Aktuell *Ost Über Uns Archiv Impressum English




Von Georg Schöllhammer.

Architektur mit nationalromantischem Unterton

Vom „Kalkstein-Funktionalismus“ der 1930er Jahre bis zur estnischen Postmoderne: Wie in kaum einem anderen europäischen Staat verbinden sich in Estland die Architektur-Utopien des vergangenen Jahrhunderts mit der Idee von einer eigenen Nation.

Wer in Tallinn den ästhetisch auf der Höhe der Zeit stehenden Art-Nouveau-Bau des estnischen Nationaltheaters mit dem gleich nebenan situierten behäbig späthistoristischen Russischen Theater vergleicht, sieht mehr als zwei Stilepochen einander gegenüberstehen. Er sieht moderne Architektur als eine Stadtfigur gewordene historische Metapher. Aber davon später. Erst in diesem Sommer hat das junge Architekturmuseum in Tallinn ein besonderes Kapitel in diesem faszinierenden Vexierspiel hinsichtlich des Verhältnisses von Architektur, Modernismus und Gesellschaft in einer großen Ausstellung um eine neue Lesart bereichert: Die Retrospektive zeigte die Geschichte einer Gruppe von Tallinner Architekten, die sich mit ihren Projekten, Bauten und Utopien in den 1970er Jahren von der sowjetischen Unionsrepublik aus in die internationale Architekturhistorie einschrieb – die der später sogenannten „Schule von Tallinn“. Es ist eine faszinierende historische Anomalie, welche in der Tallinner Schau nacherzählt und plastisch wird und die bis in die Gegenwart reicht. Viele der damaligen Avantgardisten gehören nämlich mittlerweile zu den viel beschäftigten Wendearchitekten der Transformationsperiode der 1990er Jahre, leiten große Projektbüros und gestalten Tallinn durchaus auch im Geiste eines stilistischen Mainstreams internationaler Meis-terarchitektur um. Andere, wie der in vielen Genres aktive Leonhard Lapin, gelten heute als die ebenso national gefeierten wie stark umstrittenen Leitfiguren einer lokalen Avantgarde, die schon zu Sowjetzeiten bestens vernetzt agierte. So vernetzt, dass das Echo ihrer Utopien über Moskau bis weit in die kaukasischen oder zentralasiatischen Unionsrepubliken hallte und in den westlichen Architektur-Magazinen als Beleg für ästhetische Dissidenz im späten Kalten Krieg gefeiert wurde.
Die Geschichte der Gruppe beginnt in den späten 1960er Jahren. Der Zeitpunkt war komplex: Gerade hatte die Moskauer Nomenklatur den kulturellen Lockerungsübungen der modernistischen Sweet Sixties im poststalinistischen Sowjetimperium Einhalt geboten. Die neue konservative Rigidität der Kulturpolitik nach 1970 war unter anderem eines der Mittel, mit welchen man ein Weiterleben der Ideen des mit Popmotiven angereicherten Prager Reform-Frühlings zu verhindern versuchte. Während allenthalben die dort oder da sich formierenden neo-avantgardistischen Bewegungen aus der öffentlichen Wahrnehmung in innere oder reale Emigration gedrängt wurden, verschaffte sich in Tallinn ein loser Freundeskreis von Grafikern, Designern, bildenden Künstlern und Architekten mit seiner Ablehnung des technokratischen Modernismus der sowjetischen Gegenwartskultur Einfluss, Publikum und sogar öffentlichen Repräsentationsraum. Und das auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges.
Um nachzuvollziehen, wie dies möglich war, muss man sich an die Rolle erinnern, die das „Moderne Bauen“ für die Konstruktion eines estnischen Nationalgefühls nach der Unabhängigkeitserklärung vom zaristischen Russland 1918 hatte, sowie an die Versuche von dessen Rekonstruktion während der Sowjetherrschaft. Die moderne Architektur hatte für das nationale Selbstgefühl der estnischen Eliten während der Sowjetherrschaft die Kraft eines Projektionsraums: Es war der neue Funktionalismus, dessen Bauten Einfluss und Eindruck in den neuen bürgerlichen Eliten der jungen Nation hinterließen und halfen, die machtpolitische Überlegenheit des russischen „älteren Bruders“ kulturell zu relativieren. Die Pflege des „kulturellen Erbes der Moderne“ erwies sich gerade in Estland als geeignetes Instrument zur Stärkung des Nationalgefühls. Die überall im Land entstandenen Schulen, Wohn- und Einfamilienhäuser, die von der modern-sachlichen Bauweise der europäischen Internationale und vor allem von der skandinavischen, der finnischen Moderne geprägt wurden, waren der Stolz der jungen Nation. Ebenso wie in den anderen baltischen Staaten kamen in den 1930er Jahren in Estland reaktionäre Kräfte an die Macht, die das „Nationale“ besonders betonten. Allerdings verschwand der Funktionalismus nicht völlig aus der estnischen Architektur: In gewisser Weise verschmolz er mit dem neokonservativen Klassizismus des Zeitgeistes zum sogenannten „Kalkstein-Funktionalismus“, einem nahezu postmodern wirkenden Hybrid.

