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Von Anna Politkowskaja (†) .

Die Umerziehung der schwarzen Witwen

"Es heißt, wer müde ist, stirbt."

Im offiziellen Tschetschenien sind widersprüchliche Menschen äußerst rar. Einer der Letzten von ihnen ist tot: Buwadi Dachijew.
Die folgende Reportage vom 21. September 2006 ist die letzte, die die russische Journalistin Anna Politkowskaja in der russischen Zeitung „Nowaja Gaseta“ veröffentlichen konnte.


Am 13. September starb Buwadi Dachijew, stellvertretender Kommandant der Spezialeinheit OMON der russischen Polizei in der Tschetschenischen Republik, bei einem Schusswechsel zwischen tschetschenischen und inguschischen Milizen. Ohne auf die Hintergründe dieses Schusswechsels an der Grenze zwischen Tschetschenien und Inguschetien einzugehen – sie sind geklärt, wurden überall verbreitet und kommentiert –, möchte ich etwas über Buwadi berichten, was zu seinen Lebzeiten nicht geschrieben werden durfte. Ich möchte damit das Andenken eines Menschen ehren, der mir während des Krieges oft half, meine Arbeit zu tun, und zwar häufig in Situationen, die ohne seine Hilfe ein durchaus letales Ende hätten nehmen können.
Buwadi war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, er bestand aus lauter Widersprüchen, aus zwei Hälften. Wenn ich nach einem Vergleich suche, so fällt mir das Grabmal Chruschtschows auf dem Friedhof des Neujungfrauenklosters in Moskau ein: eine Hälfte ganz schwarz, die andere ganz weiß.
Einerseits war Buwadi durch und durch ein Militär, wie es sie in Tschetschenien zuhauf gibt, ein Offizier der sogenannten moskautreuen tschetschenischen Streitkräfte. Er diente seit 1995 treu ergeben im tschetschenischen OMON, was eine absolut pro-russische und prinzipienfeste Haltung voraussetzte – Tschetschenien war für ihn lediglich ein Teil Russlands. Dafür erhielt er Medaillen und den Tapferkeitsorden und wurde zum Oberst ernannt.
Mitunter war er dabei äußerst brutal. Nennen wir die Dinge bei ihrem Namen: Die tschetschenischen OMON-Leute sind keine harmlosen Burschen, die kein Wässerchen trüben können. Dort arbeiten Menschen, um zu schießen, und sie schießen, um zu töten, bis es sie selbst erwischt. Der OMON hat immer wieder Menschen verschleppt, verschwinden lassen, geprügelt und weiß Gott was alles getan.
Es war im August in Grosny während meiner allerletzten Begegnung mit Buwadi: Er hielt den Blick gesenkt und biss wütend in eine Melone, als wäre sie an irgendetwas schuld, war nervös und futterte das rote Fruchtfleisch mit der Gier eines Verhungernden in sich hinein. Er tat alles, um das Gespräch über einen tschetschenischen Studenten abzuwürgen, den der OMON verschleppt und in seiner Gewalt gehabt hatte, bevor er spurlos verschwunden war. Und nun rennt Aminat Kulojewa, Pensionistin und Mutter des Studenten Alichan Kulojew, gemeinsam mit anderen betroffenen Müttern durch ganz Tschetschenien und fleht alle, die ihr begegnen, an, sie mögen bei Buwadi ein gutes Wort für sie einlegen – vielleicht könne er sagen, wo ihr einziger Sohn ist.
Ich habe es getan. Doch Buwadi schwieg: Es gab nichts zu antworten. Da war ein Student – jetzt ist er weg.
Er sagte: „Er hatte sich überhaupt nichts zuschulden kommen lassen.“
„Und warum habt ihr ihn dann nicht laufen lassen?“
Buwadi schwieg und zerstückelte die Melonenschale.
