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Seit 1992 lebe ich als Architekt in Wien. Die persönliche Bukarester Vergangenheit war für mich schon lange ein abgeschlossenes Kapitel, sie musste es auch sein. Doch die letzte Reise in meine Heimatstadt belehrte mich eines Besseren. Fragen tauchten wieder auf, die ich mir nicht mehr stellen wollte: Was ist Bukarest? Was ist seit den monströsen achtziger Jahren mit der Stadt passiert? Eine Erzählung über die Erinnerung einer verlorenen Generation. Von Horia Marinescu.

Bukarest: Die gefeierte Erzählung und die unterdrückte Realität

Bukarest hat keine wirkliche Altstadt im Sinne von Wien, keinen „Ring“ und keine ehemalige Burg. Es ist am ehesten ein Patchwork von zusammengewachsenen Strukturen, eine Collage aus historischen Fragmenten, die scheinbar eine zentrifugale Einheit bilden. Sein lokales Spezifikum ist kein eigener „Stil“, sondern – in Vorwegnahme des postmodernen Eklektizismus – eine Art Jules-Verne-Maschine, die seit 1850 westliche Strömungen in sich aufnimmt, um sie auf eine eigene, unverwechselbare Art und Weise miteinander zu verschmelzen. Diese Stadt wurde seit den 1880er Jahren so oft als Ort der poetischen Kontraste gesehen, der heiteren und lebendigen Nebeneinanderstellung von Land und Stadt, von europäischen Cafés und zeitlos-romantischen Kleingärten. Doch in Wahrheit verbirgt diese große „Dichtung“ namens Bukarest eine unterdrückte Realität.

Bukarest, 1981. Durch einen Bauzaun blicke ich in eine surreal riesige Grube. Sie ist so tief, dass die LKWs, die das ausgehobene Erdreich über unzählige Rampen abtransportieren, wie winzige Spielzeugautos aussehen und kurz über die Tatsache hinwegtäuschen, was hier wirklich vor sich geht. Diese Erinnerung sitzt tief in mir, so tief wie die Grube damals. Drei Jahre später musste auch das Heim meiner Familie dem „Haus des Volkes“ weichen und wurde – wie die Häuser von 30.000 anderen Familien in der Umgebung – abgerissen. Im April 1984 besuchte ich das Viertel nochmals. Da waren schon alle ausgezogen. Die Häuser standen, halb abgerissen und ausgeplündert, wie Kadaver da und ich bekam die Verbrechen einer ganzen Epoche (wären sie auch nur kulturell gewesen!) im wortwörtlichen Sinne zu fühlen.

Bukarest, 2005. Zum ersten Mal trete ich hinter die Umzäunung des „Hauses des Volkes“, sehe Details, die ich nur aus weiter Entfernung kannte und die mich unvermittelt an eine Zeit erinnern, die ich längst hinter mir gelassen glaubte. Ein unheimlicher Geist scheint der klassischen Ornamentik des Hauses mit seinen steinernen Girlanden innezuwohnen. Unser Haus musste der distanzierten Leere weichen, die immer noch rund um den Palast, den Ceausescu nie bewohnt hat, existiert. Das brachliegende Feld inmitten der Stadt zeugt als letztes Zeichen vom Preis einer verlorenen Generation.

Ein Blick zurück: Das Regime unter Nicolae Ceausescu erlag in den achtziger Jahren einer progressiven Koreanisierung. Nachdem der Diktator Anfang der siebziger Jahre China und Korea besucht hatte, kam er mit radikalen Ideen und Größenwahn zurück, der sich auch architektonisch in der Stadt manifestieren sollte: 1981 wurde definitiv mit der Errichtung des „Hauses des Volkes“ begonnen, das eigentlich Diktatorpalast und Regierungssitz sein sollte, und mit dem Bau eines großen Boulevards davor, der nichts anderes darbot als ein Palladianisches Bühnenbild und das Postkartenpanorama für den Palast. Dieser Palast, zum damaligen Zeitpunkt das größte europäische Bauwerk, stellt eines der absurdesten „sozialistisch-postmodernen“ Ensembles der Welt dar. Er knüpft aber auch an einem lokalen Geist der exaltierten und wild wuchernden Formen an. Um der absonderlichen Geschichte des Palastes ein neues Kapitel hinzuzufügen, ist nach der Wende das Parlament des demokratischen Rumäniens darin eingezogen. Das 2004 ebenfalls dort eröffnete Museum Zeitgenössischer Kunst (MNAC) stellt einen ersten Versuch dar, die Humorlosigkeit dieses Hauses zu sprengen und ihm neue Inhalte zu geben.

