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Von Florian Klenk.

Täglich frische Mädchen

Die slowakische Sozialarbeiterin Ludmilla arbeitet mit Frauen, die zur Prostitution gezwungen sind

In den Grenzwäldern Tschechiens kämpft die slowakische Sozialarbeiterin Ludmilla Irmscher gegen Frauenhändler, ignorante Freier, beleidigte Behörden und die alltägliche nackte Gewalt. Manchmal schenkt sie Zwangsprostituierten auch ein neues Leben.

Die Eltern warfen sie raus. „Es ist Zeit“, sagten sie, „dass du eigenes Geld verdienst.“ In einer Annonce in Litauen las Petra „Billiges Taxi nach Europa“. Von einem Traumjob als Tänzerin war darin die Rede. Doch schon vor der tschechisch-deutschen Grenze bog das Taxi ab. Es folgte einem dieser Neon-Schilder, die nächtens so grell im Scheinwerferlicht aufblitzen wie die Fratzen einer Geisterbahn: „Kamazutra“, „Marquis“ und „Karibik“. Das Taxi holperte über Schlaglöcher und Waldwege in ein kleines Grenzdorf, das hier nicht genannt sein soll. Es hielt vor einem Haus, dessen Fenster mit schwarzer Folie verdunkelt waren. Rote Lichter blinkten in einem elektrischen Gartenschlauch, der zu einem Herzen geformt war. Vor dem Haus standen Autos mit deutschen Kennzeichen. Davor war ein Schild, das Petra nicht lesen konnte: „Täglich frische Mädchen!“
„Steig aus“, sagte der Fahrer.
Eine „Mama“, erinnert sich Petra, bedeutete ihr, hier zu bleiben, „um die erste Rate der Reisekosten abzuarbeiten“. „Das geht schnell“, sagte sie. Hier seien Männer mit Geld, Männer von drüben. „Stell dich an die Bar, du kannst mit den Deutschen auch tanzen. Und wenn du willst, dann geh mit ihnen ins Zimmer. Es dauert nicht lang“, sagte sie, „du schaffst das schon.“
Petra wollte nicht. Doch sie hatte keinen Pass mehr und die Schulden wuchsen, weil sie für das Quartier auch noch zahlen sollte. Und dann erzählte ihr „Mama“ von Frauen, die in eiskaltes Badewasser gesetzt und so lange untergetaucht wurden, dass sie zu ertrinken glaubten. „Manche werden lebendig begraben“, sagte „Mama“.
Die Drohungen und Einschüchterungen wirkten und nach ein paar Tagen fügte Petra sich. Fünf Euro blieben ihr nach dem ersten Mal. Den Rest hatte sie abzuliefern. Petra sagt: „Wenn du einen Frosch ins heiße Wasser wirfst, springt er raus. Wenn du das Wasser aber langsam erwärmst, stirbt er.“
Sie entkam, indem sie sich einem „Stammfreier“ anvertraute, wie sie erzählt. Ohne Schuhe rannte sie raus in den Wald, als „Mama“ nicht aufpasste. Der „Freier“ wartete an einer Kreuzung. Und jetzt lebt sie bei ihm in einem kleinen bayrischen Dorf und führt ihm den Haushalt. Er spricht von Liebe. Sie sagt: „Wo soll ich hin?“ Ihr fehlen zwei Vorderzähne. Auf ihren Armen sind Flammen tätowiert. Sie trägt zwei kleine Zöpfchen, die sie jünger machen sollen. „Er will es so“, sagt sie.
Entführung, Erpressung, Nötigung, Misshandlung, Schläge und „Rettung“ durch „Freier“: Das ist der Alltag, den Zwangsprostituierte hier in der Küche im kleinen Sozialverein „Karo“ in der sächsischen Stadt Plauen schildern. Es sind Geschichten wie aus einer archaischen Welt. Doch sie spielen sich in der Mitte Europas ab. Plauen liegt etwa 80 Kilometer entfernt von der tschechischen Grenze, wo der Frauenhandel blüht. Hier fahren Busse mit der Aufschrift „Ficken Tour“ vorbei. Bis zu 100.000 Sextouristen im Jahr, so die Schätzungen der Behörden, kommen auf eine schnelle Nummer vorbei.
Hier, in der Küche, versuchen die couragierten Karo-Sozialarbeiterinnen Cathrin Schauer und Ludmilla Irmscher den Mädchen so etwas wie menschliche Würde zurückzugeben. Es ist eine ungewöhnliche Szenerie: Jene Frauen, die vor wenigen Wochen noch am Straßenrand auf Männer warten mussten, sitzen hier in Sicherheit. Sie essen Bratwürste, lachen und rauchen hektisch. „Es ist unglaublich, was mit diesen Frauen angestellt wird. Sie stehen oft zehn Stunden am Tag auf der Straße. In praller Sonne und in bitterer Kälte“, sagt Irmscher, „ viele Freier sind extrem gewalttätig. Sie setzen die Mädchen nackt im Wald aus oder reißen ihnen die Haare aus.“
