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Am Lago Maggiore, in einem kleinen Dorf, Vira Gambarogno, nordöstlich gelegen, und teils in Ascona, findet bis zum 31. Dezember 2003 die Ausstellung "G 2003" statt. Das von Harald Szeemann kuratierte Projekt, eine Veranstaltung der Associazione Gambarogno Arte, setzt eine Skulpturen-Reihe fort, die der Bildhauer Edgardo Ratti 1968 gestartet hatte.

Szeemann entwickelte aus der Beobachtung, dass die Bewohner alljährlich zur Weihnachtszeit einen friedlichen Häuser-Wettkampf um die schönste Krippe pflegen, ein Konzept bildnerischer Maßarbeiten. Die von ihm eingeladenen Künstler wurden gebeten, "mehr auf Durchdringung" bedacht zu sein, so dass die "Aufstellung von Fremdkörpern" (Szeemann) die Ausnahme bleibt. Diese behutsamen Eingriffe in die dörfliche Struktur an der Seepromenade und in den engen Gässchen, die zum See führen, haben "G 2003" zu einem aufregenden Balanceakt werden lassen, den man sehen muss.

Neben international bekannten Malern und Bildhauern wie Tony Cragg, Günther Förg, Mario Merz, Ulrich Rückriem, Richard Serra, Serge Spitzer und Niele Toroni sind Künstler vertreten, die prozesshaft arbeiten und den Kunstbegriff erweitern. So holt der Italiener Romano Bertuzzi die Kuh zurück ins Dorf und produziert Käse, und der Iraker Al Fadhil backt Brot. Andere setzen auf die nur schwer verdauliche skulpturale Geste: Der Schweizer Christoph Büchel will beispielsweise eine Kapelle abtragen und die nummerierten Teile ans Nationalmuseum in Bagdad schicken.
Von Harald Szeemann.

G 2003

Harald Szeemann bringt die Kuh ins Dorf zurück

G2003- Ein Rundgang - von Harald Szeemann

Vorgeschichte

Vira Gambarogno ist ein kleines Dorf am Lago Maggiore. Der Bildhauer Edgardo Ratti hatte 1968 die Idee in seinem Dorf eine Skulpturenausstellung zu organisieren, in den engen Gässchen die zum See herunterführen und entlang der Seepromenade. Dieser ersten Veranstaltung mit dem Titel „Internationale Ausstellung für Aussenskulptur“ gingen einige lokale Initiativen voraus (Literaturtage, Musikfeste, Werkstätten für Malerei, Fresko und Photographie mit jeweiligen Preisverleihungen). Nach der ersten Veranstaltung von 1968 gab es weitere in den Jahren 1976, 1982, 1990 und 1999. Die Preisgewinner von 1968 bestritten die Edition von 1993 (Bernhard Luginbühl, Albert Rouillier, Kurt Laurenz Metzler). 1976 wurden 84 Bildhauer eingeladen, vor allem schweizerische und italienische aller Generationen, 1982 gab es eine Ausweitung in die Kunst der Performance (Roman Signer, Ruedi Schill und Peter Trachsel). Die Teilnehmerzahl stieg auf 114 Künstler. „Steinskulpturen“ war das Thema für 1990 (Raffael Benazzi, Gottfried Honegger, Josef Wyss, Pietro Salmoni, Piero Travaglini). 1999 nahmen Künstler wie Arman (Frankreich), Azuma (Japan), Antonio Paradiso und Italo Scanga (Italien), Daniel Spoerri und Not Vital (Schweiz) teil. Im Jahre 2000 kontaktierten Fernando Gaja, President der neugegründeten „Associazione Gambarogno Arte“ und Edgardo Ratti Harald Szeemann und baten ihn, die Selektion für die Ausgabe von G3 (Gambarogno Arte 2003) vorzunehmen.


