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Von Martina Fineder, Thomas Geisler.

Karel goes shopping

...und tausend Fenster öffnen sich.

Tschechoslowakische Produktkultur in den sechziger und siebziger Jahren zwischen Reform und Normalisierung.


In den sechziger und siebziger Jahren konnte man in der damaligen Tschechoslowakei alle Konsumartikel des internationalen Marktes erwerben – wenn man Karel Gott war, zur Polit-Prominenz zählte oder sich sportlich verdienstvoll um das Ansehen des Planstaates bemühte. Die offiziellen Produkte, mit denen die Bevölkerung ihren Alltag bestreiten musste, kamen fast ausschließlich aus heimischer staatlicher Produktion. Im Privaten brachte der Kommunismus entgegen gängiger Klischees nicht nur Vereinheitlichung hervor, sondern produzierte Unmengen individueller und einfallsreicher Abweichungen von der Norm.

Vom ökonomischen Standpunkt aus hatte die Tschechoslowakei der Nachkriegsjahre verglichen mit Deutschland und Österreich sogar gewisse Startvorteile, da sich die Kriegsschäden dort verhältnismäßig gering ausnahmen. Das galt zumindest so lange, bis die Wirtschaftsförderung des Marshallplans in den Besatzungszonen der westlichen Alliierten griff. Die ersten Škodas nach dem Krieg etwa standen vom Qualitätsniveau den Autos anderer Hersteller in Westeuropa in nichts nach.
Wie sich im Verlauf der sechziger Jahre zeigte, führte die Verstaatlichung der Industrie und die einhergehende Überalterung von Fertigungsstätten zu immer größeren Engpässen in der Produktion. Die Güter entsprachen den modernen Anforderungen nicht mehr, nicht zuletzt deswegen, weil die Arbeiter in den staatlichen Betrieben keine Motivation hatten. Die staatlichen Produkte funktionstüchtiger zu machen, lag nicht eben in ihrem Interesse. Und so erwarben viele Objekte nicht aufgrund ihrer ästhetischen Qualität einen Platz in den Erinnerungen von Zeitzeugen, sondern vielmehr wegen ihrer Schwachstellen. Der Designer und Architekt Jan Nĕmeèek etwa erinnert sich in diesem Zusammenhang an den Kunststoffkanister „Plastimat“, den er für den Katalog „Czech 100 Design Icons“ (herausgegeben von der Gesellschaft CzechMania anlässlich der Ausstellung „Czech 100 Design Icons“, Stilwerk, Berlin, 6.–30. Mai 2005) ausgesucht hatte, weil er in den sechziger Jahren als „praktischer Begleiter für Freizeitaktivitäten“ entworfen wurde. „Dem Kanister wurde ein ausziehbares Halsstück zum besseren Gießen verpasst, wodurch dann aber ironischerweise die Flüssigkeit überall verteilt wurde, nur nicht dort, wo sie hinsollte.“