Irmscher, eine gebürtige Slowakin mit burschikosem Lächeln, nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Sie stopft gerade Kondome, Gleitmittel und Injektionsnadeln in einen Werkzeugkasten. Gleich wird sie wieder in Richtung Tschechien losfahren und nächtens jene Frauen aufsuchen, die in Bars, Pensionen oder auf dem Straßenstrich auf Kunden warten. Ganze Dorfgemeinschaften werden hier von all den Sexklubs zersetzt, die offiziell nur „Penzione“ heißen, weil Bordelle ja verboten sind. Es geht längst nicht um Moral oder Sittlichkeit, sondern um brutalen Frauenhandel, um Ausbeutung, Missbrauch und das Elend jener, die in Europa nicht ankommen. Roma-Familien schicken hier ihre Töchter auf den Strich, Frauenhändler laden die litauische Dorfjugend ab. „Wir hatten Russinnen, die nicht einmal aufgeklärt waren“, erzählt Irmscher. Bis zu 200 Prostituierte habe Karo schon „rausgebracht“. „Manchmal springen sie zu uns ins Auto und bitten uns, sie einfach wegzubringen.“
Irmscher rollt jetzt mit ihrem Škoda durch die Ortschaften Odrava und As. „Hier, schauen Sie! Sechs Häuser, fünf Puffs.“ Es sehe nur auf den ersten Blick friedlich aus: „Hier in dieser Gegend verteilen wir 600 Kondome pro Woche.“ In Bretterverschlägen am Straßenrand warten Mädchen, keine 18 Jahre alt, und strecken die Arme ins Auto, um Kondome zu bekommen. Eines dieser Mädchen berichtet, sie sei von einem „Schweinefreier“ an einen Baum gekettet und vergewaltigt worden. Das Autokennzeichen hat sie auf ihrem Arm aufgeschrieben. Irmscher wird es der Polizei melden. Doch die wird die Anzeige zurücklegen. „Die Mädchen hier sind nur Abschaum für die.“
Was diese Szenerie so verrückt macht: Während die Sozialarbeiterinnen ihre durch Spenden finanzierten Kondome verteilen, fahren Freier mit deutschen Autokennzeichen vorbei. Und dann kommen auch noch die Zuhälter und die Mädchen öffnen ihre Bauchtaschen und reichen ihnen das Geld. „Das ist eine rechtsfreie Zone“, sagt Irmscher. „Die Einzige, die hier bestraft wird, bin ich, weil ich manchmal mein Auto im Halteverbot stehen lasse, um kurz mit den Frauen zu sprechen.“ Die Sozialarbeiterin hat den Wagen nun vor einem Supermarkt am Rande des Zentrums von Cheb angehalten. Die Scheinwerfer sind ausgeschaltet, Irmscher beobachtet. Immer wieder rollen dieselben Autos mit den seltsamen Männern am Lenkrad vorbei. Manche fahren weiße Busse. Immer wieder, erzählt Irmscher, werden hier auch Kinder angeboten. Sie kennt viele der Freier, die hier stundenlang durch die Straßen schleichen. An eigenen „Freierstammtischen“ versucht sie die Männer zu sensibilisieren. Oft vergebens: „Die warten manchmal die ganze Nacht, bis der Preis bei fünf Euro liegt. Und manche sind einfach krank.“
Die Sozialarbeiterinnen von Karo verfolgen mehrere Ziele. Zunächst wollen sie die Frauen vor schweren Krankheiten bewahren – die meisten der Prostituierten sind bereits mit Hepatitis, HIV, aber auch zunehmend mit Syphilis infiziert. Darüber hinaus versuchen Irmscher und ihre Kollegen auch, einen Einblick in die „Szene“ zu bekommen. Wie brutal sind die Freier? Woher kommen die Frauen? Es ist schwer, das herauszufinden. „Hier werden die Mädchen ja ständig von einem Dorf ins andere verschoben“, sagt Irmscher. Dazu kommt, dass viele der Frauen oft von einer Droge namens Pernik „völlig ausradiert“ seien, einem Amphetamin, das sich die Mädchen, mit Waschpulver gestreckt, spritzen.