G3 / Das Projekt

Vira Gambarogno ist noch ein Dorf mit eigenem Leben. So wetteifern in der Weihnachtszeit die Bewohner miteinander, indem jedes Haus eine Krippe gestaltet. Die Besucher kommen von weit her, um diesen friedlichen Wettbewerb zu sehen.

Dieses Erlebnis gab die Idee zur diesjährigen Ausstellung. Die Künstler sollten gewissermassen aus der Situation heraus ihre Beiträge vorschlagen und unaufdringlich auf mannigfache Bedingungen
Rücksicht nehmen (Hausbesitzer, Parkplätze, Badestrand, Schiffahrt, Passagen u. a. m.), also mehr auf Durchdringung bedacht sein als auf die Ausstellung von Fremdkörpern. Gleichwohl sollten alle Formen skulpturaler Intervention da sein, was die Berücksichtigung von Künstlern verschiedener Generationen impliziert. Während der Vorbereitungen kam die Anfrage aus Ascona – vom gegenüberliegenden Ufer – ebenfalls an G3 teilzunehmen.

Der Skulpturensommer – Themen, Objekte, Wege von G2003
in Vira und Ascona


Wie bereits bekannt, hat die Gemeinde von Ascona den Wunsch geäussert, sich mit Vira zu verbinden. Drei Künstler stellen in beiden Orten aus und stellen so mit ihren Werken eine direkte spirituelle Verbindung her. Am gewichtigsten ist der Beitrag des englischen Bildhauers Tony Cragg (1949), der in Ascona vier Skulpturen zeigt: auf der Piazza del Municipio vor der Pfarrkirche S. Pietro e Paolo steht die gefässförmige Sandsteinsäule (Not yet titled, 2003), auf der Mole unter dem Cincilla die Steinskulptur „Bulb“ (2000) eine Riesenglühbirne mit den Massen 330x180x180 cm, die den nichtexistenten Leuchtturm paraphrasiert, auf dem ehemaligen Parkplatz unter den Platanen steht „Untitled“ (2000) aus rotem Stein aus diversen Ellipsen, die beim Umgehen stets neue Profilformen ergeben und beim Debarcadero die Stahlsäule „Not yet titled“ (2003), auch sie aufgebaut aus Profilansichten, die sich ständig wandeln.

Am Debarcadero sind die Fahnen von Niele Toroni (1937) dem in Paris lebenden, international bekanntesten Tessiner Künstler gehängt. Radikal und stets realitätsverändernd wendet er seine Methode der „Impronte di pennello n. 50 a intervalli regolari (30 cm)“, die er seit 1967 lebt. „Metodo e non sistema, la ripetizione della pennellata è garante delle possibili infinite variazioni del lavoro/pittura” (Béatrice Parent, Cat. Biennale di Venezia 2001). Es ist die perfekte Symbiose der Repetition von scheinbar Gleichem und der Öffnung nach dem Ungleichen, ist doch jeder Pinselabdruck individuell gesetzt.

Die drei Künstler sind in Vira ebenfalls vertreten. Den Schiffsreisenden begrüssen in Vira die Fahnen von Niele Toroni, auf dem Vorplatz der Kirche stehen zwei Skulpturen aus Bronze von Tony Cragg: „Cast Glances“ (2002: 240x190x160 cm) und die zweiteilige Figuration „Not yet titled“ (Fat and Slim – Dick und Dünn, 2003, 300x80x60 und 240x135x150 cm) beide mit den versetzten ungleichen Ellipsen, die menschliche Profile bilden. Cragg ist ein genialer Verwandler und Abwandler von Bekanntem, das über das Skulpturale zu einer neugesehenen Realität wird. Eine Skulptur von Marisa Merz „Testa“ (1983) aus Argilla policroma befindet sich in der Kapelle von Vira. Mit dieser Skulptur hat die Künstlerin an der Biennale von Venedig 2001 den Goldenen Löwen erhalten.

