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Von Milena Oda.

Die Leidenschaft und die Krankheit der Sprache

Milena Oda über Sprache als Schlüssel zu Emotion und Kultur

Jede Sprache hat einen emotionalen Code. Wer den Code der Fremdsprache entschlüsselt, kann die Mentalität der Menschen und deren Kultur begreifen. Ein literarischer Essay.

Denn in der Sprache liegen die Affektionen und Leidenschaften des Menschen. Man wächst in einer Sprache wie in einer Familie auf, lernt dabei die Sprachmelodie, die Sprachregeln und das gesamte Sprachsystem kennen und man wird unbewusst dadurch geformt. Die Sprache erzieht uns und verleiht unserem Ich-System ihre innere Ausstrahlung, Emotionalität und Leidenschaft. In jeder Sprache besteht ein anderes Verhältnis zur Leidenschaft und ruft eine andere Gemütsbewegung durch den Sprachklang, die Sprachstruktur und Schnelligkeit ihrer Verwendung hervor. Es gibt Sprachen, die lebhaft oder sanghaft sind, während andere weniger beseelt und kälter klingen. Und wir wählen dann auch diejenigen Fremdsprachen, die unserem Empfinden entsprechen. Die Sprachmelodie, der Klang der Wörter an sich reichen jedoch nicht für befriedigende Gespräche aus. Die Leidenschaft der Sprache erkaltet dann durch die Sinnlosigkeit und Bedeutungslosigkeit der gewählten Wörter.

Das Niveau der Sprache ist das Niveau des Intellekts

Es ist die Sprache, die uns hilft, Probleme jeder Art zu verbalisieren. Probleme zu begreifen bedeutet, jedem Problem einen Begriff zuzuordnen, um es lösen zu können. Denn das Unvermögen, sich auszudrücken, führt zum Problem und das ungelöste Problem macht sprachlos, kraftlos und schließlich auch krank.

Man bemüht sich um die Entwicklung der eigenen Sprache, indem man den Intellekt anstrengt. Wir wollen unseren lebendigen, kräftigen Kern beibehalten und freuen uns über die eigenen Gedanken. Um an die eigene Sprache Ansprüche zu stellen, muss man sich selbst beim Sprechen und Denken beobachten. Man blickt bei jedem Wort in sich hinein und will jedes Wort in seiner Bedeutung und dem Sinn nach verstehen. Das gesprochene Wort regt unsere Aufmerksamkeit an und beansprucht unseren Intellekt. Wir freuen uns über unseren Kraftaufwand! Welches Spiel der Kräfte! Wir wollen uns ausreichend gerüstet fühlen, um gegen das in unserer Gesellschaft verbreitete Übel anzukämpfen, nur über einen kleinen Umfang an Wörtern zu verfügen. Es ist kein öffentlicher Kampf, es ist ein Kampf mit sich selbst gegen sich selbst. Nur wir errichten uns Hindernisse und überwinden sie freiwillig. Wer denn, außer wir selbst, ist unser Richter!?

Die intellektuelle Unzufriedenheit, die wir dabei erleben, zwingt uns, die eigene Sprache zu verbessern. Die fehlenden Worte können auch durch Gesten ersetzt werden. Aber fühlen wir uns nicht gedemütigt, wenn wir die Gestik dort verwenden, wo uns die Worte in unserer Muttersprache fehlen? Wir gestehen unmittelbar ein, dass wir nicht nur große Lücken in unserem Wortschatz haben, sondern auch in unserem Denken und in unserer Lebenserfahrung. Ja, die Sprache demütigt uns und treibt uns in die Enge. Sie erzieht uns. Das gesprochene Wort über die Geste zu stellen ist anstrengend, aber es formt unser Denken. Die Sprache ist nicht nur ein Instrument zur Verständigung, sondern auch eines zur Füllung der eigenen Leere.

Es ist bekannt, dass jede Sprache eine formale, ja emotionslose Struktur hat, die im Alltag gedankenlos, gewohnheitsmäßig verwendet wird. Diese Struktur erspart dem Sprechenden das Nachdenken, das kritische Betrachten der angedeuteten Problematik und das Einfühlen. Die Verwendung von Phrasen, den Ersatzteilen des eigenen Denkens, führt zur Aushöhlung des Kerns unseres Ichs. Der Kern ist unsere Energie und die emotionale Kraft. Das Wort verliert Leben und Glut. Es fehlt an jedem Fortschritt.

Man neigt dazu, sich in der Gesellschaft einfach, emotionslos und klischeehaft auszudrücken. Das reine Imitieren der Wörter, die Beredsamkeit ist nur ein Zeichen der Intellektsgrenze. Der Inhalt der Wörter ist leer. Man imitiert lieber die schon gegebenen Wörter, als sie aufs Neue zu produzieren. Man zieht vor, Ansichten zu schematisieren und Gedanken zu fingieren, sei es aus Bequemlichkeit, um die eigene innere Leere zu füllen. Die Sprache wird durch die Verwendung von Phrasen langweilig und deutet direkt auf die „Selbstlosigkeit“ des Sprechenden.

Man fragt sich dann: Wie sieht es etwa im Inneren des Menschen aus, wenn er in seiner Sprachschöpfung und in der Tiefe seiner Gedankenfindung langweilig ist? Man spürt, dass das Denken der sprechenden Person wirklich nichts wiegt und es eigentlich krank ist.
Beim Sprechen werden sich die Tiefe des Denkvermögens und die kritische Selbstbeobachtung von selbst zu erkennen geben. Der denkende Mensch schützt sich gegen die Bedrohung der Begeisterung, gegen die Unterdrückung der Energie und des Intellekts, die in der Sprache verborgen sind. Wir möchten eifrig beim Sprechen, am Aufbau der Wörter, der Fragen und Antworten arbeiten und so die Originalität der Sprache buchstabieren. Die Gedanken, die Genauigkeit der Bezüge machen aus der Sprache die Sprache. Wir gehen evident davon aus: Wenn ein Mensch krank ist, dann ist es auch seine Sprache. Wir wollen aber gesund sein und werden.

Stellen wir uns (immer wieder) die Frage und beantworten wir sie aufrichtig, um uns selbst im Licht oder im Schatten zu sehen: Was drücke ich durch meine Sprache aus?



Die tschechisch-deutsche Schriftstellerin, Übersetzerin und Dolmetscherin Milena Oda (geb. 1975 in Jičin) lebt in Berlin und war im Jänner und Februar 2005 Gast im Atelier Top 22 des Literaturhauses Niederösterreich. Sie studierte Germanistik und Geschichte in Olomouc/Olmütz (CZ), Bayreuth, Salzburg und Klagenfurt. Seit 2001 ist sie Autorin von Prosa und Theaterstücken.

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Februar 2005
> Link:REPORT online > Link: Unabhängiges Literaturhaus Niederösterreich-