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Die Ausstellung „Körpergedächtnis“ im Volkskundemuseum Wien (noch bis 3. August) erzählt von intimen Alltäglichkeiten des letzten Jahrhunderts in der UdSSR. Liebestöter und Engelskleider, zusammen fast 200 Wäschestücke, erinnern an unzählige Geschichten des privaten Lebens. Jedes Stück Stoff ungeschickter oder charmanter Schönheit erfasst persönliche Erlebnisse der Jahre 1917 bis 1991. „Körpergedächtnis“ ist eine Reise durch das Gedächtnis der ehemaligen Sowjetbürger, getragen von Körpern und deren zweiter Haut - der Unterwäsche. Ergänzt von 14 Künstlerarbeiten, wird der Körper als Erinnerungsraum dargestellt. Zwischen Scham und Zwang. Von Anne Dymek.

Aus der Not eine Tugend genäht

Auf den Spuren der Unterwäsche aus der ehemaligen UdSSR, offenbart die Ausstellung „Körpergedächtnis“ die ungeahnte (Aussage)kraft intimer Wäschestücke.

Schon mit einem Fuß im nächsten Raum, ist es beinahe zu spät, als eine männliche Stimme lockt. Sie erzählt leise die Geschichte von einem kleinen Mädchen, dessen Mutter krank und ins Krankenhaus eingeliefert wurde: In der Abwesenheit der Mutter weigerte sich das Kind zu essen. Weder der Vater noch andere Wohltäter konnten etwas tun. Erst, als man aus dem Krankenhaus Unterwäsche der Mutter holte und den kleinen Körper des Mädchens darin einwickelte, begann es wieder ruhig zu essen.
Das Kind, so erklärt der Erzähler es eingangs, verwirklicht in dieser Geschichte den Durchbruch zur bewusstlosen Gestalt des Körpers. Und ebendieser Fakt dient der Ausstellung als Grundlage. Dokumentarische Erzählungen von Zeitgenossen verschiedenen Alters über ihre, mit Unterwäsche verbundenen, körperlichen und seelischen Erfahrungen stehen dem distanziert-identifizierenden Blick der Künstler gegenüber. Drei Ausstellungskapitel rahmen die Entwicklung des sowjetischen Geistes anhand zeitlicher und leitmotivischer Kategorisierung. Das Ausstellungskapitel „Individuum/Kollektiv“ verweist auf die Epoche zwischen dem Revolutionsjahr 1917 und dem Jahr des Kriegsendes 1945, als edle Unterwäsche und Strümpfe als bürgerliches Merkmal und damit als verwerflich galten. Das Kapitel „Alltag/Scham“ bezieht sich auf die ersten Nachkriegsjahre bis zur Mitte der 1960er Jahre, eine durch einen allmählichen Verlust der Ideale gekennzeichnete Periode. Selbst erschaffene oder geschickt erworbene neue Unterwäsche schuf Distanz zu den Machtverhältnissen. In die jüngste Vergangenheit von Mitte der 1960er Jahre bis ins Jahr 1991 führt das Kapitel „Depression/Tagträume“, als der Kampf um das ästhetische Überleben die Tage bestimmte. Zum Zeichen der Zeit wurde die dauernde Suche nach Mangelwaren, das Liebäugeln mit ausländischen Modemagazinen und schließlich die heimische Anfertigung von Kleidung.

Das Erlebnis Unterwäsche

Was sich in der Ausstellung separat von der sowjetischen Unterwäsche und ihrer poetischen Atmosphäre befindet, sind Riesenplakate von Palmers und Wolford. An den Wänden der altbaulichen Räumlichkeiten des Volkskundemuseums stellt das moderne Dessousdesign einen bewusst dominant konstruiertes Gegenspieler zur sowjetischen Unterwäsche dar. Von Gleichwertigkeit kann nicht die Rede sein. Unsere Sucht nach Ästhetischem, der gebannte Blick, der an mit Spitzen geschmückter makelloser Haut kleben bleibt und Autounfälle verursacht. Was hat er mit dem kleinen Mädchen zu tun, das nach dem Geruch und der Nähe seiner Mutter verlangt?

