr 1526, die Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg, ja sogar den niedergeschlagenen Aufstand von 1956 als „vergessene Siege“ empfinden. Insofern dürfte die Schlacht vor dem TV-Gebäude im vergangenen Herbst als weiterer Heldenmythos in das kollektive Gedächtnis der ungarischen Rechten eingehen.

Die ungleiche Verteilung der Leidenschaftsbereitschaft erklärt, so Tamás, weshalb in Ungarn eher die Rechten als die Linken protestierend auf die Straße gehen. Die „authentische Linke“ gehe an diesem dualen Wertesystem in Ungarn spurlos vorbei. Tamás argumentiert aus einem marxistischen Ansatz heraus, den er sich auf Umwegen angeeignet hat. 1948 im siebenbürgischen Klausenburg (Cluj) geboren, wanderte er 1978 nach Ungarn aus und lehrte Philosophiegeschichte in Budapest. Drei Jahre später wurde er entlassen, weil er im damals kommunistischen Ungarn vor Studenten den Marxismus kritisierte. Er lehrte daraufhin unter anderem an der US-Prestigeuniversität Yale. Gleich nach der Wende wurde er Gründungsmitglied der ungarischen Liberalen (SZDSZ) und war als Vorstandsmitglied jahrelang einer ihrer führenden Köpfe. Gegen Ende der neunziger Jahre schwenkte Tamás nach links und wurde führendes Mitglied der antiglobalistischen Organisation Attac.

Zwar waren die Gewalttäter bei den Budapester Krawallen mehrheitlich jung. Dies ist zunächst aber noch kein schlüssiger Beweis für eine generationsbedingte politische Frontbildung in Ungarn, sondern eher ein Beleg für Tamás’ These von der Bereitschaft zu Leidenschaftsausbrüchen als politischer Motor, der den Rechten wie auch den jüngeren Leuten eigen ist. Unter den friedlichen Demonstranten auf dem Parlamentsplatz waren alle Generationen und auch sehr unterschiedliche soziale Schichten vertreten: vom rockigen Jüngling mit Dreitagebart bis hin zur Lehrerin kurz vor der Pensionierung.

Nun sind die Scherben nach den Krawallen längst weggekehrt, mehr als 100 Randalierer wurden verhaftet. Die Berufspolitiker haben die Bühne zurückerobert. Der Oppositionsführer Orbán ruft die EU auf, die „lügnerische“ Gyurcsány-Regierung nicht zu unterstützen. Sein Plan, das Sparpaket durch sieben Volksbefragungen zu kippen, ist weitgehend am Widerstand der Landeswahlkommission gescheitert. Unterdessen beschließt das Parlament eine Sparmaßnahme nach der anderen – Praxisgebühren, Rentenkürzungen –, während die Regierung sich bemüht, Investoren im Land zu halten, die wegen erhöhter Steuern aufbegehren. Mit Audi im westungarischen Györ, dem größten Investor im Land, musste ein erster Kompromiss geschlossen werden. Die Tochter des deutschen Konzerns darf Kosten für Forschung und Entwicklung von der neuen, vierprozentigen Solidaritätssteuer abschreiben. Eine pragmatische, linksliberale Lösung.



Kathrin Lauer, geboren 1964 in Bukarest, wanderte 1980 in die Bundesrepublik Deutschland aus. Sie studierte Romanistik und Neuere Geschichte in Bonn und Paris. Seit 1994 ist sie als freie Journalistin unter anderem für die Deutsche Presse-Agentur (dpa), die „Süddeutsche Zeitung“ und den „Standard“ tätig. Schwerpunktthemen ihrer Arbeit bilden Rumänien und Ungarn. Kathrin Lauer lebt abwechselnd in Budapest und Bukarest.

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Jänner 2007
> Link: REPORT online > Link: hungary1956.com-