Estland wurde 1940 wenig bemerkt von der Weltöffentlichkeit von der Sowjetunion annektiert und nach dem Kriegsende erfolgte auch ein erster Versuch der „Sowjetisierung“ der estnischen Architektur. Doch die stalinistische Baudoktrin konnte sich nie durchsetzen und fand mit der „Tauwetterperiode“ der Chruschtschow-Ära ein rasches Ende. Der „bürgerliche Formalismus“ war nun nicht mehr verpönt und die estnischen Architekten konnten sich wieder an der internationalen Moderne orientieren, aufgrund der räumlichen und sprachlichen Nähe vor allem an finnischen Konzepten.

Auch in anderen Bereichen formierte sich damals, ähnlich wie zum Beispiel in Polen, eine Kunstavantgarde, die – im Gegensatz zur herrschenden Praxis in der UdSSR – nicht völlig in den Untergrund verbannt war und von den lokalen Behörden geduldet wurde. Verschiedene Gruppen brachten Ideen der Pop-Art und Op-Art nach Estland und experimentierten mit Konzepten der westlichen Avantgarde. Und: Viele Esten sahen die Distanz zum sozialistischen Kunstkanon als Bestätigung ihrer nationalen Identität an.
Sicher, auch der sowjetische Alltag war damals von Parallelen zu westlichen Moden und Ideen durchwirkt, ob Plateauabsätze, Turmfrisuren, Jeans oder Popmusik. In der estnischen Gesellschaft herrschte aber eine parallele Modernität, deren Konnotation und politische wie ethnische Einflussräume mit der sowjetischen in Konflikt standen. In den 1970er Jahren kam es zudem zu einem Paradigmenwechsel in der estnischen Architektur, einem Generationenkonflikt in der Disziplin. Die damals führenden Urbanisten bauten weiterhin im internationalen Stil monotone Großsiedlungen. Für Hunderttausende von Arbeitsmigranten aus Russland wurden megalomane Stadterweiterungsprojekte nach den Modellen des Moskauer Sowjetmodernismus errichtet. Die beiden Spielarten des Modernismus, die estnisch-skandinavische und die sowjetisch-hybride, spiegelten auch zwei moderne Lebensstile wider. Gegen die sowjetische Planungsmonokultur opponierte nun jene Gruppe von jungen Künstlern und Architekten der Tallinner Schule. Leonhard Lapin sollte Ende der 1970er Jahre kyrillisch ein russisches „Ende“ unter ein schwarzes Dreieck auf weißem Grund schreiben …

Das Besondere an dieser Tallinner Schule war nicht ihr Angriff auf den herrschenden, oft plumpen und überdimensionierten Stil der sowjetischen Großprojekte – derartige ästhetische Revolten geschahen parallel auch anderswo im Sowjetreich. Das Besondere an der estnischen Revolte waren ihre gestalterischen Mittel. Und die antiurbane, kleinstädtisch bürgerlich-individualistische Attitüde, welche sie mit den Ästhetiken eines an konkreter Abstraktion, pop-, op- und neo-avantgardistischen Tendenzen westlicher Kunst geschulten Repertoires einnahm. Und: Sie wagte es, sich auf die estnische Baukunst der Zwischenkriegszeit zu beziehen und diese als Motiv gegen die sowjetische Architektur scharfzumachen.
1978 präsentierte sich die Gruppe in Tallinns Architekten-Union erstmals selbstbewusst in einer großen Ausstellung und im Gewand eines modernistischen Displays. Doch in den Werken ging es um die Korrosion des sowjetischen modernistischen Paradigmas mit der Formensprache der Postmoderne. Die Ausstellung schlug ein, ihre Strahlkraft wirkte in den 1980er Jahren weit in das ganze Sowjetreich nach, bis hinein in die Korrosionsfantasien der Moskauer Papierarchitekturbewegung Ende 1980.
Applaus fand die Gruppe dabei auch bei den Vertretern der alten estnischen funktionalistischen Tradition, die sich mit ihren Arbeiten teils auf die Kolchosen aufs Land zurückgezogen hatte: Die estnischen Kolchosen, die ganz im Gegensatz zu den sowjetrussischen produktiv arbeiteten, hatten es zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Dies stellten die Kolchosen auch architektonisch selbstbewusst, estnisch-modernistisch an ihren Bauten heraus – in Reminiszenz an das Gutsbesitzertum der ersten Republik. Schon vor den Architekten der Tallinn School fand in dieser Gesellschaft das architektonische Experiment erste Auftraggeber, wie Toomas Reins Terrassenhäuser in Pärnu (1972–1981) belegen.
Was zeigte nur die Ausstellung von 1978? Tiit Kaljundis präsentierte ein minimalistisches Projekt für den Linnapark (1976), dessen Idee auf Ressourcen in Entwürfen von Hans Hollein oder Superstudio zurückgriff und die Spannung zwischen der industriellen Serialität der sowjetischen und der individuellen Physiognomie der estnischen Moderne und die Stadt/Land-Differenz zum Thema hatte.
Fast Robert-Smithson-haft zeigte Jüri Okas in einer Collage einen in eine Eckbaulücke gekippten Haufen Abraum und Leonhard Lapin das Bild einer Tallinner Silhouette aus Versatzstücken des Konstruktivismus. Für das Publikum war das verdeckt wie ein zynisches Epitaph auf die sowjetische Tradition zu lesen. Direkter wurde die Kritik an der Stadt und an den Wohnbauburgen der Mikrorayons in Harry Sheins Collagen, in die sich dann wie maskiert ein Hinweis auf Paris 1968, auf Roland Barthes oder das antike Rom einmontierte. Ain Padrik hielt dem die Idylle einer moderat modernen Villen-Suburbia entgegen. Ob nun diese verdichtete bürgerliche Kleinstadt oder Sirje Runges Pop-Umarbeitung von städtischen Realsituationen aus Tallinn oder die Pop-Romantizismen bei Ülevi Eljand: So unterschiedlich die ästhetischen Programme der einzelnen Mitglieder der Gruppe auch waren, einte sie doch eine im Wesentlichen individualistische und anti-modernistische Grundhaltung.

