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Von Péter Zihaly.

DER LANGE WEG NACH NAH

Erste Szene: Achtziger Jahre, im Zug durch die DDR.

Im Abteil sitzt ein junger Mann, für die zweite Klasse auffallend gut gekleidet: exklusives Hemd, teure Schuhe, Markentasche, ein elegantes, weißes Jackett. Er liest ein Buch in englischer Sprache, Hardcover. Auf dem Gang nähert sich eine junge Frau: Rockerin, schwarze Lederjacke mit Nieten, schwarze Stiefel, schwarzer Minirock aus Leder, schwarze Armbänder mit silbernen Nieten, das Gesicht stark geschminkt. Eine ausgeblichene, braune Leinentasche hängt ihr über der Schulter, darauf die Aufschriften: Deep Purple, Led Zeppelin, Dead Kennedys. Auf dem Rücken trägt sie einen schwarzen Rucksack, ein roter Schlafsack lugt daraus hervor. Ein Reisender zieht die Tür zu, damit sie nicht zu ihm ins Abteil geht. Da klebt sie ihren Kaugummi an die Tür. Sie schaut sich die Abteile an, sieht sich in einigen gründlich um, als würde sie etwas suchen. Am Abteil des jungen Mannes angelangt, ist sie sichtlich erfreut, reißt die Tür auf.

SIE: „Hallo, ist der Platz hier frei?“ (Schon räumt sie ihre Sachen nach oben, mit dem Rücken zu ihm.)
ER: „Sieht so aus.“ (beobachtet ihren Hintern)
SIE: „Wohin fährst du? Nach Prag? Bist du Amerikaner?“
ER: „Nein … nach Budapest.“
SIE: „Alle fahren nach Prag. Das ist total billig für euch Westler (wendet sich um) und die Mädchen sind nett (zwinkert), oder stehst du nicht auf Mädchen?“
ER: „Warum, bist du etwa auf Mädchen scharf?“
SIE: „Hmmm … (streckt das Kinn vor, spitzt den Mund, als würde sie sich im Spiegel betrachten) mal so, mal so. Magst du ein Bier? Es ist richtig schön kalt.“ (holt eine Bierflasche aus der Tasche)
ER: „Gut, gib mir eins.“ (Sie öffnet die Flasche an der Klinke, legt ihre Beine auf den Sitz, zündet sich eine Zigarette an. Sie trinken.)
SIE: „Du siehst nicht aus wie einer, der schwul ist (er verschluckt sich, niest) … wie du trinkst …“
ER: „Daran, wie einer trinkt, erkennst du, ob er schwul ist?“
SIE: „Na klar, Schwule streifen mit dem Mund die Flasche fast nicht, auch mit der Hand berühren sie sie nur ganz vorsichtig, als wäre sie ansteckend. Aber du hast sie angefasst und einen ordentlichen Schluck genommen. Den Test hast du bestanden.“
ER (ohne rechte Begeisterung): „Da freue ich mich aber, wäre ja schwer gewesen, das zu beweisen …“
SIE: „Und von mir glauben alle, dass ich Tschechin bin, nur weil ich aus der Tschechoslowakei komme. Ich lass sie natürlich in dem Glauben, vor allem, wenn sie gut aussehen, weil alle nur auf tschechische Girls stehen – slowakisch, das ist nicht wie Prag, das ist, als wärst du nur die kleine Schwester von jemandem in der Schule, mit der jeder bloß dann ausgeht, wenn’s nichts Besseres gibt …“
ER (aufrichtig): „Das muss ganz schön scheiße sein.“
SIE: „Dabei sind Slowakinnen viel leidenschaftlicher.“ (schaut ihm in die Augen)
ER: „Aha.“ (geht nicht darauf ein)
SIE: „Woher kommst du, schöner Mann?“
ER: „Aus Kopenhagen.“
SIE: „Ah, Dänemark! Oha! Tuborg or not Tuborg?”