Vira ist der Hauptausstellungsort, die geballte Ladung. Der Schiffsreisende wird die Ausstellung zum Dorf ansteigend sich erarbeiten, der Autofahrer von der Hauptstrasse nach Luino aus. Begleiten wir letzteren. Bevor er in die Gässchen biegt, sollte er sich in einem kleinen Innenhof beim Ristorante Rodolfo die Hände waschen, ein Ritual, das angesichts des Waschtroges in Tessiner Umgebung, etwas Absurdes hat. Die Entfremdung ist perfekt dank der Skulptur von Fabrice Gygi, dem Künstler aus Genf (1965). Seine Installation, die bereits im Hof des P.S.1 in New York ausgestellt war, hat den Titel: „Clean Point“ (1998) und die Form eines ambulanten Imbiss-Standes. Anstatt Eis gibt es Seife und Wasser, Handtücher, natürlich ein Inoxbecken und einen Abfallsack. Hygiene als Thema, Einseifen der Hände als skulpturale Geste.

Das Eindringen in den Dorfkern erfolgt über ein enges Gässchen und führt der Fassade der Casa Cattaneo entlang. An ihr sind zwölf kleine Reliefs angebracht, kleine Metopen (10x15 cm), die „Der Mensch und das Wasser“ zum Thema haben, eine Hommage an die Dorfbewohner am See. Die Künstlerin Eva Marisaldi (1966) aus Bologna hat eine Gipsreliefreihe an der Biennale 2001 ausgestellt. Dort ging es um die Nähe der Körper, um Intimität und den Kontakt. Sie haben den Wunsch ausgelöst, diese feinfühlige Behandlung – lapidar und differenziert zugleich – auch im Kontext einer Gemeinschaft ausserhalb des musealen Betriebs zu zeigen.

In einem Torbogen im Gewirr der Gassen steht die Hommage an den Cellisten Emanuel Feuermann von Royden Rabinowitch (1943). Der Künstler schrieb zu dieser Skulptur:„Die Lektion von Emanuel Feuermann ist Ergebnis der Wunschvorstellungen, die somatischen Eigenschaften eines Körpers in voller Drehung (Manifold-Vielfältiges) in einer halben Drehung festzulegen (Somatische Eigenschaften sind innere Qualitäten, die der Körper wahrnimmt, wenn er sich im Raum bewegt, zum Beispiel „geschlossen“ und „offen“ (Rückseite, Vorderseite), das Haptische, die sinnliche Erfahrung aller Richtungen, der totalen Asymmetrie durch drei Achsen und eines von der Basis verschiedenen Obens). Mit anderen Worten: in einer halben Drehung wollte ich die Gesamtheit der Möglichkeiten einer ganzen Drehung, um klarzumachen, dass sowohl auf der Wand wie auf dem Boden Raum körperlich und örtlich begrenzt und nicht abstrakt und ausgedehnt ist. Hoffnungslos war jede Analyse dieses Problems. Eine Lösung zeichnete sich erst ab, als ich mich auf das Spiel eines Cellisten konzentrierte, die plastischen Elemente der diskreten Fingertechnik, der kontinuierlichen Bogenführung erfuhr, die Teil der Artikulation von Tönen sind. Metaphern wie die Formierung von Streichergruppen als neues Instrument für die neugeschaffenen Räume im 17. Jahrhundert oder die Entwicklung der Cellotechnik mit ihren neuen Freiheiten und den neu zu hörenden Klangreinheiten flankierten die Anstrengung im Jahre 1974, als sich das Problem erstmals stellte, bis heute 1986, als es gelöst wurde (1986).“„9th Lesson of Emanuel Feuermann” (1987, 180x180x90 cm) ist eine zweiteilige Stahlskulptur, ein Teil ist gewalzt, der andere geformt und inspiriert sich an der Form des Violoncellos. Emanuel Feuermann war ein amerikanischer Violoncellist österreichischer Herkunft (1902 – 1942).