Wie repräsentativ ist das, was Helfer wie Ludmilla Irmscher hier an der Schengen-Grenze Tag für Tag erleben? Kürzlich legte die London School of Hygiene and Tropical Medicine eine sozialmedizinische Studie über Zwangsprostituierte in Europa vor. Polizisten, Richter, Sozialarbeiter und Prostituierte wurden interviewt. Alle befragten Frauen, so heißt es in der Studie, gaben an, zu sexuellen Praktiken gezwungen worden zu sein. Die meisten hatten zwischen zehn und 25 Männer täglich zu bedienen, manche bis zu 50. Die Mädchen berichteten von Gruppenvergewaltigungen, erzählten, sie seien mit Messern oder Zigaretten verwundet und vor allem immer wieder für lange Zeit alleine eingesperrt worden. Sie klagten über Knochenbrüche, Bewusstlosigkeit, Geschlechtskrankheiten, über bleibende Schäden nach Abtreibungen. Die Studie hält fest, dass bei vielen Frauen während dieser traumatisierenden Zeit in den Bordellen Wahrnehmungsstörungen auftreten. Sie können sich später nur noch lückenhaft an ihre Zeit als Zwangsprostituierte erinnern.
Langsam scheint die Politik auf diese Zustände zu reagieren. In Deutschland, und langsam auch in Österreich, erwägen die Justizministerinnen, die Kunden jener Prostituierten ins Visier zu nehmen, die die Not der Frauen hätten erkennen müssen. Männer, die mal kurz für ein Sexabenteuer über die Grenze fahren, sollen ins Gefängnis kommen, wenn sie die Zwangslage von Prostituierten ausnützen. Die Politiker und die Behörden wissen, dass es schwer sein wird, diesen Beweis zu erbringen, aber sie wollen die Männer sensibilisieren. Sie sollen endlich Fragen stellen, ehe sie Sex kaufen. Gleichzeitig soll die Rechtslage von gehandelten Frauen verbessert werden. Sie sollen schneller psychische Betreuung erhalten und das Aufenthaltsrecht soll verlängert werden – nicht zuletzt, damit sie auch vor Gericht gegen ihre Peiniger aussagen können. Nur so ist es auch möglich, die Täter zu verfolgen.
Doch während die Politik die Freierbestrafung diskutiert, um den Frauen zu helfen, kämpfen Vereine wie Karo ums Überleben. In der tschechischen Dependance des Vereins steht gerade einmal ein alter gynäkologischer Stuhl aus Eisen. Kein Arzt findet sich, um die Mädchen zu untersuchen. Das ist kein Zufall. Karo wird hier boykottiert. Jaroslav Kerbic, der Polizeichef von Cheb, beklagt, die Sozialarbeiter hätten „Schande über die Stadt gebracht“. Es sei doch schon genug Schmach, dass die deutschen Freier kämen. Man brauche nicht auch noch deutsche Frauen, die den Tschechen erklären, was hier auf den Straßen eigentlich los sei. Deutschland wiederum hat Karo die Fördermittel gestrichen, weil es ja kein deutsches, sondern ein tschechisches Problem sei, um das sich der Verein kümmere. Dazu kommt noch der Skandal, den Cathrin Schauer, die mehrfach ausgezeichnete Chefin von Karo, ausgelöst hat. Im Auftrag von Unicef hatte die streitbare Krankenschwester Kinderprostitution und Pädophilie dokumentiert. Seither lebt der Verein von begrenzten EU-Subventionen und Privatspenden, etwa von der deutschen Frauenrechtlerin Alice Schwarzer.
Aufgeben, das will Ludmilla Irmscher aber auf keinen Fall. Ganz im Gegenteil. Soeben begleitet sie Petra, das Mädchen das nach Paris wollte, in den ersten Deutschkurs, den Karo nun erstmals mit EU-Geldern auf die Beine stellen konnte. Die Mädchen dürfen hier anonym lernen, sie sollen selbstständig werden, irgendwann auch einen Beruf erlernen. Petra kritzelt jetzt deutsche Buchstaben an die Tafel. Sie lächelt so breit, dass man ihre Zahnlücke sieht. Und eine alte, geduldige Lehrerin steht vorne und sagt: „Mädchen, wir schaffen das!“ Ludmilla Irmscher nickt. Und dann zieht sie wieder los mit ihrem silbernen Škoda. Es gibt noch viel zu tun.



Florian Klenk ist Redakteur der Hamburger ­Wochenzeitung „DIE ZEIT“. Er führt ein Weblog unter www.florianklenk.com

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Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,April 2007
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