ER: (verdutzt): „Meinst du das jetzt ernst?“
SIE: „Ach was, ich kenn bloß die Biersorten, einmal hab ich auf einem dänischen Schiff in der Bar gearbeitet, da hab ich sogar gelernt: Jag älskar deg, I love you, stimmt’s?“
ER: „Das ist schwedisch.“
SIE: „Kann sein, dass es ein schwedisches Schiff war. Und wie sagt man auf Dänisch?“
ER: „Jeg elsker deg.“
SIE: „Das macht nicht gerade einen großen Unterschied.“
ER: „Es bedeutet ja dasselbe … Warum, und wie heißt das auf Slowakisch?“
SIE: „Milujem t’a.“
ER: „Na, und auf Tschechisch?“
SIE: „Miluju tĕ.“
ER: „Das ist gleich was anderes.“ (nimmt einen Schluck aus der Flasche)
SIE: „Nur diese Scheißungarn haben für alles ihr eigenes Wort. (Er verschluckt sich wieder.) Du verträgst wohl keinen Alk, oder was?“
ER: „Nein, ist bloß ein bisschen kalt.“
SIE: „Auf was für Musik fährst du denn ab? Gibt’s gute dänische Gruppen?“
ER: „Also, da sind die …“
SIE: (fällt ihm ins Wort): „Ich finde ja, alle kriechen dem Pop in den Hintern. Nur auf Metal ist noch Verlass. Deep Purple, absolute Spitzenklasse, aber die Dead Kennedys sind auch nicht übel.“ (singt, spielt Luftgitarre) „I don’t need this fucking world, I don’t need this fucking world, I don’t need this …“
ER (ironisch):„Ganz schön fetzig.“
SIE: „Findest du wirklich?“
ER: „Mhm, vor allem der abwechslungsreiche Text …“
SIE: „Ich wette, zu Hause hörst du mit Mami Vivaldi in vier Schichten.“
ER: „Vielleicht in vier Jahreszeiten.“
SIE: „Glaubst du, ich bin total plemplem? Diese Scheiße habe ich sieben Jahre lang Tag für Tag auf dem Klavier geklimpert und dabei geseufzt: ‚Wäre ich bloß auf einem wärmeren Breitengrad zur Welt gekommen, wo es nur zwei Jahreszeiten gibt – oder nicht einmal die.‘ Auf Metal-Konzerte gehen übrigens nicht nur geistig Behinderte. Bei uns schieben die ihre Schicht und gehen einmal pro Monat in die Oper.“
ER (neckisch): „Bei uns kommen geistig Behinderte ins Radio.“
SIE: „Bei uns kommen nur alte geistig Behinderte ins Radio, wenn sie nach einem Schlaganfall im Gesicht gelähmt sind und deshalb nicht auf den Bildschirm können.“
ER: „Bei uns sitzen geistig Behinderte, die im Gesicht gelähmt sind, deshalb nicht auf den Bildschirm können und an akutem Alzheimer leiden, in den Aufsichtsräten von Großunternehmen.“
SIE: „Bei uns sitzen geistig Behinderte, die im Gesicht gelähmt sind, deshalb nicht auf den Bildschirm können und an akutem Alzheimer leiden, im Parlament.“
ER: „Und fahren mit dem Sonderzug.“
SIE: „Und fahren mit dem Sonderzug.“
ER: „Und schauen nicht aus dem Fenster …“
SIE: „Reisen ist für mich übrigens das Höchste, ich liebe es, von da wegzugehen, wo ich gerade bin, vielleicht gar nicht mehr wiederzukommen, ich liebe es, wenn die Stadt verschwindet … auch der letzte miese Plattenbau … Ich liebe Züge, ich liebe ihr Rattern: tfü-tfü, tfü-tfü, tfü-tfü, tfü-tfü … wenn sie verschlafen über eine Wiese zuckeln (langsam, den Kopf schaukeln lassend) tfü-tfü, tfü-tfü, tfü-tfü, tfü-tfü … oder mit hundert Sachen durch die Gegend rasen (sie schüttelt den Kopf, headbanging, wie bei einem Metal-Konzert) tfü- tfü-tfü-tfü, tfü-tfü-tfü-tfü, tfü-tfü-tfü-tfü, tfü-tfü-tfü-tfü … (blickt auf) Und wie ist das bei euch so? Erzähl mir von den dänischen Zügen!“
ER: „Also … in Dänemark haben die Züge keinen Rhythmus, sie gleiten einfach dahin: schiiiiiiiiiii (wie wenn beim Fahrrad die Luft aus dem Reifen strömt), und vor allem, sie rattern nicht. Die Bahnstationen blitzen und blinken, alles ist sauber, die Züge sind pünktlich. Und sie fahren so oft wie bei euch die Straßenbahn. Dann gibt es da so kleine Tische, an denen die Leute arbeiten.“
SIE: „Bei uns hat niemand was zu arbeiten, alle tun bloß so, darum gibt es nicht diese Hektik. Der Zug kommt an oder eben nicht. Und wenn er mehrere Stunden zu spät dran ist, stört das auch keinen. Nur wenn es sehr heiß ist. Das ist dann scheiße.“