Die zweite Unterführung ist mit einer Installation aus Teppichen des Schweizer Künstlers Lori Hersberger (1964) angereichert. Sein Hauptwerk ist an der zum See gelegenen Kirchvorplatzmauer zu finden. Deshalb zu seiner Kunst später mehr.

Nach dieser Passage gilt es rechts zu gehen. Zurück im Gässchen findet er einen Kanalisationsdeckel, der angehoben ist durch ein Rohr voller Muscheln, wie wenn unter Vira plötzlich eine maritime Unterwelt an die Oberfläche drängte. Die skulpturale Intervention stammt vom Künstler Sislej Xhafa (1970, gebürtig aus Peje im Kosovo, heute in New York lebend). Sislej Xhafa liebt es, Bestehendes zu hinterfragen. So hat er kürzlich in Klosterneuburg im Rahmen der Ausstellung „Blut & Honig / Zukunft ist am Balkan“ dem gut bürgerlichen Wiener Würstelstand sein eigenes Freiluftlokal „PARADISO“ zur Seite gestellt: Spezialität „Cevapcici“, hergestellt von arbeitslosen Landsleuten.

Der Kirchvorplatz war noch bei jeder Ausstellung das Herz, das Zentrum. Vom Sagrato aus muss der Besucher den Punkt finden, von dem aus die dynamische orangefarbene Linienführung von Felice Varini (1952), dem in Paris lebenden Tessiner Künstler, sich zur Idealzeichnung fügt. Fragmente an fünf Fassaden und Kirchenmauer erhalten plötzlich einen Sinn durch die optische Einfügung ins Ganze.

In der mit Blick auf den See steht ein kleiner Iglu des Doyens der Arte povera Mario Merz (1925, lebt in Turin. Der Iglu ist eine archaische Behausung, eine Art Minimalfläche in Form einer Halbkugel, deren geometrische Form er als Support von Materialien aller Art benutzt – hier ist es Granit. Mario Merz liebt es, Naturgesetze mittels der Fibonacci-Reihe in Verbindung mit Tieren aufzuzeigen: die Regeln der Vermehrung, von Wachstum. Mit dem Iglu evoziert er Geschichte und Gegenwart in lapidare Form.

In den Arkaden des Obergeschosses Unter den Arkaden der Kirche platziert Adrian Paci seine Figur „Home to go“ (2001, 165x90x120 cm, Marmorstaub, Resina, Seil, Ziegel, Holz). Die Skulptur zeigt den Künstler in Lebensgrösse, auf seinem Rücken trägt er ein Ziegeldach. Paci ist mit seiner Familie aus Albanien nach Mailand emigriert. Immer wieder hat er auch in seinen Videos, Zeichnungen, Gemälden, Fotos das Fernweh des Emigrierten, den Wunsch nach Heimat thematisiert.

Von hier aus empfiehlt sich ein Abstecher zur Schiffstation, wie erwähnt mit den Fahnen von Niele Toroni markiert. An der zum See abfallenden Mauer sind drei Werke zu entdecken. Links von der Weide sind der Mauer vorgelagert zwei Marmorhäuser von Wolfgang Laib (1950). Der Künstler stellt sie im Schutz der Museen als Bodenskulpturen aus, als Reishäuser, als Form die er bereichert mit Häufchen des Grundnahrungsmittels des Orients und mit dem von ihm gesammelten Blütenstaub. Das einfache Langhaus erhält so eine sakrale Dimension.

Drei Künstler hat das Museo Comunale di Ascona in raumbezogenen Präsentationen in den Jahren 1990 – 1992 in Einzelausstellungen vorgestellt: Mario Merz, Niele Toroni und Wolfgang Laib und mit
ihnen den Steinbildhauer Ettore Jelmorini aus Cavigliano. In G2003 führen wir nun diese frühe Präsenz in der Region weiter.