Als Cezar Lazarescu, der Chefarchitekt der Stadt, Ceausescu bat, ihm Beispiele seiner stilistischen Vorlieben zu geben, wählte dieser daraufhin bekannte historistische Gebäude, die ähnlich der Wiener Ringstraße von einer bürgerlichen Gesellschaft geprägt waren. Das Architektenteam (um die 700 Leute, geleitet von Anca Petrescu) kam so auf die Idee, die Repräsentationsgelüste von Ceausescu durch einen Trick mit seinem eigenen Traum von großartigen Bauten zu verbinden. Sie schlugen ein Projekt im damals aktuellen Stil des „Postmodernismus“ vor. Man hoffte so, mit einem praktisch unlimitierten Budget Œuvres im Stil der damaligen avantgardistischen europäischen Architektur zu schaffen. Die Ironie der Postmoderne wurde bei diesem Trick durch eine andere ersetzt: Der Sozialismus bediente sich nun genau derjenigen Symbole, die er zuvor jahrzehntelang als „bürgerliche Dekadenz“ angeprangert hatte. Die Diktatur schuf sich mit der Errichtung des Boulevards ein eigenes Universum, das sich von der wirklichen Stadt und Geschichte abwendet und sie durch die davor gestellte „Mauer aus Wohnblöcken“ verneint, als Zeichen einer rückwärts gewandten sozialistischen Utopie. So radikal die Achse von Ceausescu geplant war: Als „Boulevard des Sieges des Sozialismus“ war sie auch gleichzeitig die exaltierte Idee der postmodernen Fassade, des Bühnenbildes, das vorgaukelt, was es nicht ist.

Nach 1990 gewann das Organische gegenüber dem Geplanten deutlich an Einfluss. Der „Sieg des Sozialismus“ wurde kurzerhand von den neuen ausländischen Bankniederlassungen zum „Sieg des Kapitalismus“ umgewandelt. Andererseits zeugen die neuen Bürotürme wie jener der bereits in Konkurs gegangenen Bancorex Bank im historischen Zentrum Bukarests oder der in diesem Jahr eröffnete Turm am Platz Charles de Gaulle von derselben Nonchalance, mit der die Bukarester Architekten bereit sind, absurde Standorte für Hochhäuser theoretisch und formal zu begründen, dem Bauwahn zuliebe. So wie auch in der Zwischenkriegszeit gibt es keine Einigkeit in der Kultur dieser Stadt über eine zu respektierende Tradition, ganz zu schweigen vom kompletten Fehlen einer Kontinuität der Bauordnung oder Flächenwidmung! Um ein Zitat zu verwenden, das ursprünglich auf Berlin gemünzt wurde: Bukarest scheint „nie etwas zu sein, immer etwas zu werden“. Im besten Falle ist Bukarest eine Erzählung mit vielen Strängen. Es existiert nur durch ein ständiges Zustandekommen einer komplizierten fraktalen Formel. So wäre auch Paris geblieben, wäre es nicht durch den Baron Haussmann zu einem Symbol der modernen Welt umgebildet worden. Bukarest erzählt. Es erzählt – so wie die Maghrebinischen Geschichten von Gregor von Rezzori. Diese Geschichten verzweigen sich, ausgehend vom Stamm einer Rahmenhandlung, in unzählige Nebenerzählungen. Ja, sie bestehen fast nur aus solchen. Kaum gibt es zwei Sätze eines Dialogs, wird dieser mit „Das erinnert mich an die Geschichte mit …“ unterbrochen und es folgt eine lange Parabel. Kaum wird diese wieder geschlossen, eröffnet sich eine neue. Die erzählerischen Klammern nehmen kein Ende. So ist auch Bukarest: Spaziert man auf einer der Hauptstraßen, öffnet sich bald eine kleine Seitengasse mit schattigen Gärten und Fin-de-siècle-Flair oder mit verfallenen Häusern und Scharen von spielenden, armen Kindern und südamerikanischem Favela-Flair. Kaum hineingegangen, trifft man dort auf ein neues urbanes Ereignis, eine weitere Erzählung hebt an, sinnlos wie sinnlich zugleich.