ER: „In Dänemark gibt’s Aircondition … Ich meine, sie funktioniert auch … (es tut ihm leid, er wollte nicht kritisieren) Darum kann man die Fenster nicht aufmachen, die sind verriegelt, was ziemlich blöd ist, du hast das Gefühl, in einen Glascontainer gesperrt zu sein. Ich mag es, mich hinauszulehnen, damit der Wind mir in die Augen bläst und mein Gesicht erfasst (führt es vor) … wie bei einem Hund … und etwas in den Wind zu brüllen … oder einfach aus dem offenen Fenster zu schauen.“
SIE: „Wie? So?! (Sie reißt das Fenster nach unten und lehnt sich hinaus. Er muss sie packen, damit sie nicht hinausfällt.) Kannst du mich halten? He, häng mich ein bisschen weiter raus!!! Zerr nicht so an mir!!! (breitet die Arme aus) Diese ganzen blöden Blumen hier auf der Wiese gehören mir!!! Und die ganze Kuhscheiße!!! Und die ganzen schiefen Strommasten!!! (Er reißt sie vor einem rasant näher kommenden Mast zurück.) Das war knapp!“ (Aufgedreht, lachend möchte sich an ihn schmiegen, aber er weicht aus, zieht das Fenster hoch und überspielt seine Verlegenheit, indem er weiterredet.)
ER: „Dafür strotzt nicht alles vor Dreck, die Klos sind sauber, es gibt Klopapier und man kann die Klinken ruhig anfassen …“
SIE: „Was ist, hast du Schiss gekriegt? Du hast gesagt, du magst es, dich hinauszulehnen.“
ER: „Hinauslehnen schon, aber nicht hinausspringen! … Ich hasse es, wenn ich neben den Schienen laufen muss!“
SIE: „Ich liebe es, Sachen aus dem Fenster zu werfen. Wenn du etwas nicht mehr brauchst, schmeiß es aus dem Fenster, und du siehst es nie wieder.“ (Feierlich löst sie das Tuch mit der Aufschrift LOVE FOREVER an ihrem Hals und wirft es aus dem Fenster.)
ER (ihm ist das zu viel): „Du, das Bier ist aus, ich hol noch welches. Möchtest du auch eins?“
SIE: „Ja, bring slowakisches Budweiser, das ist das Beste. (Er ist schon auf dem Gang, sie ruft ihm hinterher.) Hör mal, ich kann auch verschwinden, wenn ich dir sehr auf den Geist gehe … Hallo, hast du keine Angst, deine Tasche hier zu lassen, Kleiner …?“

Parallelszenen auf dem Gang: Er mit dem Fremden, Sie mit dem Inspekteur. Der Inspekteur sucht einen gut gekleideten Mann aus dem Westen. Der Fremde verrät nicht viel von sich, allerdings spricht er fließend Englisch, Dänisch, Tschechisch und jede andere Sprache, von der die Rede ist. Der junge Mann bleibt stehen, um eine zu rauchen, da trifft er auf den Fremden.


DER FREMDE: „Hallo.“
ER: „Hallo.“
DER FREMDE: „Hast du Feuer?“
ER: „Bitte!“
DER FREMDE (schaut hinaus): „Tempo, tempo!“
ER: „Mhm.“
DER FREMDE: „Woher?“
ER: „Dänemark.“
DER FREMDE: „Kaduli tsjessisk öl?“ (Dänisch für: Magst du tschechisches Bier?)
ER: „Ich bin nicht Däne, ich studiere nur dort.“
DER FREMDE: „Bist du Ungar?“
ER: „Warum denkst du das?“
DER FREMDE: „Also ein Ossi bist du nicht, das ist schon mal sicher. Für einen Tschechoslowaken bist du zu gut gekleidet. Wenn du aus dem Westen wärst, würdest du nicht zweiter Klasse fahren, weil du Angst hättest, da stinken die Leute. Du siehst nicht aus wie einer, den seine Eltern finanzieren, und wenn du Diplomat wärst oder Handelsvertreter, dann würdest du mit dem Auto fahren oder fliegen. Also bist du Ungar oder du hast eine ungarische Freundin oder ungarische Verwandte hinter dem Eisernen Vorhang.“
ER: „Gratuliere … Sherlock! Und du bist immer in Speisewagen unterwegs? Oder arbeitest du lieber auf Dampfschiffen?“
DER FREMDE: „Sherlock kommt in Osteuropa immer gut.“
ER: „Probier’s doch in Russland!“
DER FREMDE: „Ich beobachte die Menschen. Mein altes Hobby … Also?“
ER (verständnislos): „Also?“
DER FREMDE (auf Ungarisch): „Magyar vagy?“ (Bist du Ungar?)