Rechts von der Weide und vom Schiff aus von weitem zu sehen hängt Lori Hersberger (1964) eine Komposition aus farbigen Teppichen an die Mauer des Sagrato. An der Biennale Venedig 1999 bildete das Teppichfloss von Lori Hersberger einen der Höhepunkte der Ausstellung im Arsenale, im Schutz der Gaggiandre. „Non dovrebbe stupire che le installazioni di Hersberger rivelino una forte tendenza autobiografica. I tappeti ad esempio sono parti della sua personale iconografia familiare: il padre commerciava in rari kilim dell’alto Atlante” (Christoph Doswald in cat. Biennale di Venezia 1999).

I servizi della Navigazione, specie di grotta sotto il sagrato, auch sie sind in den Ausstellungsparcours einbezogen, damit die Besucher von Vira mit einem Hauch von Luxus verwöhnt werden. Ivana Falconi (1970), eine junge Tessiner Künstlerin aus Cadenazzo, hat die Graffitti entfernen lassen. Nun erstrahlt der ganzen Vorraum in Goldfarbe als Hintergrund für 150 Top Models in Regalen, kunstvoll verzierten Flaschen. Kunst ist sehr oft Motor für Verschönerung des Alltags und des Ambiente.

Wir kehren auf den Kirchplatz zurück, stellen uns auf den Idealpunkt für Felice Varinis Raumzeichnung, gucken unter die Arkaden und zum Dachträger von Adrian Paci hoch, gehen an den Skulpturen vor der Kirche von Tony Cragg vorbei und sehen unter den Arkaden der andern Kirchseite sechs fröhliche, heitere Fahnen, durchsichtiges Plastik mit gelben Fransen an Bambusstangen von Ingeborg Lüscher (1936, seit 1967 in Tegna ansässig). Alle Versuche über die Flatterqualität verliefen positiv, und die Künstlerin hat ihr strahlendes Gemüt an die Fahnen delegiert, um das graue Gemäuer mit der Farbe der Sonne zu beleben.

Hinter der Kirche hat der Bündner Costa Vece (1969) einen Teppich und eine Jacke so platziert, leicht unter die Kirche geschoben, dass man meinen könnte der Kirchenbau wäre aus einer späteren
Bauperiode und das Darunterliegende aus einer früheren.

Nun geht es wieder der Hauptstrasse zu. Am Wege finden wir zwei imposante „Halbfiguren“ von Hans Josephsohn, dem 1920 geborenen Doyen der Ausstellung. „Die Wurzeln seiner Kunst reichen in archaisch mythische Zeiträume. Jüngere Kunstschaffende bewundern Josephsohns rigorose Unbekümmertheit der eigenen Gegenwart gegenüber. Sie spüren aber auch, dass er mit seiner prozesshaften Verfahrensweise und mit seiner der menschlichen Figur verpflichteten Motivwahl höchst brisante Themen aufgreift. Immer noch wachsen seine Halbfiguren, seine Köpfe und Reliefs in den Raum, nehmen zu an Gewicht und Ausdruck und versinken mit ihrem Blick in sich selbst.“ (Angelika Affentranger-Kirchrath, in: NZZ, 2./3.11.2002) Es sind beeindruckende Bronzeskulpturen, die Hans Josephsohn auf diesen Skulpturenweg mitgegeben hat.

In der Naehe des Iglus von Merz steht ein Bronzerelief von Günther Förg (1952). Mit seinen Acryl- und Bleibildern, mit den grossformatigen Fotografien des Pavillons von Mies van der Rohe in Barcelona, der Villa Malaparte auf Capri, der Bauten von Giuseppe Terragni in Como hat Förg der Kunst einen neuen Blick auf Tektonik eröffnet. Die Bronzen sind Tafeln der Erinnerung an den Malakt und Zeugen für verlorene Grösse.