Gleich am Anfang der Ausstellung wünscht man sich eine Tür. Nichts dämpft den Zusammenstoss mit der sattroten Corselette aus Leinwand ab. Nichts steht einem bei, wenn öffentlich ausgestellte Intimität plötzlich so peinlich berührt. Dabei sind wir heutzutage doch so besonders offen, schon geübt im Anblick allgegenwärtiger gedruckter oder verfilmter Sexualität. Weitergehen. Nach links. Schwarzweiß photographiert wird schmutzige Wäsche lebendig, liegt im nicht minder schmutzigen Waschbecken, die abgewetzte Schrubbürste mit den nach außen gebogenen Borsten auf dem Beckenrand. Zurück. Rechts der Corsellette schreit ein speckiger entblößter Frauenkörper : man sieht genau, welche Wäsche sie trug. Der Abdruck ist unverkennbar.
In der großen sozialistischen Volksgemeinschaft sollte Individualität am besten nicht existent sein. Unterwäsche wurde einheitlich und so praktisch wie möglich produziert. Sie sollte „Hautabsonderungen (Schweiß und Fett) aufsaugen und (..) auch die Haut vor der Außenverschmutzung und vor dem mechanischen Reiz der gröberen Oberkleidung schützen“ (Sowjetisches Lexikon, „Unterwäsche“). Und obwohl alle dieselbe massenproduzierte Unterwäsche trugen, schämte man sich ihrer. Ein Gefühl, das nicht nur den nach Paris gereisten sowjetischen Künstler Alexander Rodtschenko im Anblick des kapitalistischen Konsums nachdenklich stimmte. Ekaterina Degot (Kuratorin) beschreibt in ihrem Aufsatz „Vom Genuss zum Genossen“ diese Gedanken Rodtschenkos: „Warmherzig, freundschaftlich, nicht um sein bloßes Äußeres besorgt, ehrlich, wahrhaftig, bescheiden…Ist damit nicht ein Ideal des Menschen beschrieben? Warum erscheint dann das Produkt, das eben diese Eigenschaften besitzt, nicht ästhetisch? Warum erscheinen flauschige Damenschlüpfer nicht ästhetisch?“
Über dem rationalen Verständnis für rein praktische Kleidung schwebte stets diese unvernünftige, absolut instinktive, menschliche Lust auf Ästhetisches Individualität wurde unterdrückt und blühte dann kollektiv auf. Die Damen in der UdSSR waren geschickte Partisaninnen an der Nähmaschine. Im letzten Raum der Ausstellung halten sich jedenfalls sehr reizvolle Wäschestücke mit Engelsflügeln in der Schwebe und bezaubern den Betrachter nicht nur durch ihren Unikatscharakter. Wer in den 70er Jahren keinen Matrosen zum Freund hatte, bastelte sich die in Mode gekommenen Strumpfhosen eben selbst, indem schlichtweg die Hälfte der Maschen von Kinderstrumpfhosen fallen gelassen wurden. Aus der Not eine Tugend zu machen ist eben geradezu Innbegriff russischer Lebensweise. „Das war unser großer Zarismus.“(Kuratorin Julia Demidenko)



Dauer: 21. März – 3. August 2003
Finissage und Gartenfest der Sonderausstellung: 3. August,
Ausstellungsort: Österr. Museum für Volkskunde Gartenpalais Schönborn, A-1080 Wien, Laudongasse 15-19

Öffnungszeiten: täglich außer Montag, 10-17 Uhr

Die Ausstellung ist ab dem 8. August wieder in St Petersburg und ab Januar in Helsinki anzusehen.

Katalog zur Ausstellung: „Körpergedächtnis, Unterwäsche einer sowjetischen Epoche, ISBN 3-900359-99-7






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