ER: „Wieso kennst du dich so aus?“
DER FREMDE: „Meine Freundin.“
ER: „Und du, woher kommst du?“
DER FREMDE: „Amsterdam.“
ER: „Und was machst du?“
DER FREMDE: „Ich habe Interessen.“
ER: „Das ist gut.“
DER FREMDE: „Siehst du die Tussi mit den Lederklamotten?“
ER: „Die Metal-Tante, ja, die hat sich zu mir gesetzt.“
DER FREMDE: „Und wie ist sie?“
ER (cool): „Freigebig … aber hart.“
DER FREMDE: „Verstehe … Mich hat sie ganz schön angemacht. Glaubst du …?“
ER: „Mann, die ist total hysterisch. Wenn die erst in Fahrt kommt, schneidet sie dir den Schwanz ab, da nehme ich Gift drauf.“
DER FREMDE: „Danke für die Info.“
ER: „Wenn du tauschen willst …“
DER FREMDE: „Ich war bloß neugierig.“
(Sie rauchen weiter.)

Der Inspekteur kommt, jetzt als DDR-Schaffner. Diskrete Uniform, gerahmte Brille, merkwürdiger, unpassender Schnurrbart. Auf dem Kopf trägt er eine für die Zuschauer nicht sichtbare, versteckte Kamera. Die Aufnahmen aus seiner Perspektive erscheinen von Zeit zu Zeit auf der Leinwand, zum Beispiel wenn er ein Abteil betritt, die Karten verlangt und so weiter. Auch wird er als Schaffner oder Bahnsteward ab und zu vom Mischpult aus eingeblendet, als wäre er live anwesend. Der Inspekteur ist auf dem Bildschirm nicht zu sehen, wir folgen nur seiner Perspektive. Das wird bildlich verstärkt durch den Umstand, dass die drei Rollen in Wirklichkeit ein und dieselbe Person sind (Inspekteur, Schaffner, Bahnsteward). In der folgenden Szene trifft er auf die junge Frau, als sie gerade zur Toilette gehen will.

SIE: „Wie kommst du denn her, Genosse Major?“
INSPEKTEUR (ruhige, unbewegte Stimme): „Pst! Inkognito … Wir arbeiten mit den Kollegen Hand in Hand.“
SIE: „Sie meinen, dass Sie etwas abstauben wollen?“
INSPEKTEUR: „Nein, das ist völlig korrekt.“
SIE: „Interpol sozialistisch? Ist das ein neues Wer wagt, gewinnt!, Wenn Bullen brüten oder so? Und darf man jeden verhaften oder kann man nur telefonieren? (macht sich über ihn lustig) Achtung, Achtung, der Eiserne Vorhang schmilzt, Achtung, Achtung, schicken Sie sofort eine Kompanie Klempner! Oder ist er nur zur Kontrolle da … der Genosse?!“
INSPEKTEUR: „Nicht Sie sind es, die fragt, ich bin der Inspekteur! Erstatten Sie Meldung, haben Sie unseren Mann?! Und sag nicht Sie zu mir, wir sind nicht zu Hause! Nur keine Mätzchen! Du hast Meldung zu erstatten, fertig … Du bist Rockerin, ich Schaffner. (laut) Was soll das heißen, dass Sie mir Ihre Fahrkarte nicht geben? Wollen Sie, dass ich die Polizei rufe?“
SIE (zieht die Fahrkarte aus ihrer Gesäßtasche, gestikuliert heftig, redet aber leise):„Ich bin an ihm dran, du Armleuchter, aber so etwas darf man nicht überstürzen, sonst fliegt einem das Vögelchen weg und dann ist es aus, basta … Erst muss das Vertrauen gewachsen sein. Oder willst du etwa, dass ich mit gebrochenem Genick auf den Schienen lande wie dein letztes Dummerchen?“
INSPEKTEUR (laut): „Wo sind Sie mit dieser Karte zugestiegen? (leise) Du wirst diesen Fehler nicht machen! Du bist um Klassen besser, vergleich dich bloß nicht mit so einer blutigen Anfängerin … (laut) Die gilt nur für den Schnellzug!“
SIE (laut): „Aber sicher doch für den Schnellzug! Ich will ja nicht an jedem Kuhfladen halten! (leise) Diese kleine, blutige Anfängerin war zehn Jahre älter als ich und wollte zu ihrer Familie nach drüben …“