Im ersten Rustico dem man begegnet, wird Serge Spitzer (1951) aktiv. Man steigt die wenigen Stufen empor –ein Geländer ist montiert- und sieht in einem Raum mit Holzboden und wuchtigen Deckenbalken dem merkwürdigen Energiespiel zweier Ballone zu, die sich gegenseitig beeinflussen: der kleine wird immer grösser und zwingt den grossen sich klein zu machen usw. und so fort. Es ist ein weiteres Realitätsmodell des Künstlers, der hier Luft einsetzt um Verhalten optisch erfahrbar zu machen.

Das verlassene Haus am Platz lässt auch nur einen Einblick von aussen zu: Una Szeemann (1975) hat während eines Aufenthaltes in Los Angeles begonnen einen Film zu drehen mit berühmten Künstlern der Westküste –Paul McCarthy, Jason Rhoades, Udo Kier- die jeweils
historische Figuren des Monte Verità verkörpern: Elisar von Kupffer, Rudolf von Laban, Erich Mühsam. Andere sollen folgen. Es ist eine sehr lebendige Transformation der Versetzung von Lebensreformentwürfen, die gelebt wurden, in die Scheinwelt Hollywoods. Von da der Titel des Trailers „Monte Wood – Holly Verità“ (2003). Der Film wird erst später fertig und in den Künstlervideoräumen des Festivals von Locarno gezeigt.

Ein weiteres, ortspezifisches Video ist in einer engen Schlucht zwischen zwei sich fast berührenden Häusern installiert: „Blow Job“ von Zilla Leutenegger (1968). Der aufreizende Titel gehört zu einer normalen Aktivität: ein roter Ballon wird aufgeblasen bis er platzt und scheint so die Häuser auseinanderzutreiben.

Nun sind es nur ein paar Schritte bis zur Strasse. An ihr sind das Ristorante Rodolfo und die Pizzeria Branca gelegen. In einem leerstehenden Teil des Ristorante Rodolfo werden während der ersten Ausstellungswoche die Kunstkritikerinnen Elfi Kreis (Berlin) und Antje Mayer (Wien) versuchen, dies einmalige Ausstellungsabenteuer der Welt mitzuteilen, über Fax, Email, Telefon und alle Passanten und Besucher können das live sehen und hören. Das „Ufficio pubblico“ („offene Büro“) ist in Zusammenarbeit mit dem Berliner „Büro für Kunst und Öffentlichkeit Lindinger + Schmid“, den Herausgebern der Kunstzeitung (Auflage 200.000) entstanden.

Wir verlassen nun den Dorfkern und gehen in Richtung San Nazzaro. Auf der linken Strassenseite verschönt und verlebendigt Federico Herrero aus Costa Rica (1978) die uniforme Fassade des Centro nautico gegenüber dem Friedhof. Herrero war an der Biennale Venezia 2001 der jüngste teilnehmende Künstler, der bereits in seiner Heimat ähnliche Veränderungen des Ambiente vorgenommen hat, so in der Universität von San José. Ein helles Gelb bildet den Grund für die blau-rot-grünen Explosionen.

Abstieg zum posteggio comunale erschliesst den Blick auf die wuchtige Skulptur von Richard Serra „Double Torus“ (2003,
400x1225x220 cm). Serra ist einer der prägenden Bildhauer unserer Zeit, international bekannt, und es ist für uns eine grosse Freude, seinen neusten Prototyp für gewölbte, wellenförmige, neue Volumina kreierende Skulpturen vorzustellen. Diese Formung ist erst möglich seit das Stahlwerk die U-Bootformungsmaschine aus der Werft von St. Nazaire erworben hat, die bis zu 30 cm dicken Stahl biegen kann. Die erste Gruppe dieser Skulpturen wird 2004 im Novartis Campus in Basel installiert. Die Gemeinde opfert für „Double Torus“ fünf Parkplätze, der Schulplatz war leider für die Serraskulptur zu klein.
Die unsere wird nach Vira an der Biennale von Sevilla gezeigt. Auf einer Wiese hinter dem Friedhof tut sich Erstaunliches, dass eine F-16, ein aufblasbares militärisch verwendetes Dummy sich ausgerechnet hierhin verirrt hat.

