Aktuell *Ost Über Uns Archiv Impressum English




Von Sibylle Hamann, Bernhard Odehna.

Langsamer Abschied aus Czerwienne

Landflucht und Stadtidyll

Früher waren die Goralen stolze, eigenbrötlerische Bauern in den Bergen Südpolens. Stolz sind sie immer noch, aber ihr Glück suchen sie heute in Wien, Rom oder Glasgow.

Es ist Hochzeit oben auf dem Berg. Die Brautmutter ist schon seit Monaten aufgeregt. Hundertmal hat sie überlegt, wo man am besten die Hochzeitstorte bestellt und ob das Feuerwehrhaus für das Festessen groß genug sein wird. Sie macht sich Sorgen, weil die Braut zu dünn für das prächtige weiße Trachtenkleid ist. Aber alle Versuche, die Tochter im letzten Moment ein bisschen aufzupäppeln, sind vergeblich. Denn auch die Braut ist nervös. Zu nervös zum Essen. Seit Wochen gibt es jeden Tag zu tun. Ständig muss man sich um irgendetwas kümmern, ständig steht ein anderer Verwandter in der Tür, um zu küssen, zu gratulieren, einen Schnaps zu trinken und um zu fragen, wie er helfen kann. Seit Wochen schon herrscht in Czerwienne, einem kleinen polnischen Dorf am Fuß der Tatra, festlicher familiärer Ausnahmezustand. Die Braut seufzt manchmal, wenn es ihr zu viel wird. Aber am Ende ist sie doch sehr, sehr glücklich. Denn es sind alle, alle gekommen – wie es sich in einer großen polnischen Familie gehört. Acht Brüder und zwei Schwestern gibt es. Ein neunter Bruder starb, am Heiligen Abend vor sechs Jahren, im Alter von 25 an einem Herzinfarkt. Die Braut wird, kurz bevor sie das Fest im Feuerwehrhaus mit einem Tanz eröffnet, zum Friedhof fahren und an seinem Grab einen Kranz niederlegen, damit er auch irgendwie dabei ist an ihrem großen Tag. Die kleine Schwester, das jüngste der elf Kinder, wohnt noch bei den Eltern. Alle anderen zog es in die Welt hinaus. Es erfordert schon einen besonderen Anlass, damit die Geschwister gleichzeitig nach Hause kommen. Czerwienne nämlich hat nicht viel zu bieten für eine große Familie, die Geld und eine Perspektive braucht.

Die Aussicht auf die Hohe Tatra ist herrlich. Seit es die Teams von Bollywood-Filmproduktionen hierher verschlagen hat, kennt man das Bergpanorama sogar in Indien. Die Hänge sind grün und saftig, die Blumenwiesen blühen im August in allen Farben. Hier bimmelt eine Kuhglocke, dort blöken Schafe. Czerwienne ist schön anzuschauen und seit zwei Jahren sogar Teil der Europäischen Union. Aber Arbeit gibt es hier nicht. Polen ist jener Teil Europas, der den Strukturwandel noch vor sich hat: Etwa 25 Prozent der Bevölkerung leben hier von der Landwirtschaft, im EU-Schnitt tun dies nur noch knapp 5 Prozent. Anders als in Westeuropa bedeutet das Wort „Bauer“ hier noch nicht „Manager eines Agro-Unternehmens“, sondern eine Lebensweise, wie man sie aus Märchen und Kinderbüchern kennt: Morgens werden die zwei Kühe mit der Hand gemolken, dann die Hühner gefüttert. Die Bäuerin erntet Gurken und legt sie ein, der Bauer mäht das Heu mit der Sense und führt es mit dem Pferdewagen heim, am Abend werden die fünf Schafe geschoren. Genug zu essen gibt es in den Höfen von Czerwienne daher immer; doch erwirtschaften kann man nicht mehr als ein Taschengeld. Weder eingelegte Gurken noch selbst gemachte Sauermilch können in den Geschäften mit den hoch subventionierten Produkten aus französischen Agrofabriken konkurrieren.