INSPEKTEUR (laut): „Das kann jeder sagen! (leise) Mach bloß nicht einen auf Tränendrüse, entweder du besorgst die Ware oder du sitzt deine sieben Jahre ab. Sonst noch was?!“
SIE (laut): „Ich hab sogar Zuschlag gezahlt, verstanden, mein Guter?! (leise) In seiner Tasche ist nichts, Bücher, Papiere, alles ist dermaßen unschuldig! Der Typ muss echt ein großer Profi sein, wenn er wirklich der Kleine Prinz ist.“
INSPEKTEUR: „Nichts ist, was es scheint … (versonnen) Vor allem, wenn wir gar nicht wissen, wie es aussieht.“
SIE (laut): „Für was halten Sie mich eigentlich, Opa, für Rothschild? (besonnen, leise) Ich hab schon geträumt, dass der Tod nach Fahrplan kommt, aber dass du der Schaffner bist, Genosse Major?! Das ist ein Alptraum, den nicht einmal ich …“
INSPEKTEUR (laut): „Dann müssen Sie erhöhtes Beförderungsentgelt zahlen! (leise) Du solltest jetzt mit beiden Beinen auf der Erde stehen, Genossin … das heißt: zwischen den Schienen … hähä … (Er beginnt ein Ersatzkartenformular auszufüllen.) Eine Abmachung ist eine Abmachung … auch in der Unterwelt … ausgerechnet dir muss ich das erklären?!“
SIE: „Soll ich mich wegen ein paar Gramm Gras umlegen lassen?“
INSPEKTEUR (stellt sich vor sie): „Hast du eine bessere Idee?“
SIE: „Woran denken Sie?“
INSPEKTEUR: „Ich habe doch gesagt, du sollst mich nicht siezen! Wir müssen arbeiten, bloß keine Späßchen! Du bist eine gute Arbeitskraft, Genossin, die schöne Zukunft, das Wochenendhaus … Versau dir das nicht … Denk an die schöne Zukunft!“
SIE: „Du könntest auch großzügiger sein … Schließlich trage ich meine Haut zu Markte …“
INSPEKTEUR: „Willst du Prozente?“
SIE: „Nur etwas Startkapital … damit ich auf die Beine komme …“
INSPEKTEUR: „Soll ich das für einen plumpen Versuch halten, für einen zarten Hinweis oder etwa für grobe Erpressung?“
SIE: „Hab ich denn die Wahl? … Ach was, in der Lage bin ich nicht.“
INSPEKTEUR: „Wenn du Geld brauchst – im Gefängnis wirst du dir schon noch welches verdienen, mit dieser Karosserie kriegst du schnell zusammen, was du für Zigaretten brauchst. (laut) Mich als Nazi beschimpfen, du Milchgesicht! Nicht ich hab ein Totenkopftattoo auf dem Arsch!“
SIE: „Genosse Major, ich habe keine Tätowierung, machen Sie sich da mal keine Hoffnungen! … Da schon lieber das Gefängnis als diese Zwickmühle, dort ändern sich die Spielregeln wenigstens nicht von Minute zu Minute.“
INSPEKTEUR: „Die Regeln nicht, aber die Stellung schon, so wie du die Beine breit machst. Ausgeschlossen, dass die dich mit diesem Hintern links liegen lassen. Nicht eine Woche würdest du es dort aushalten, Liebste! Da krallt dich eine Aufseherin als Zimmerhäschen, du weißt schon, so eine hünenhafte DDR-Brunhilde, die in jeder Lebenslage das hohe C schmettert. Die vernascht dich dann zum Geburtstag. Und du kommst ins große Buch des Lebens! Aber mit Löschpapier, Schätzchen! Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein! Solche wie du gehen im Knast vor die Hunde. Wäre also besser, du kneifst die Arschbacken zusammen und gibst dein Bestes. Für dich! Für die Heimat! (pathetisch) Es geht um die Nation, vergiss das nicht! Feindliche Unterwanderung aus dem Westen dürfen wir in unserem Friedenslager nicht dulden. Sobald wir das Zeug haben, schnappen wir sie.“
SIE: „Sie? Hast du nicht gesagt, er arbeitet alleine?“