Die tschetschenischen Militärs teilen sich in solche, die erst überlegen, ehe sie töten, und jene, die sich das Denken längst abgewöhnt haben. Buwadi versuchte zu verstehen, wen er im Visier hatte. Und das hat vielen das Leben gerettet, darunter auch – nach den Gesetzen des Tschetschenienkrieges – eigentlich hoffnungslose Fälle.
Intern war Buwadi in tschetschenischen Kreisen als der Mann bekannt, der die „schwarzen Witwen“ rettete, die als potenzielle Schahiden, als „für den Glauben Gefallene“, generell zu liquidieren waren. Worin bestand diese Rettung? Buwadi entführte sie und nahm sie bei sich zu Hause auf, wofür es keinerlei rechtliche Grundlage gab.
Was machten sie bei Buwadi? Sie befanden sich gewissermaßen im Hausarrest, in Quarantäne, wenn man so will. Buwadi kehrte nach dem Dienst heim und führte die ganze Nacht hindurch mit ihnen Gespräche. Er hatte in seinem Haus, das einer Kaserne glich, potenzielle Schahiden einquartiert – und das ist wahrlich keine Übertreibung, denn sie waren in der Tat absolut bereitwillige Selbstmordattentäterinnen, die, als sie zu Buwadi kamen, bereits von ihren Männern und deren Kameraden darin ausgebildet worden waren, mit Sprengstoff umzugehen und jederzeit auf Befehl einen Autobus in jedes beliebige Ziel zu steuern.
„Warum mussten Sie das tun?“
„Alle hatten ihre Kinder bei sich.“
„Und die Kinder haben auch bei Ihnen gewohnt?“
„Ja, sie waren mit den Kindern da. Ich wollte herausfinden, ob sie alle unrettbar verloren waren. Waren sie noch imstande, die eigenen Kinder großzuziehen, oder war schon ‚alles vorbei‘?“
Ich schicke voraus: Keine Einzige von ihnen hat sein Haus als „unrettbar Verlorene“ verlassen. Das Ergebnis der seltsamen Erziehungsarbeit des OMON-Mannes Buwadi in einem geächteten tschetschenischen Milieu, wie man es sich schlimmer nicht vorstellen kann, waren Mütter, die nach Buwadis Gehirnwäsche tatsächlich zu begreifen begannen, dass sie in erster Linie Mütter waren.
„Anfangs wollten sie nur noch für ihren Mann sterben. Nahmen kein Stück Brot von mir“, erzählte Buwadi. „Weil mein Brot von den Verrätern kam. Sie rührten ihre Kinder nicht an, als ob sie gar nicht da wären. Saßen verschleiert da, wie tot.“
„Und was geschah dann?“
„Ich habe ständig mit ihnen geredet und nach zwei, drei Tagen begannen sie zu essen. Einige nahmen den Schleier ab und banden sich – wie in Tschetschenien üblich – ein Kopftuch um. Als sie allmählich wieder auflebten, brachte ich sie irgendwo unter. Im Ausland, aber auch in Russ­land. Suchte nach möglichen Verwandten, damit sie irgendwo, möglichst weit weg von den Großstädten, leben konnten, telefonierte, traf Verabredungen.“
Wir redeten über seine Motivation: Wozu hatte er das alles nötig?
„Was kannten sie denn schon, diese jungen Dinger?“, erklärte mir Buwadi. „In ihrem Alter waren wir junge Pioniere, fuhren ins Ferienlager, gingen ins Kino, aßen Eis. Doch sie haben von all dem nie etwas gesehen. Und so ist es eben gekommen. Ich fühlte mich ihnen gegenüber schuldig.“
„Und Ihr Resümee betreffend die Schahiden? Sind sie unverbesserlich?“
„Nein, die meisten von ihnen sind nicht zu verurteilen. Man hat ihnen bloß das Gehirn vernebelt.“
Ich werde die Namen der von Buwadi geretteten jungen Witwen nicht nennen – das ist nicht nötig. Hauptsache, sie selbst wissen, wer gemeint ist und wem sie ihr zweites Leben verdanken. Nachdem Buwadi sie möglichst weit weg geschickt hatte, riefen sie ihn immer wieder an, holten seinen Rat ein, was sie in dieser oder jener Situation tun sollten. Bis zum 13. September dieses Jahres.
