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Tacheles: Die EU-Parlamentswahlen im Juni 2004 waren hinsichtlich der Wahlbeteiligung ein Fiasko. Mehr als die Hälfte der wahlberechtigten Europäer ging nicht zu den Urnen, in Polen waren es gar nur 30 Prozent, in Tschechien nicht viel mehr. Das in Prag geborene Ex-Porno-Model Kateřina Bochníèková alias Dolly Buster (34) hatte für die Partei NEI (Unabhängige Initiative) kandidiert. Indes wurden ihre Slogans wie „Mehr Erotik fürs Volk“ von gerade mal einem Prozent der Wähler goutiert. Dabei sollte man doch meinen, dass gerade eine wie sie bestens darum wissen müsste, ein Volk an der Stange zu halten. Oder auch nicht, denn als Frau Buster (sich) selber wählen wollte, konnte sie es nicht, weil sie eine Kleinigkeit vergessen hatte: nämlich sich in Tschechien meldeamtlich registrieren zu lassen. Aber auch mit ihrer Stimme wurde das Vertrauen in ihr Wissen um die zutiefst menschlichen Bedürfnisse und ihre Befriedigungen nicht goutiert. Nur, wenn es eine Dolly Buster mit Erotik-Slogans nicht in die Politik schafft, wer dann? Von Heinrich Deisl.

Körperpolitik

Dolly Buster und Supermodel Carmen Kass schafften es nicht ins EU-Parlament.

Vielleicht sollten sich Buster und das für Estland ins Rennen gegangene Supermodel Carmen Kass näher mit Pornostar Ilona Staller beschäftigen. Seit fast 30 Jahren betreibt sie gelebte Körperpolitik. Buster und Kass haben den Einzug ins Parlament nicht geschafft, Staller dagegen war in Italien ganze fünf Jahre lang Abgeordnete. Die 1951 in Budapest Geborene, besser bekannt unter den Namen „Cicciolina“ hat wie keine andere Porno mit Politik kompatibel gemacht. Mit der Lista del Sole initiierte sie 1979 die erste Grün-Partei Italiens. Von 1987 bis 1992 saß sie als Abgeordnete für die Partito Radicale mit der Lista de l`Amore im italienischen Parlament. Ein Blick ins Internet beweist: Wie keine andere wird sie nach wie vor als Göttin der horizontalen Verkehrs verehrt. Und mit 53 Jahren ist sie heute immer noch ein gefragtes Model für Modelabels wie LaPerla und Armani.
Die vergangenen Jahren war sie etwas aus dem Fokus des öffentlichen Interesses geraten. Nun ist „Cicciolina“ wieder zurück auf der Bühne. Und wie. Ihre Achtziger-Hits wie etwa „Muscolo Rosso“ erleben ein Revival. Dem italienischen „Rolling Stone“ war Cicciolina für die Juni-Ausgabe einen satten Sechs-Seiter mit Ganzseitenfotos wert: Die Italiener lieben sie einfach. Sogar DJ-Ikone Hell ließ jüngst verlauten, an einer Zusammenarbeit mit der Porno-Diva interessiert zu sein.
Kürzlich lieferte Cicciolina in der Disko „Cassero“ in Bologna eine ihrer inzwischen zum Kult avancierten Live-Shows auf, bei der sie ihre Lieder zum Besten gab und mit dem Publikum konferierte. Immerhin war sie eine der ersten, die in Großdiskos Mitte der Siebziger Live-Striptease-Shows aufführte und damit salonfähig machte. Ganz Entertainerin, einem verruchten Unschuldsengel gleich, mehr aus- als angezogen, mit knallrotem Kussmund und mit lasziv-betörenden Charme schafft es Cicciolina, Antworten auf „Erzähle mir von deinem ersten Mal“ nicht peinlich erscheinen zu lassen. In Momenten wie diesen wächst sie über sich hinaus, wenn sie, gesegnet mit einem unnachahmlichen Gespür für soziale Situationskomik, live auf der Bühne praktisch angewandten Erotikunterricht vollführt und dafür von den über 1.000 Besuchern enthusiastisch gefeiert wird.
Diese Shows sind mehr sozialpädagogische Trainingseinheiten denn voyeuristische Schmuddel-Inszenierungen. Da war das Podest gar flankiert von einer Schar junger blumenbekränzter Frauen, die ihr als „Fanclub“ auf Transparenten huldigten. Der zu Fleisch gewordenen Mythos: La Grande Cicciolina. Kaum vorstellbar, dass sie an diesem Abend die 100%-Wahlhürde verpasst hätte.
Mit Männern hatte Staller –privat zumindest- übrigens nie viel Glück. Ihre erste Ehe, die sie in ihren frühen Zwanzigern eingegangen war, hatte nur wenige Monate gehalten. Der Pop Art-Künstler Jeff Koons war auch so ein Fall: Durch Cicciolina erlangte der bis dahin eher durch professionelles Posertum bekannte Amerikaner internationalen Ruhm. Die 1991 geschlossene „Kunst-Ehe“ zerbrach nach nur einem Jahr. Staller hatte es zu dieser Zeit gar nicht mehr nötig gehabt, sich auf die Allüren Koons’ zu kaprizieren, da sie Ende der Achtziger Jahre ihren Zenit der Bekanntheit längst erreicht hatte. Erst vor kurzem konnte sie sich das Sorgerecht um den gemeinsamen, 1992 geborenen, Sohn Ludwig von Vater Koons zurückholen. Mittlerweile ist sie ihre eigene Managerin und Herausgeberin, Model, Sängerin und eben Mutter.
Seit langem lebt Ilona Staller als praktizierende Katholikin. Sie glaubt an die Wiedergeburt und an den Weltfrieden. Sie schwört auf Flower Power. Entsprechend dem Motto „Make Love, Not War“ hatte sie Saddam Hussein 1990 ausrichten lassen, mit ihm zu schlafen, wenn er dafür den Golfkrieg beende. Im Oktober 2002 wiederholte sie ihr Angebot. Beide Male wurde sie bekanntlich abgewiesen. Dessen ungeachtet versteht sich Staller als Friedensbotschafterin vor dem Hintergrund zwanglos gelebter Sexualität und bekennt, schon ein „Flower Power-Girl gewesen zu sein noch bevor ich wusste, was das ist“. Cicciolina ist der gelebte Traum dieser Freiheit, bar jedes Anachronismus, dafür voll von Energie, angetrieben von dem „unerschütterlichen Glauben an eine bessere Welt“ gegen eine moralgeifernden Gesellschaft, die nicht zuletzt mit der grotesken Hexenjagd rund um den so genannten „Nipplegate“ von Janet Jackson im Februar 2004 wieder in Erscheinung trat.
Vielleicht wären die EU-Wahlen anders ausgegangen, wenn Ilona Staller kandidiert hätte. Bis zu den nächsten Parlamentswahlen kann man sich auf ihrer Website (www.cicciolinaonline.com) immerhin über ihre neuen Projekte informieren. Ihre Wurzeln hat sie nicht vergessen und bietet die Seite auch auf Ungarisch an. Dort kann man auch das aktuell erschienene, gut 200 Seiten starke Buch „Cicciolina. Memorie: Raccolte de un mito“ ordern. Darin sind nicht nur unzählige Bilder, sondern auch ihre verschiedenen politischen Deklarationen, Vorschläge und Manifeste abgedruckt. Köszönöm, Ilona.



erschienen in "Datum", Juli/August 04, Ausgabe 2, S.40ff
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