Škoda war Kult
Zwar gab es unter der Herrschaft der kommunistischen Partei Forschungsinstitute, die sich mit Design und Wohnkultur beschäftigten, aber deren Erkenntnisse kamen nur selten dem heimischen Konsumenten zugute. „Es hat Milliarden von Kronen gekostet, aber die Ergebnisse wurden nie umgesetzt. Aus heutiger Sicht ist das nur schwer zu verstehen. Weil alle vollbeschäftigt waren, zerbrach sich niemand darüber den Kopf, dass diese Art Forschung eigentlich keine Ergebnisse zeitigte“, erinnert sich die tschechische Designtheoretikerin Lenka Žižková. „Was immer auch in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik erzeugt wurde, wurde in der Sowjetunion abgesetzt, aber nicht im eigenen Land. Es war nicht wichtig, was die eigenen Leute in den Geschäften brauchten, der Export in den großen Bruderstaat stand im Vordergrund.“ So wurden jene Objekte, die dann doch noch für die Bevölkerung „abfielen“, fast zwingend zu Kultobjekten. Jedes neue Škoda-Modell mutierte zur begehrenswerten Ikone, schon allein, weil es eben kaum andere Autos gab.
Der Katalog „Czech 100 Design Icons“ zeigt 100 Ikonen des tschechischen Designs und Stils und unternimmt den Versuch einer objektiven Dokumentation tschechischer Design-Geschichte. Als Vertreter für die Sechziger finden sich dort unter anderen der Škoda „Felicia“, das Telefon „T 65 H“, der Fernseher „LOTUS“ – welcher sich trotz fehlender Auswahl verschiedener Fernsehkanäle einer Fernbedienung rühmte, der PVC-Spielzeugkater mit Ziehharmonikakörper und das Bügeleisen „ETA 211“ mit einer enorm großen Bügelfläche. Die siebziger Jahre werden repräsentiert durch den „L39 Albatros“, einen einmotorigen Düsenjäger – der angeblich auch von James Bond geflogen wurde. Dazu werden der Škoda „110 R“ und natürlich die „Botasky“-Sportschuhe mit dem Modell „Classic“ vorgestellt. Dieser Schuh der Firma Botas erfreute sich derart großer Beliebtheit, dass die Marke in der Tschechoslowakei als allgemeine Bezeichnung für Sportschuhe bis heute verwendet wird. Das Triviale allerdings, das scheinbar Ungestaltete, weil Umgestaltete oder Selbstgemachte, hat in der „Czech 100 Design Icons“-Hitparade keinen Platz bekommen und bleibt Teil mündlicher Überlieferungen oder privater Sammlungen.
Geschmacklich orientierte man sich in der Tschechoslowakei lange an den fünfziger Jahren. So galten bis in die Siebziger Nierentische als modisch, genauso wie organisch geformtes Hüttenglas – Vasen oder Kaffee- und Teeservice mit dreieckförmigen Dekorationselementen, meist in den Fünfzigerjahre-Pastellfarben Gelb, Blau und Lindgrün. „Wir hatten damals alle unsere Wände mit solchen Dreiecken bemalt und geglaubt, wir halten so mit der Welt Schritt“, lacht Lenka Žižková. „Die Kunststoffgegenstände aus den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren waren übrigens weniger farbig und glänzend als im Westen, weil die Materialien und Technologien nicht von derselben Qualität waren wie diejenigen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs.“
Im Geiste der fünfziger Jahre scheint auch das Taschen-Transistorradio mit dem programmatischen Raumschiff-Namen „MÍR“ (Frieden, Welt) entworfen zu sein. Es war ein Muss für jede „private Raumstation“ und ständiger Begleiter bei Camping-Abenteuern, ob an der Moldau oder am Schwarzen Meer. Der Designer Jan Nĕmeèek bemerkt dazu: „Nur zwei Stationen des Staatsrundfunks konnten damit empfangen werden. Wer die Antenne sehr weit herauszog, kam auf die verbotene Welle von Radio Luxemburg. Spätestens nach einer Stunde war dann aber Schluss mit lustig und das Ding fing jämmerlich zu leiern an.“ Das weiße, abgerundete Gehäuse mit Tragegriff und Lautsprecherfront in Häkel-Optik wirkt eher wie ein Damenhandtäschchen und erinnert wenig an die sowjetischen Pioniere im Weltraum. Wenngleich das Oberflächenmuster wie Fertigfassaden der später populären Plattenbauten wirkt – in gewisser Weise war es demnach doch zukunftsweisend.
Es fällt auf, dass zahlreiche Designs aus den sechziger Jahren unter dem Begriff „Brüsseler Stil“ subsumiert werden. Ihre Fünfziger-Jahre-Ästhetik diente als direkter Hinweis auf die Expo '58 in Brüssel, wo tschechoslowakische Designer und Produkte über 100 Medaillen abgeräumt hatten. Auf der Leistungsschau, auf der zwei Weltanschauungen aufeinander trafen, sollte den Besuchern aus den kapitalistischen Staaten die Möglichkeit geboten werden, ihre Meinung über den Sozialismus „zu objektivieren“.

Schielen in den Westen
An die großen Erfolge der Expo '58 konnten die Entwürfe der sechziger Jahre jedoch nicht anschließen. Vielmehr wurden die Errungenschaften früherer Jahre einfach nur kopiert. Zudem verlief die Umstellung auf modernere Produktionsmethoden schleppend. „In den sechziger Jahren existierte eine gewisse Zeit der Ernüchterung und Traurigkeit“, so Jan Nĕmeèek. „Avantgarde und Eigenständigkeit waren in der Produktgestaltung wie in allen anderen Bereichen der Kunst nicht mehr gefragt.“
Vor allem die Design-Ikonen dieser Jahre spiegeln die Sehnsucht nach einer vielfältigeren Produktkultur und nach persönlicher Freiheit. Manche Objekte scheinen Ausdruck dieser Bedürfnisse zu sein. Das Schielen nach Produkten des „Goldenen Westens“ war Ideen bringender Anlass und Antrieb zugleich. Nicht erst als die Planwirtschaft aus den Fugen geriet und die Versorgungsengpässe für die Bevölkerung immer größer wurden. Es scheint, als forderten die Bürger im Stillen ihr ungeschriebenes Recht auf Konsum.
Erlaubte Filme aus dem Westen generierten Objekte der Begierde, wie Bluejeans und andere Markenartikel. „Angesagt war, wer Plastiktaschen mit West-Logos trug“, erinnert sich das tschechische Künstlerehepaar Ondøej Kohout und Ewa Vones an ihre Jugend in den Sechziger und Siebzigern. „Die politisch engagierten Intellektuellen sehnten sich nach zeitgemäßeren Medien, vor allem nach technisch hochwertigeren Radiogeräten, um mit der Außenwelt in Kontakt zu bleiben.“ Nach Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 wurde die Tschechoslowakei unter dem wachsamen Auge des Kreml bekanntlich zu einem der konservativsten Staaten des Ostblocks, die Phase der „Normalisierung“ fand ihren Ausdruck auch in der Stagnation im Design, das sich seit den sechziger Jahren im Grunde nicht mehr geändert hatte. Bezeichnendes für die Tristesse dieser Epoche findet sich auch im Katalog „Czech 100 Design Icons“. Gezeigt wird etwa ein maroder Spielplatz mit der Bildunterschrift „Kinder verbrachten ihre glückliche Normalisierungs-Jugend auf metallenen Spielgestellen neben den Plattenbauhäusern“. Lenka Žižková weiß, dass zu jener Zeit die Fabriken tonnenweise die gleichen Möbelstücke produzierten. „Es wurden damals 100.000 Wohnungen jährlich gebaut und diese Wohnungen mussten mit Möbeln bestückt werden. Die Wohnwände und Polstergarnituren von damals findet man in unseren Wohnsiedlungen noch heute.“