Der Schein, den die doppelbödige Faszination der westlichen Postmoderne und die Architektur des französischen Revolutionsklassizismus vorauswarfen, nahm aber schon in Toomas Reins Nirvaana-Haus einen nationalromantischen Unterton an, der sich auf den frühen Jugendstil bezog. Mats Vints legte in seinem Entwurf für ein Mandala-Haus einen weiteren bildhaften Ausblick vor: Diese Villa war paraphrasenhaft aus den Bildern einer Analyse historischer Typologie der bürgerlichen Stadt kondensiert. Die Entwürfe jedenfalls standen ästhetisch auf der Höhe der Zeit. Von heute aus gesehen erscheinen die Unterschiede zur westlichen Postmoderne minimal, historisch aber sind sie bedeutsam: Die utopistischen Entwürfe und Projekte der Tallinner Gruppe blendeten den antiidealistischen Charakter der postmodernen Ästhetiken des Westens aus, eliminierten deren kollektive Motive.
Die Entwicklung, welche die Arbeit der Gruppe nahm, ging in Richtung einer bürgerlichen Indienstnahme der Architektur der Moderne zur Entwicklung eines postmodernen Stils. Die späten 1970er und frühen 1980er Jahre bedeuten eine Konsolidierung der Arbeit der Schule von Tallinn. Beispielhaft für diesen Weg steht die Architektur von Vilen Künnapu, der von ersten Projekten, die direkt an die Architektur der 1930er Jahre anschlossen, bald auf eine neoklassizistische typologische Uminterpretation dieser Tradition einschwenkte – eine Haltung, die bis heute, etwa in seinem Projekt für ein buddhistisches Zentrum in Tallinn aus dem Jahr 2005, als Position der Macht nachhallt.
Schon vor dem Zerfall des Sowjetimperiums und der zweiten Unabhängigkeitserklärung war es nämlich der Schule von Tallinn gelungen, auch die breite estnische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass neben den Chorgesängen und Volkstänzen und dem „Kalkstein-Funktionalismus“ auch ihre Architektur als „heimische“ Kunst, ja als Symbol des Widerstandes gegen das rigide Sowjetsystem zu verstehen sei. In gewisser Weise mutierte dann in den 1980er Jahren der Postmodernismus zum „nationalen“ Baustil in Estland. Ein postmoderner Architektur-Nationalismus – einmalig zumindest in Europa.



Georg Schöllhammer ist Leiter von tranzit Österreich, Kulturjournalist und Kurator. Von 1988 bis 1994 schrieb er für die Tageszeitung „Der Standard“. Seit 1992 hält Schöllhammer als Gastprofessor Vorlesungen über die Theorie der Gegenwartskunst an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz. Als Chefredakteur und verantwortlicher Textchef bei „springerin – Hefte für Gegenwartskunst“ bemüht sich Schöllhammer seit mehreren Jahren auch um Kulturthemen in Zentraleuropa. Er war Herausgeber einer Publikationsreihe der „documenta 12“.

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa, Oktober 2008
> Report online > tranzit.org-