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Zukunft und Vergangenheit haben einen Termin, den 1. Mai: Tag der Arbeiterbewegung und der des erweiterten Europas. Wer feiert wie? Ein Lokalaugenschein in Moskau. Von Manuela Hötzl, Antje Mayer.

Neues Datum für Europa

Moskau ist ein rastloser Zehn-Millionen-Moloch. Die Stadt dröhnt, reizt, vibriert. Am 1. Mai diesen Jahres, dem Tag der Arbeiterbewegungen, war Moskau, das einstige Impulszentrum des Kampfes für die Weltherrschaft des Proletariats ruhig, verlassen und so idyllisch wie der Wiener Prater im Winter. In der für den Autoverkehr gesperrten Innenstadt Moskaus schwangen die Kommunisten, Gewerkschaften, Nationalisten und Bolschewiken ihre Fahnen für die Werktätigen, die stattdessen lieber im Grünen ihre Schaschliky auf den Grill legten. Die Mehrzahl der Moskowiter war in ihre Datschas aufs Land gefahren. Der Glauben an „die Befreiung der Menschheit vom kapitalistischen Joch“ war wohl kleiner als die Hoffnung auf Erholung vom ebenjenen bei einem Kurzurlaub.
Der mumifizierte Führer des Weltproletariats Wladimir Iljitsch Lenin musste heuer allein in seinem Mausoleum feiern. Auch der Rote Platz vor dem Kreml, traditioneller Treffpunkt aller Delegationen, Parteien und Alt-Revolutionäre, war dieses Jahr aus Angst vor Anschlägen weiträumig gesperrt und von Polizisten gesichert. Von so vielen, dass es den Anschein hatte, dass Bürgermeister Juri Luschkov jedem Aktivisten einen eigenen Bodyguard beigestellt hätte.
Eine Parade über die breiten Boulevards der Innenstadt fand trotzdem statt und auch die Kundgebungen fehlten nicht. Indes: Der 1. Mai geriet in Moskau heuer zum Tag der politischen Minderheiten, für alle jenen eben, die unter der autoritären Regierung Putins und Moskaus gestrengen Bürgermeister Jurij Luschkow über das Jahr sonst nicht viel zu melden haben. Alte Veteranen hielten für die Schaulustigen Reden gegen „die Banditen in der Politik“ und zu niedrige Pensionen, verkauften Orden und kommunistische Literatur. Die Kommunisten schwenkten ihre roten Fahnen und beschworen durch ihre Megaphone, wie in guten alten Zeiten, das ewige Leben ihrer Partei, das kurze des Kapitalismus und das schlechte derzeit. Die Bolschewiken waren irgendwie ähnlicher Meinung, nur eben radikaler. Wer früher über die Bourgoise herzog, tat es heuer über die Oligarchen und Novy Rusky, die neureichen Russen. Die Studenten in Coca-Cola T-Shirts setzten sich für den Kauf russischer Nationalfahnen, Hasenohren und Ballons ein. Die Atheisten schimpften gegen die orthodoxe Kirche, die Vereinigung der sowjetischen Bürger gegen Bush und den Krieg in Irak. Die Liberalen gegen den in Tschetschenien und die Einschränkung der Pressefreiheit. Für „Friede, Sex und 1. Mai“ votierte auf einen Plakat eine Gruppe junger Russen. Als der Kinderchor vor dem Moskauer Rathaus ein altes sowjetisches Kinderlied anstimmt, herrscht kurz Einigkeit und Frieden unter den Demonstranten. Fast so wie es früher einmal war. Die Menge singt und schunkelt einig Arm und Arm.
Der 1. Mai, als Tag der Arbeit, hat seine Bedeutung offensichtlich für die Menschen verloren, weltweit, selbst in Moskau. Während man in der einstigen Metropole des sowjetischen Reiches, am östlichsten Rand des geografischen Europas an diesem Tag noch einmal in aller Deutlichkeit Zeuge des Untergangs der Ideen eines alten politischen Systems wird, von einem, das das „alte Europa“ teilte, in Ost und West, in zwei Systeme, feiert man weiter westlich das neue Europa und letztlich das Ende eines Zwangsverhältnisses. Eines, das ihren Ausgang in Moskau nahm. Ein guter Ort, das alte Europa zu Grabe zu tragen und sich auf das neue zu freuen.
Der 1. Mai, als Tag der EU-Erweiterung, ist seit diesem Jahr ein neuer Feiertag. Die Trennung zwischen Ost und West hob er damit freilich nicht auf. Wenn die Russen früher ohne viel bürokratischen Aufhebens in die ehemaligen Ostblockstaaten fahren konnten, ist es nun damit erst einmal vorbei. Denn Grenzen erweitern, heißt nicht Grenzen aufheben. Neue Länder einschließen, heißt auch andere ausschließen. Seit dem heurigen 1. Mai, so sagen viele Moskauer, haben sie sich von Europa weiter entfernt denn je.



erschienen in "Datum", Ausgabe 1, S.82ff, Hrsg.: Klaus Stimeder, Johannes Weyringer, Preis: 4,50.