Zakopane, den Hauptort der südpolnischen Region Podhale, kennt man vom internationalen Schispringen und von der Nordischen Schi-WM. Für das Jahr 2011 hat sich die Stadt wieder als Austragungsort beworben. Die Hohe Tatra ist keineswegs so verlassen, wie man in Westeuropa vermuten würde – es ist ein relativ kleines Bergmassiv, das Einzige in ganz Polen, und wenn sich die 38 Millionen Polen aufmachen, um Ruhe, Erholung und Natur zu suchen, dann gibt es auf den Schipisten und auf den Wanderwegen ein ziemliches Gedränge. In der Tourismusbranche also kann man ein bisschen Geld verdienen, saisonal zumindest, als Kellnerin, Liftwart oder – so wie der Bräutigam – als Musiker in einer Folkloregruppe. Aber das ist schon alles. Die Brüder der Braut von Czerwienne sind allesamt wackere, kräftige, strebsame Burschen. Jeder von ihnen besitzt eine traditionelle Trachtenhose aus besticktem, weißem Filz. Sie haben ein ehrenwertes Handwerk gelernt. Gleich mehrere sind, so wie der alte, schnauzbärtige Vater, Tischler geworden. Auf den Hügeln von Czerwienne baut man die Häuser ganz aus Holz, heute so wie vor 200 Jahren. Die Zimmermannszunft hat eine lange, stolze Geschichte in der Gegend. Bäume gibt es genug. Trotzdem gibt es für die Tischler längst nicht mehr genug zu tun. Schon der Vater musste fort, damit er seine Kinder ernähren konnte. In den siebziger Jahren ging er nach Turin, arbeitete dort in der Fabrik. Kam nur jedes Jahr einmal nach Hause, um zu sehen, wie sehr seine Kinder schon wieder gewachsen waren, und um der Schar ein weiteres hinzuzufügen. Als er alt genug war, folgte der älteste, heute 30-jährige Sohn ihm nach, ein Tischler auch er. Er lebt heute mit Frau und zwei Kindern in Rom. Der dritte ging nach Udine, der vierte nach Wien, der fünfte nach Glasgow.
Im Gegensatz zu den Müttern, die noch zu Hause blieben, gehen in der jüngeren Generation auch die Frauen fort. Anpacken konnten Mädchen hier immer schon und sie sind, wie beinahe überall auf der Welt, auch ein bisschen flexibler als die Männer beim Aufspüren von Verdienstmöglichkeiten. Wenn es auf dem Hof nicht mehr genug zu tun gibt, fahren sie eben die 390 Kilometer nach Wien, zum Putzen. Da können sie immer noch rechtzeitig wieder zurück sein, um der älter werdenden Mutter am Wochenende beim Waschen und Bügeln zu helfen.
Die Arbeitsmigration, inklusive der Reisewege, ist einfach, aber gut organisiert. Beinahe jeden Tag fahren Privatautos oder Kleinbusse die Strecke zwischen Zakopane und Wien. Man meldet sich im Bekanntenkreis für ein bestimmtes Datum an, dann wird man vor dem Haus abgeholt. Es ist eine unangenehme Strecke, über eine unausgebaute, kurvenreiche Bundesstraße mit viel Lkw-Verkehr durch die Slowakei, aber sie ist kürzer als etwa der Weg von Zakopane in die polnische Hauptstadt Warschau. Oft fahren die Pendler in der Nacht, um Zeit zu sparen. Die Fahrtkosten betragen 30 Euro. Auch die Braut lebt in Wien und putzt – um neun Euro die Stunde. Sie macht das schon einige Jahre, professionell, ohne Verlegenheitsgefühle und ohne jede Sentimentalität. Sie versucht, rasch und effizient zu arbeiten, sparsam zu leben, so viel wie möglich auf die Seite zu legen, nebenher Deutsch zu lernen und sich ein paar kleine Zusatzqualifikationen anzueignen, die sie später vielleicht brauchen kann. Ihre Dienstleistungen hat sie so weit perfektioniert, dass sich ihre Kunden in beinahe jeder Lebenslage darauf verlassen können, dass die Arbeit erledigt wird. Wenn sie länger weg ist, heuert sie daheim eine Freundin als Vertretung an. Diese wiederum wird in Eigenregie hinsichtlich der Eigenheiten der Kunden und deren Wohnungen eingeschult und zieht samt detailliertem Putzplan und Schlüsseln los. Das ist jene Art Service, die man sich vom Kundenzentrum eines Großbetriebs nur wünschen kann.
Früher musste sie alle drei Monate zumindest einmal nach Polen fahren, um ihr Touristenvisum zu erneuern. Heute kann sie als EU-Bürgerin zwar legal in Österreich sein, aber Arbeitsbewilligung bekommt sie keine, die österreichische Regierung will den Arbeitsmarkt erst 2011 für die neuen Mitgliedsländer der EU öffnen. Wenn die junge Frau Zahnschmerzen hat oder sich den Fuß bricht, muss sie nach Hause fahren. Denn versichert ist sie, privat, in Polen.