Im Laufe der Zeit wurden mehrmals Versuche gemacht, dieses nicht-endende Erzählen der Stadt in einer einheitlichen großen Idee zu kanalisieren, zu stilisieren und zu deuten. So wurde die anfangs absolut organische Stadtstruktur auf einem Grundnetz von kleinen Kirchen gesponnen, mehrmals durch Achsen geschnitten und „systematisiert“. Ein System, das von einer Nord-Süd- und einer Ost-West-Achse geprägt war, gab der Stadt um 1880 den ersten Charakterzug eines petit Paris. Die Durchführung dieser Einschnitte war aber von Bukarester (das bedeutet hier: „balkanischen“) Zuständen begleitet. Dies ließ das typische Bild der Bukarester Moderne entstehen: Prachtboulevards im Haussmann’schen Stil werden durch eine organische Stadtstruktur geschlagen, die Fronten sind aber überall offen und durchsiebt, keineswegs geschlossene Tunnels. Die alten Gassen werden sichtbar mit den Achsen verbunden, die Übergänge werden durch die neu gebauten Eckhäuser inszeniert und unterstrichen, der Boulevard wird zu einer lebendigen Mischung aus großer Geste und wuchernder Ornamentik. Selbst die Ornamente hassende Moderne, die die Stadt ab 1920 wie kaum woanders dominiert, ist in Bukarest nur ein zusätzlicher Anlass zum Ornament. Eigentlich ist in Bukarest alles Ornament. Man jammert zwar über „Formen ohne Hintergrund“ (forme fara fond) – doch wie sollten die Formen einen Inhalt bekommen, wenn diese Stadt so ein lustig-krankhaftes Gefallen am Erzählen hat wie eine der Figuren Gregor von Rezzoris. Eine Mischung aus Lockerheit und Individualismus verleiht der Stadt ein paradoxes Dasein zwischen dieser Erzählstruktur und der unterdrückten Realität.

Diese unterdrückte Realität ist offensichtlich – jedenfalls für den Ausländer, der die Stadt besucht – aber unsichtbar für all diejenigen, die Bukarest auch nur im Geringsten mögen und daher bereit sind, dessen großer und oft falscher Erzählung zuzuhören. Meine Freunde sind seit Langem auf Sujets wie Straßenkinder, streunende Hunde oder Prostitution allergisch. Doch es sind auch viele andere Probleme, die keiner mehr sehen will und auch niemand bereit ist zu lösen. Die neue Wirtschaft boomt, die sozial Schwachen bleiben zurück, verdrängt, nicht unterstützt. Und es geht nicht um einen winzigen Anteil der Gesellschaft, sondern um deren Mehrheit. Die Stadtverwaltung kümmert sich um oberflächliche Probleme (wie die Befreiung der Stadt von Kiosken), ist aber wenig interessiert, die strukturellen Probleme zu lösen. Das Thema „Oberfläche“ scheint seit der Achse von Ceausescu einen Platz in den Denkweisen gefunden zu haben. Doch in ihrer Dynamik hat die Stadt auch etwas Optimistisches. Das Verdrängte hat nie ein tragisches Gewicht. Auch wenn es das haben müsste.



erschienen im Magazin, Issue8
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