Das improvisierte Privatdesign
Die voranschreitende Verarmung der offiziellen Warenwelt führte im Gegenzug zu einer wahren „Blüte“ des Improvisierten im Privaten. Für den Hausgebrauch wurden Gegenstände nachempfunden, repariert und adaptiert. „Ein Großteil der Bevölkerung hatte eine Datscha, kleine Hütten zum Basteln für den privaten Bedarf. Diese symbolisierten so etwas wie persönliche Freiheit. Dort hat man sich bemüht, aus dem Wenigen das Beste zu machen. Die dafür benötigten Materialien und Werkzeuge stahlen die Leute am Arbeitsplatz, denn die gab es nicht zu kaufen“, erzählt Ondøej Kohout. „Die meisten selbstgemachten Erzeugnisse waren allerdings geschmacklos“, fügt Ewa Vones hinzu. „Und dann gab es noch den Sperrmüll, dort konnte man erstaunlicherweise – trotz allem – oft tolle Sachen finden.“ Zudem lieferten Modezeitschriften aus dem Westen Anleitungen zum Kleidernähen und darüber hinaus brauchbare Gestaltungstipps für den Wohnraum. „Die Mädchen wollten natürlich auch hübsch aussehen. Wir haben vieles selbst genäht, nach den Burda-Schnitten“, erzählt Ewa Vones. „Wenn man schon bei sich selbst anfing, musste sich das in die Umgebung weiterziehen. So habe ich auch die Verkleidung für unseren Kinderwagen und das Verdeck selbst genäht.“
Bei Design-Interessierten weckte die 1972 von Milena Lamarová kuratierte Ausstellung „Design a plastické hmoty“ (dt.: „Design und Plaste“) an der Prager Kunstgewerbehochschule neue Sehnsüchte. Besonders die gezeigten Plastikprodukte italienischer Machart wurden zur Inspirationsquelle für das Aussehen von Gebrauchsgegenständen und Ausdruck eines modernen Lebensstils, wenngleich die Massenwirkung als vergleichsweise gering einzuschätzen ist. Umgekehrt wurde die Kochglaskanne des tschechischen Herstellers Kavalier zu einem international erfolgreichen Exportartikel. Weniger das Design als die vollautomatisierte Herstellung des Produkts war das eigentlich Revolutionäre am Entwurf von Adolf Matura. Dieser Design-Klassiker findet sich sogar noch heute in den tschechischen, aber auch in österreichischen und deutschen Haushalten. Ob die Kavalier-Glaskanne, die Botasky Classics, der Plastimat oder das selbstgenähte Kinderwagenverdeck – ob Design-Ikone oder Do-it-yourself-Produkt – in Verbindung mit den Alltagsgeschichten vermitteln sie uns eine Vorstellung von der materiellen Kultur der Tschechoslowakei in den sechziger und siebziger Jahren. Und „Tausend Fenster öffnen sich“, um mit einem Lied von Karel Gott zu enden.

Martina Fineder und Thomas Geisler sind als Design-Theoretiker, Kuratoren und Ausstellungsmacher tätig. Beide lehren am Institut für Design an der Universität für angewandte Kunst Wien.

Katalog „Czech 100 Design Icons“, hrsg. von der Gesellschaft CzechMania anlässlich der Ausstellung „Czech 100 Design Icons“, Stilwerk, Berlin, 6.–30. Mai 2005

Besonderer Dank gilt den Zeitzeugen Ondøej Kohout und Ewa Vones für ihre persönlichen Erinnerungen sowie den beiden tschechischen Kollegen Lenka Žižková und Jan Nĕmeèek.

Artikel erschienen in REPORT.Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in Zentral- und Osteuropa, Juni 2006



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