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Von Miroslav Prstojević.

Lesen in den Geschichten und erzählen, erzählen …

Ein Text von Miroslav Prstojević

„So viele schicksalhafte Geschichten kann jeder von uns erzählen, dass es nur einen Sinn hat: zu erzählen und zu erzählen“
(Željko Ivanković, serbischer Schriftsteller, 1968–1995)


Am 2. Mai 1992 um 18.00 Uhr machte der Fotograf Milomir Kovačević auf der Hauptstraße Sarajewos – Maröala Tita – das Bild eines Paares, das vor dem ausbrechenden Krieg flüchtete. Ein Foto, das in die Welt hinausging und die Titelblätter vieler internationaler Zeitungen zierte. Es stellt keine schöne Erinnerung im Familienalbum von Miroslav Prstojević und seiner Frau dar, jenen beiden Personen, die auf der Aufnahme zu sehen sind, fliehend vor den Granaten, den herabfallenden Fassaden, zwischen Verwundeten, Blutlachen und Wracks. Und doch hat Prstojević selbst es später in seinem Buch „Sarajewo. Die verwundete Stadt“ wieder veröffentlicht. Als Teil einer Geschichte, die das Schicksal einer Stadt und seiner Bewohner dokumentiert. Ortswechsel. Wir sitzen uns im Hinterzimmer von Miroslav Prstojević’ Buchhandlung „MI“ in der Wiener Burggasse im siebten Bezirk gegenüber, bei Schnaps und Kaffee. Seit 1995 verkauft er dort Bücher in kroatischer, serbischer, bosnischer, slowenischer und natürlich deutscher Sprache. Eine Schatzkiste, die in Europa, wie er stolz erzählt, „einmalig ist“. Zwischen Kochbüchern, Kinderbüchern und Liebesromanen finden sich dort auch kaum bekannte literarische Kleinode, die die Geschichte des Balkans auf die unterschiedlichste Art und Weise erzählen. Romane, Stadtgeschichten bis hin zu Dokumentationen der Pop-Kultur in den Ländern Ex-Jugoslawiens. Besonders lustig: „Das Lexikon der YU-Mythologie“, eine Art „Wickie, Slime und Paiper“ aus Jugoslawien, oder eine Art fiktiver Reiseführer (Originaltitel: „SFRJ za ponavljace“), der die „sozialistisch-föderative Republik Jugoslawiens für ‚Sitzengebliebene‘“ erklärt und ein Besteller wurde. Dazwischen Kataloge mit akademischer Malkunst und – in Sichtweite – eine Tito-Büste an der Tür.

Prstojević schmunzelt hinter seinem großen Schnurrbart: „Ich bin jugo-nostalgisch. Warum auch nicht? Diese Zeit war die beste in meinem Leben.“ Als Sohn eines Offiziers, der noch im Zweiten Weltkrieg gekämpft hat, ist er schon als Kind viel gereist und umgezogen. Alle zwei bis drei Jahre wurde sein Vater an einem anderen Ort stationiert. Was für Prstojević ständigen Schul- und Sprachenwechsel innerhalb Jugoslawiens bedeutete. Erst als er sein Jura-Studium begann, zog er nach Sarajewo. Heute reist er wieder viel, um nach neuen Büchern zu fahnden, sie zu bestellen und zu kaufen. In allen Sprachen und in kyrillischer Schrift. „Fast 300.000 Ex-Jugoslawen leben hier in Wien“, behauptet der Buchhändler. Auf die Frage, warum das Geschäft bei einem so großen Kundenpotenzial dann so klein geblieben sei, antwortet er: „Die meisten flüchten vor der eigenen Sprache und wollen, dass ihre Kinder nur deutsche Bücher lesen. Kyrillisch lesen kann fast keiner mehr.“ Für Prstojević eine falsch verstandene Integration, denn „die Sprachenvielfalt sollte gepflegt werden und eben auch die Muttersprache, egal in welchem Land man lebt“. Europaweit wird bei ihm via Internet immer wieder bestellt. „Unser Volk ist über die ganze Welt verstreut. Von Alaska bis Neuseeland finde ich immer einen ‚Hotelplatz‘ bei Freunden oder Verwandten.“ Um ein literarisches Gastgeschenk dürfte er nicht verlegen sein. Ein zweiter Schnaps wird in die kleinen, stilvollen Trink-Fläschchen nachgegossen. Ein Schluck Balkan, und man sinkt ein wenig tiefer ins Sofa und taucht in die Vergangenheit ein. Allerdings: „Über den Krieg spreche ich nur mit Freunden, die ihn auch erlebt haben“, stellt Prstojević klar. Muss er auch nicht, hat er schon.

