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Indien ist eine einzige Improvisation. Eine bunte, schrille und tragische Improvisation. 1,1 Milliarden Menschen, von denen annähernd die Hälfte nicht einmal schreiben und lesen kann, kämpfen dort um Wasser, Essen, Arbeit, Lebensraum. In 34 Jahren werden es doppelt so viele sein. Nichts funktioniert schon heute in diesem Land und trotzdem ist alles perfekt. Die gelebte Schizophrenie. Von Antje Mayer.

Chanel und Räucherstäbchen

Zwanzig Quadratmeter Indien, 2003: Auf der Straße vermodern die Menschen in den Rinnsteinen wie Abfall. Direkt daneben im Internetcafé beamen sich Turban tragende Inder mit Videospielen in eine andere Welt. Es riecht nach Chanel und Räucherstäbchen. Am Schreibtisch bringt eine lachende Shivastatue das Glück. Aus dem Radio brüllt der Muezzin; die Walkman-Kopfhörer schwarzverhüllter, internetsurfender Muslim-Mädchen vibrieren vom wummernden Bass. Über ihren Schreibtischen hängen handgemalte Bollywood-Plakate: Miniberockte Inderschönheiten räkeln sich dort in den Muskelarmen eines auf Inder gedrimmten Jean Claude Van Damm.

Unvorstellbare Armut verträgt sich mit üppigen Reichtum, Kastenwesen mit Marktwirtschaft, Nationalismus mit einem überall präsenten, rapide wachsenden IT-Markt. Tiefe Religiosität ist auf diesem wunderschönen Fleck Erde mit einem aggressiven, den letzen Nerv raubenden Unternehmergeist gepaart. Und gerade deswegen ist Indien „nicht irgendein wichtiges Land, sondern wahrscheinlich das wichtigste Land für die Zukunft der Welt“, hat der britische Historiker E. P. Thompson schon im Jahre 1977 festgestellt.

„Ich hoffe, dass wir jetzt nicht in eine Phase eintreten, in der wir alles Amerikanische imitieren“, so der in Bombay lebende Kulturtheoretiker, Kurator und Dichter Ranjit Hoskote in einem Interview mit Angelika Fitz, Kuratorin der letztjährigen Wiener Kunsthallen-Ausstellung „Kunst & Karma. Aktuelle Positionen Indischer Kunst“. “Wir konnten aufholen“, so Ranjit Hoskote. „Aber das Problem ist, dass es keinen Sinn macht aufzuholen.“

Aus der Not eine Tugend machen, das ist dann auch so etwas wie eine Wunderformel für den seit der Öffnung des Marktes Anfang der Neunziger spürbaren Aufschwung im Land. So plädiert der indische Architekt und Stadtplaner Rahul Mehrotra inzwischen für eine Reinterpretation des Provisoriums der Slums, die übrigens nicht nur in den indischen Megastädten New Delhi, Bombay, Kalkutta wildwachsen, sondern sich inzwischen wie ein Wundbrand über das ganze Land ausbreiten. „Eines der offensichtlichsten Probleme des Landes“, so die Kunststudentin Sonia Singh. „Ihnen kann sich auch die indische Kunstszene, deren Protagonisten freilich überwiegend aus der Oberschicht kommen, nicht entziehen“. So widmet sich denn auch die aktuelle Ausgabe des „The Art News Magazine Of India“ (www.artindiamag.co) dem Thema: „Imaging the City“ lautet ihr Titel.

Kranke Wucherungen, so der Experte Rahul Mehrotra, seien ein integraler Bestandteil von Urbanität und Ausdruck von kreativer Geschäftstüchtigkeit der Menschen. Zynisch mögen solche Aussagen für planquadratgeeichte Westler sein, sehr realistisch klingen sie indes für Kenner der Situation.

Das vielzitierte Fallbeispiel ist die Megametropole Bombay (mit 12 offiziellen und sage und schreibe 18 Millionen geschätzten Einwohnern). In „Bollywood“ befindet sich, neben Neu Delhi, das Zentrum der zeitgenössischen Kunst, denn hier leben die globalisierten Eliten, die Superreichen, die ihr Vermögen mit den trashigen Musical-Hindi-Blockbusters, den sogenannten Masala-Filmen, gemacht haben. Wenn man nach experimenteller und globalverträglicher Kunst Ausschau halten will, dann dort. Der Asienhype im internationalen Biennalezirkus hat der Szene Aufschwung gebracht. „Indische Kunst hängt in den internationalen Museen und Galerien endlich nicht mehr in der Abteilung ‚Folklore und sonstiges’“, freut sich auch die Kunststudentin Sonia Singh.

Doch sollte man die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass sich der europäische Kulturmix Theater, Kunst und Musik, in Indien derzeit vor allem in einem Genre vereint: im Kino. „Wenn Inder hinauf zur Leinwand schauen", schrieb Salman Rushdie einmal, "dann ist das so, als würden sie in den Himmel blicken.“ Und der ist in Indien bekanntlich nicht für alle gleich nah, denn die Mehrheit der Inder hat ein Kino noch nie von innen gesehen.

Wenn in den indischen Megastädten die Dunkelheit hereinbricht, dann werden auf den Gehsteigen, selbst auf den Pannenstreifen neben vierspurig befahrenen Stadtautobahnen, die Schlafplätze knapp. Die Ärmsten der Armen haben nicht einmal eine Decke. Das Bild eines spirituellen Märchenlandes kann Indien längst nicht mehr erfüllen. Sein kreatives Karma wird es auf Basis dieses Images in Zukunft sowieso nicht schöpfen. Das sah wohl auch documenta-Kurator Okwui Enwezor so, als er im vergangenen Jahr seine diskursive Plattform 2 nach Neu Delhi verlegte. Das Thema war so wenig schrill wie spirituell: „Rechtssysteme im Wandel“



erschienen in Kunstzeitung Nr.83/Jul.03,S.20