Die Braut ist eine eigenwillige, zielstrebige Frau – sie hat jene Sturheit, die man den Leuten aus Südpolen generell nachsagt. Sie heißen Goralen, sprechen eine Mundart, die dem Slowakischen ähnelt, und begreifen sich als Bergvolk, das sich von den Polen im Flachland wesentlich unterscheidet. Die Goralen waren immer stolz auf ihre Eigenständigkeit und ließen sich, seit sie vor 500 Jahren vom Balkan in die Tatra wanderten, weder von den polnischen noch den österreichisch-ungarischen Herrschern viel sagen.
Ihr Held ist Juro Janosik, ein Freischärler des 18. Jahrhunderts, der ähnlich wie Robin Hood den Reichen nahm und den Armen gab. Anders als der Rebell von Sherwood Forest wurde Janosik allerdings gefangen und nach grausamer Folter hingerichtet. Mitte des 19. Jahrhunderts erhoben sich die Goralen gegen die Herrschaft der Habsburger, ihr Bauernaufstand konnte nur mit Mühe niedergeschlagen werden. Die Erinnerung an den Widerstand wird in einem kleinen Museum an der polnisch-slowakischen Grenze wachgehalten.
Die Nazis erkannten im Eifer und der Sturheit der Goralen eine gewisse Charakterähnlichkeit mit den Deutschen und tatsächlich schlugen sich im Zweiten Weltkrieg viele Bergbewohner auf die Seite der Besatzer. Aber das ist lange her und gern erinnert wird man daran nicht. Geblieben sind trotzdem das Beharren und der Stolz, ein bisschen anders zu sein als die „normalen“ Polen. Ein bisschen besser, vielleicht. Ein bisschen eigenartiger. Hier kratzt man noch auf den uralten, mit dicken Darmsaiten bespannten Fiedeln. Hier singt man laut, inbrünstig und in seltsam schrägen Harmonien, die für die Ohren der Städter ungewohnt und falsch klingen.
Die Traditionen haben die Arbeitsmigration zweier Generationen überlebt – das ist mehr, als viele andere Kulturen Europas von sich behaupten können. Die Jungen haben noch die Tracht im Schrank und ziehen sie regelmäßig an Feiertagen, zum Kirchgang und zu Hochzeiten an. Sie sagen, wenn sie ihre Eltern besuchen, immer noch, dass sie „nach Hause fahren“, selbst wenn sie längst, anderswo, eine eigene Familie haben. Es ist die Generation der Großeltern, die das alles zusammenhält: die Mama, die den Hof führt, sich um die alte Uroma, um die Hühner und um das Wohlergehen der Urlaubsgäste in den Fremdenzimmern kümmert. Sonntags treibt sie die Familie, eisern und bestimmt, zum Kirchgang an.
Im Sommer ist das Haus voll: Da sind nämlich auch noch die meisten Enkelkinder da, die aus allen Teilen der EU zur Oma gebracht werden, solange Schulen und Kindergärten zu sind. Damit sich ihre Eltern das Geld für die Hortbetreuung sparen, damit sie noch ein bisschen mehr Zeit zum Arbeiten haben. Und natürlich auch, damit die Kinder nicht vergessen, wo sie herkommen. Sie wissen wohl alle, dass das kein Arrangement auf Dauer ist. Dass das Pendeln irgendwann zum Auswandern wird, dass die Goralen irgendwann zu Österreichern oder Italienern werden, dass die Urenkel irgendwann die Sprache vergessen, das ererbte Haus verkaufen und vielleicht nie mehr zurückkommen werden. Wenn die Familie zusammen ist, lassen sich die unterschiedlichen Stadien der Entfernung vergleichen: je stärker die Integration anderswo, desto größer die Entfremdung von zu Hause. Wer eben erst weggegangen ist, arbeitet im Ausland noch illegal und ist eben erst dabei, sich einen Kundenstock für Dienste aller Art aufzubauen. Wer sich dann einen guten festen Job erarbeitet, steigt in der Hierarchie auf und überlässt die illegalen Gelegenheitsjobs nachrückenden Verwandten. Einige Familienangehörige haben, nach Jahren des legalen Aufenthalts in Wien, bereits eine Gemeindewohnung bezogen. Andere überlegen, wo sie ihre Kinder einschulen sollen – und haben sich, fast alle, für Österreich und Italien entschieden. Und irgendwann dann wird der Antrag auf Staatsbürgerschaft gestellt. Zunächst wird noch eifrig – und schuldbewusst – versichert, dieser Schritt habe innerlich „nicht viel zu bedeuten“. Irgendwann bedeutet er dann doch etwas und aus Polen sind Österreicher geworden.
Obwohl: Alle lässt die Tatra nicht gehen. Dafür ist sie zu schön und dafür sind ihre Bewohner zu eigenwillig. Auf einem Hügel oberhalb von Czerwienne steht ein neues Haus in altem Stil – ein Fundament aus Stein, darüber massives Holz und ein Dach mit spitzem Giebel. Man blickt in drei Richtungen auf Berge, ringsum leuchten bunt die Blumenwiesen. Dieses Haus war das Überraschungsgeschenk für die Braut. Der Vater und die neun Brüder haben es in nur drei Monaten hochgezogen. Es war ein Gewaltakt – unter Einsatz aller Mittel und Kräfte der Verwandtschaft – und die Braut konnte es gar nicht fassen, als sie in der Pferdekutsche zur Trauung gefahren wurde und es erstmals gezeigt bekam. Die Familie, scheint es, wollte sichergehen, dass eine von ihnen hier bleibt, in Czerwienne, am Fuß der Hohen Tatra. Und die Braut will tatsächlich zurückkommen, in ein paar Jahren, wenn sie in Wien genug Geld verdient hat, um ihr Haus ordentlich einzurichten. Versprochen hat sie es zumindest.



Sibylle Hamann ist Auslandsredakteurin des österreichischen Nachrichtenmagazins „Profil“.
Bernhard Odehnal ist Mitteleuropa-Korrespondent für die Schweizer Tageszeitung „Tages-Anzeiger“.


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Oktober 2006
> Link: REPORT online