Schon während seines Studiums veröffentlichte Prstojević erste Novellen und betätigte sich als Journalist. Danach, von 1982 bis zum Kriegsjahr 1992, war er Redakteur im Verlagshaus Oslo-bodenje. 1992 erschien sein erstes Buch „Vergessenes Sarajewo“, das ihm nach 20 Kriegsmonaten indirekt auch die Flucht von dort ermöglichte. Österreichische Helfer, die sich für das Buch interessierten, verschafften ihm einen der seltenen Flüge aus der Stadt. Die Zeit des Krieges blieb dennoch nicht ungenutzt.
1993 erschien der englischsprachige „Kriegs- und Stadtführer“ „Sarajevo: Survival Guide“. Die Idee des – durchaus ironisch gemeinten – Buches entstand, weil Prstojević sich damals über Journalisten ärgerte, die aus der ganzen Welt zu einem Kurzbesuch nach Sarajewo einflogen, um sich anschließend mit „ihren Kriegserfahrungen“ zu brüsten. So finden sich in dem Überlebenslexikon etwa unter „D“ wie „Drinking“ nicht die üblichen Tipps für Cocktail- und Bierbars, sondern Folgendes: „Das Wasser aus Sarajewo war immer schon berühmt. Heute wird es gekocht und mit Tabletten gereinigt. Wir haben eine weiße für zwei Liter und eine grüne für fünf Liter. Die Probleme fangen an, wenn man eine grüne Tablette hat, aber keinen Topf, der groß genug ist …“
Ende 1993 erschien sein letztes Buch über seine persönlichen Erfahrungen während seiner Kriegszeit in Sarajewo. Darin hat er Tagebucheintragungen neben offizielle Meldungen aus Zeitungen und Magazinen von 1992 bis 1993 gesetzt. So muss Prstojević über diesen Krieg nicht mehr sprechen, er hat ihn sich schon währenddessen therapeutisch von der Seele geschrieben. Als Künstler und Mitglied des österreichischen PEN-Clubs darf Miroslav Prstojević zwei Pässe haben: einen bosnischen und einen österreichischen. Er musste sich nicht entscheiden. Zurück will er nicht mehr – er ist ohnehin oft auf Reisen und seine Freunde werden hauptsächlich über E-Mail kontaktiert. Seine jüngere Tochter dagegen, die in Wien an der Sozialakademie war, will auch in ihrer ehemaligen Heimat helfen und fährt oft nach Bosnien. Während wir den vierten Schnaps trinken und über unsere Familien plaudern, kommt ein Freund seines Sohnes (Jahrgang 1972) in die Buchhandlung. Er hält uns stolz seine neue Aufenthaltsgenehmigung vor die Nase. Eine typisch europäische Biografie. Er ist frisch verheiratet, mit einer Österreich-Iranerin. Kennengelernt haben sie sich in Rotterdam, wo er nach seiner Kindheit in Sarajewo und elf in Jerusalem verbrachten Jahren hingezogen ist. Er ist gekommen, um eine Grußkarte zu kaufen. Zusammen mit Freunden will er morgen nach London fliegen – zu einer bosnisch-englischen Hochzeit. Prstojević empfiehlt zwei Bücher, schenkt noch einen Schnaps „für den Weg“ ein und sagt nur: „Das nächste Mal sprechen wir über die Generation meiner Kinder, die sich über die ganze Welt verstreut hat.“



Der Autor Miroslav Prstojević (geboren 1946) ist gebürtiger Bosnier und inzwischen eingebürgerter Österreicher. Seit 1995 betreibt er in Wien die Buchhandlung „MI“, die sich auf „jugoslawische“ Literatur spezialisiert hat. Treffpunkt und ein bisschen Zuhause für viele seiner Landes- und Leidensgenossen.

Knjizara & Gelerija Mi Burggasse 84 A-1070 Wien T: +43 (0)1/524 63 99

Dank an Maja Lorbek, die uns zu diesem Kontakt verholfen hat.
Miroslav Prstojević „Sarajewo. Die verwundete Stadt“ DAG Grafika, Ljubljana 1993 Ideja, Sarajewo 1994
Miroslav Prstojević „Sarajevo: Survival Guide“ Fama, Sarajewo 1993 Workman Publishing, New York 1994


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Oktober 2006
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