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Die lange Karriere von Alexei Borisov reflektiert die wechselvolle Geschichte russischer Undergroundmusik. Am Anfang stand Centr, die erste New Wave-Band Russlands. Ende der 1980-er Jahre wurde aus dem 1960 in Moskau geborenen Centr-Gitarristen der Frontmann der Industrialrock-Formation Notchnoi Prospekt und seit 1992 ist er zusammen mit Pavel Jagun F.R.U.I.T.S. Von Heinrich Deisl.

Prototypen– Biografie Alexei Borisov

Notchnoi Prospekt war eine Kultband, sie füllten in der Zeit kurz nach der Perestroika ganze Fußballstadien. Außerhalb des abgezirkelten Rahmens russischer Experimentalmusik war davon allerdings nicht all zu viel zu merken. Aber das ist ein generelles Problem, wie der in Geschichte und Kunstgeschichte diplomierte Borisov meint: „Es gibt immer wieder die Meinung, russische Musik sei zu „westlich“. Aber was ist schon Stil. Das reale Problem für uns ist, dass es keine Musik-Infrastruktur in Russland gibt. Wenn unsere Aufnahmen wenigstens in anderen Städten als Moskau oder sogar in großen Regionen wie z. B. Sibirien erhältlich wären, müssten wir uns nicht damit aufhalten, Richtung Westen zu denken.“ Seit Computer zu einem vertretbaren Preis erhältlich sind, ist die CD-R zum wichtigsten Distributionsmedium geworden, Netzwerkdenken und Internet machen überlebensfähig. Folglich gründete Borisov zusammen mit Anton Nikkilä das finno-russische Label N& B Research Digest.

Vielleicht nirgends anders ist man mit zwei so unterschiedlichen Realitäten konfrontiert wie in Russland: Der Moloch der Großstädte zehrt mit chaotischem Lärm an seinen Bewohnern, in der innerrussischen Weite lärmt nichts außer dem Blut im eigenen Gehör. Metropolen wie Petersburg oder Moskau sind Anhäufungen von elektromagnetischem Abfall. Er dringt aus jeder Ritze, die das große Erbe aus Konstruktivismus, Futurismus und gelebtem Sozialismus in der Wodka-getrübten post-Perestroika-Ernüchterung durch das Wegbrechen gemeinsamer Anti-Konsenshaltungen hinterlassen hat. Wenn nicht hier, wo sonst hätte es außerhalb des UK historisch, ideologisch und sozial Sinn gemacht, Industrialmusik zu machen? Die Achse »Enthusiasmus« (Vertov) – Art Brut/ Musique Concrète – Industrial musste in Russland über Blaupausen wie Sergei Koryokhin, Aleksander Solshenitzyn, Throbbing Gristle, Laibach und eben Alexei Borisov praktisch re-importiert werden. Wenn Glasnost musikalisch etwas bewirkte, dann, dass man Widerstandshaltungen neu positionieren musste.

Borisov ist weniger darum bemüht, mit Stereotypen zu brechen als sie ganz bewusst in einem musikalisierten Russischen Roulett gegeneinander auszuspielen.

Alexei Borisov gibt sich geschichtsbewusst. Surreale und futuristische Partikel finden sich überall in seiner Soundsprache, die als hochtoxisches Miasma enervierende Destabilisierung auf allen Ebenen zeitigt. Artifizielle Alltäglichkeiten vermengen sich mit sprachlichen Absurditäten im Geiste des „sowjetischen Kafka“ Andrei Platonov, flankiert von abstrakten Sequenzen aus Noise, Electronica und hochgepitchtem Drum’n’Bass. Das zeigt sich im verwendeten Equipment genauso wie in den von ihm seit Langem kultivierten Gesangs- und Rezitationstexten, die voll sind mit verqueren Neologismen. Samples von Sportübertragungen, alte Radios, geloopte Stahlperkussion, haptisches Frequenzrauschen, Feedback und mehrfach gebrochene Rhythmuspatterns sind jene Taktiken, mit denen operiert wird. Oft werden F.R.U.I.T.S. oder Borisov solo von Videos von Roman Anikushin, Vladislav Efimov und Aristarch Chernishev begleitet.


Discography – Alexei Borisov

1989: Notchnoi Prospekt: Asbastos (SNC Rec.)
1990: Notchnoi Prospekt: Sugar (Accelerating Blue Fish)
1993: Notchnoi Prospekt: Music For Dance (BSA Rec.)
1996: Notchnoi Prospekt Gumanitarnaya zhizn (Electric)
1997: F.R.U.I.T.S.: Electrostatik (w/ Pavel Jagun; Exotica)
1998: Various Artists: Live In Moskow ’98 (Insofar Vopor Bulk)
1998: F.R.U.I.T.S. & Sa-Zna: Amber Rooms (Exotica/GMB R.I.)
1999: Volga (w/ Angela Manukjan; Exotica)
2000: På Köket (Insofar Vopor Bulk)
2000: F.R.U.I.T.S.: Acid Report 96 (Grief Rec.)
2000: Various Artists: Geologists and Professional Tourists (NBRD)
2000: Various Artists: Pilottilasit – Samples from Helsinki Underground 1981-1987 (NBRD)
2000: F.R.U.I.T.S.: Studio Recordings Vol.1 (original 1992/ 93; NBRD)
2000: Spies Boys & Notchnoi Prospekt: Live in Bunkr 2000 (NNRecords)
2000: Japanoise Action in Russia (Insofar Vapour Bulk)
2001: F.R.U.I.T.S.: Lakmus (Xerxes)
2001: F.R.U.I.T.S.: Jakuzi (Exotica)
2001: Various Artists: Avanto Festival, Helsinki (Kiasma)
2001: Faust v Moskve (w/ Letov, Lipatov, Norvila; Pentagramma)
2002: Before the Evroremont (NBRD)
2002: Live@Cafe9 (w/ Anton Nikkilä; Planktone)
2002: Various Artists: Nautik (Laton)
2002: Various Artists: Ikra: Bitter Snacks from Moscow (Subetage)
2002: Alexei Borisov/ Sergei Letov/ Anton Nikkilä: s/t (Hor Music)