INSPEKTEUR: „Das habe ich doch bildlich gemeint, wir schnappen uns jeden, der unsere Volksdemokratie bedroht.“
SIE: „Und verdienen auch daran.“
INSPEKTEUR: „Das ist doch nur eine Umverteilung der Ressourcen. Die Abteilung verfügt nicht über genug Geld. Zur Verbrechensbekämpfung sind aber moderne Mittel nötig.“
SIE: „Auto, Wochenendhaus …“
INSPEKTEUR: „Wir garantieren unseren Mitarbeitern angemessene Lebensumstände. Für den Wettlauf gegen den Westen müssen wir in jeder Hinsicht gerüstet sein. Wir schleusen uns unbemerkt ein, und wenn er am wenigsten damit rechnet, reißen wir ihm das Herz raus.“ (zerreißt die Karte)
SIE: „Bravo, Genosse Inspektor. Am Ende muss ich noch wegen dir aussteigen. Woher weißt du überhaupt, dass der große Fisch ausgerechnet in diesem Zug sitzt?“
INSPEKTEUR: „Die Informantin ist hundertpro. Sie kann es sich nicht leisten, sich zu irren.“
SIE: „Habt ihr wieder eine erwischt?“
INSPEKTEUR: „Wir mussten sie nicht erwischen, ihr Kind ist bei uns.“
SIE: „Genosse Major … Könnte da nicht der Eindruck entstehen, dass eigentlich wir die Verbrecher sind?“
INSPEKTEUR: „Die Kriminalität kommt aus dem Westen. Daran haben wir uns noch nicht gewöhnt. Wir müssen uns ihre Methoden aneignen, um ihnen wirksam entgegentreten zu können.“
SIE. „Und wer tritt uns entgegen …? (korrigiert sich) Ich meine, wie oft haben wir bis jetzt zugeschlagen?“
INSPEKTEUR: „In unserem Land gibt es keine Drogen, verstanden!? Vergiss alles, was du gehört hast, und befolge den Rat des guten alten Schaffners: Die Erinnerung ist schlimmer als Drogen – wer sich erinnert, lebt nie sicher … (laut) Du wirst schon sehen, wenn wir erst an der Grenze sind, du … komischer Vogel!
SIE (laut): Na, und wer lebt sicher, wenn ich fragen darf? Hallo, ist hier jemand, der das Gefühl hat, sicher zu leben!? Sie da, Sie Betonkopf! Ist Ihr Leben sicher? Ehrlich, haben Sie das Gefühl!? He, Opa, Sie meine ich!“
INSPEKTEUR (beschwichtigt sie): „Lassen wir das Theater! Halte du die Augen offen, Genossin, wir haben dich im Visier! Am Ende der Reise müssen wir jemanden einsperren. Die Statistik muss stimmen. Das hängt nicht von uns ab. Im großen Drehbuch der Weltgeschichte steht alles für fünf Jahre im Voraus geschrieben. (Er wirft einen Blick auf seine Rolex.) Hoppla, ich muss gehen, ich bin spät dran.“
SIE: „Aber wenn der Kleine Prinz ins Netz geht, bin ich wieder ein unbeschriebenes Blatt, alles vorbei und vergessen, oder?! Dann krieg ich doch totale Amnestie …“
INSPEKTEUR (entfernt sich): „Fahrausweise bitte zur Kontrolle bereithalten!“ (das Geräusch des fahrenden Zuges: tfütfütfütfü-tfütfütfütfü …)
SIE: „Alles vorbei und vergessen, verstanden! Und ich muss nicht mehr nach eurer Pfeife tanzen! Keine Gefälligkeiten! … Meine Eltern lasst ihr auch in Ruhe …!“
INSPEKTEUR: „Fahrkartenkontrolle! Die Ausweise bitte …!“ (der Zug: tfütfütfütfü-tfütfütfütfü …)
SIE (brüllt): „Fickt euch doch mit eurer Lochzange, Scheißfaschisten! Glaubt ihr, mit der Armbinde könnt ihr euch alles erlauben?! …“ (der Zug: tfütfütfütfü-tfütfütfütfü …)



Juni 2005, PÉTER ZILAHY (Ungarn)
Aus dem Ungarischen von Agnes Relle


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Jänner 2007
> Link: Peter Zilhay > Link: REPORT online- > Link: Literaturhaus Niederösterreich-