Es gibt zwei Versionen über den Tod von Buwadi. Die erste, die „schwarze“, lautet, dass er an den Ort des Feuergefechts zwischen tschetschenischen und inguschischen Milizen fuhr, einem inguschischen Milizionär eine Ohrfeige verpasste und sofort erschossen wurde.
Ich glaube es nicht: Schießen ja, doch eine in die Fresse – nein, das war nicht sein Stil, er kannte nur zu gut die Folgen eines Streits zwischen Tschetschenen und Inguschen.
Die zweite Version: Als das Scharmützel losging, war Buwadi nicht an Ort und Stelle, befand sich aber nicht weit entfernt davon und eilte hin, um die Leute zu beruhigen. Er stieg aus dem Wagen, redete auf sie ein, sie mögen aufhören und sich besinnen – da traf ihn eine Salve aus einem Maschinengewehr.
So war es wohl. Und ich bin froh, dass Buwadi bis zum Schluss er selbst war: Er versuchte, sie vom Schießen abzuhalten. Obschon er selbst hervorragend bewegliche Ziele treffen konnte. Doch die letzten Stunden seines Lebens verbrachte Buwadi innerhalb seiner „weißen“ Hälfte.
„Alle haben den Krieg bereits satt“, sagte er einen Monat vor seinem Tod zu mir. „Alle müssen sich aussöhnen.“
Heutzutage herrscht im offiziellen Tschetschenien ein eklatanter Mangel an solchen Menschen – keine Engel, doch solche, die sich betroffen fühlen und leiden. Es gibt in Tschetschenien immer mehr „geradlinige Einzeller“. Jemanden zu töten bedeutet für sie so viel wie eine Tasse Tee zu schlürfen. Einen Menschen zu verstehen, der im Voraus zum Feind erklärt wurde, weil er anders lebt, ist für einen Einzeller unmöglich.
Was bedeutet „verstehen“ in tschetschenischen Verhältnissen? Verstehen bedeutet, Leben zu bewahren. Das ist der Preis der Toleranz, einen anderen gibt es dort derzeit nicht. Buwadi schenkte Menschen einen zweiten Versuch, obwohl seine Stellung ihn dazu verpflichtete, schon den ersten zu unterbinden. Er schenkte, einfach so – und es gibt niemanden, der ihn hier ersetzen kann.
„Hast du wenigstens in dem Haus, in dem du übernachtest, ein Maschinengewehr?“, fragte Buwadi besorgt.
„Da gibt es kein Maschinengewehr. Ich will auch keines“, murmelte ich. „Ich habe die Maschinengewehre satt. Sieben Jahre gibt es sie schon. Hast du sie denn noch nicht satt?“
Buwadi schwieg, er stimmte zu. Auch er hatte die Maschinengewehre und die ewige Angst satt. Er war todmüde davon, sich nie von der Waffe trennen zu dürfen und im Tarnanzug in einem Haus zu schlafen, das einer Kaserne ähnelt. Es heißt, wer müde ist, stirbt.



Übersetzung aus dem Russischen: Ruth Berg

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von „Nowaja Gaseta“ und „Perlentaucher“. Erste Veröffentlichung der deutschen Fassung unter www.perlentaucher.de/artikel/3430.html

Anna Stepanowna Politkowskaja wurde am 30. August 1958 in New York geboren und am 7. Oktober 2006 in Moskau in ihrem Haus von unbekannten Tätern ermordet. Sie war Reporterin, Autorin und Aktivistin für Menschenrechte und wurde bekannt durch Reportagen und Bücher über den Krieg in Tschetschenien, über Korruption im Verteidigungsministerium und im Oberkommando der Streitkräfte in Tschetschenien.
Bücher:
„Tschetschenien – Die Wahrheit über den Krieg“, DuMont, Köln 2003
„In Putins Russland“, DuMont, Köln 2005


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,April 2007
> Link: REPORT online