Christoph Büchel (1966) ist ein international gefragter Interventionskünstler, der aufrüttelt, der den Betrachter zum Mitakteur macht. Dieses aggressive Flugobjekt (500x1540x1040) ist noch nicht alles. Christoph Büchel hat eine Kapelle gefunden, deren Besitzer sich von ihr trennen will. Der Künstler möchte nun die Kapelle abtragen und die nummerierten Teile ans schwergeschädigte Nationalmuseum in Bagdad senden.

Im Atrium der Schule stellt Daniele Buetti (1955) sein Ambiente „Vernarbungen“ aus. Seit Mitte der neunziger Jahre hat Buetti mit den „Vernarbungen“ von Schönheiten aus Film und Mode, also der Korrektur von „begehrenswerten Körpern“ Aufsehen erregt. In neuerer Zeit hat er mit Lichteffekten, Fotos, Gemaltem, ganze Sehnsuchtsenvironments geschaffen nach dem Motto „Dreams result in more dreams“ in der spielerischen Vereinigung von Banalem und Erhabenem. Diese Installation ist zeitlich bis zum Ende der Schulferien begrenzt. Wir prüfen zur Zeit ihre Übersiedlung in das leerstehende Haus im Dorfkern nach dem Abbau in der Schule.

Alles ist Skulptur, diesem Schrei nach Erweiterung des Kunstbegriffs folgen zwei Künstler. Eine Ausstellung wie diese soll auch Verlorengegangenes wieder zum Leben erwecken. Vor zehn Jahren hat die letzte Kuh Vira verlassen – Milch, Käse, Butter wurden nicht mehr im Dorf selbst hergestellt. Nun kehrt sie dank der Agro-Kultur des italienischen Künstlers Romano Bertuzzi (1956) als Beitrag zur Ausstellung wieder zurück und liefert die Milch für das skulpturale Gebilde Käse, das Bertuzzi im Stall der Sciaronis herstellt. Und gleich daneben baut der Irak-Schweizer Al Fadhil (1955) seinen forno auf,
eine wunderbare Gefässform aus Stroh und Lehm, in dem er arabisches Brot bäckt.

Der Besucher hat nun die Wahl dem Strand entlang oder auf der Hauptstrasse bis zum Fluss Vadina zu gehen. In einem Tempel oder Burgturmähnlichen Mauergeviert kann er in der Tiefe eine Skulptur von Ulrich Rückriem (1938) bewundern, die eigens für diese Situation geschaffen wurde, in dem er alle Masse des Gevierts durch vier teilte und so die Masse der Bodenskulptur erhielt. Es ist ein vierteiliger Block, 10 Tonnen schwer, aus spanischem Rosa Porriño (2003, 70x250x200 cm, kreuzweise in vier Teile gespalten und zur ursprünglichen Form wieder zusammengefügt). Aus einem Ort voll Schutt wird so ein Andachtsort.

Einige Meter weiter sind wie aus dem Erdreich ausgetrieben zwei Stahloberflächen zu sehen. Es sind zwei Skulpturen von Royden Rabinowitch (1943), dem wir bereits die „9th Lesson of Emanuel Feuermann“ verdanken. Es ist eine Hommage diesmal an Stan Laurel und Oliver Hardy in Form von zwei Ellipsen, die einmal in Längsrichtung (Stan) und dann der schmalen Seite (Olie) entlang geformt, gerippt sind („Developed ellipses through minor and major axis“, 2003, 15x200x100 cm und 15x80x180 cm).

Zurück auf der Hauptstrasse geht der Besucher unter der Eisenbahnbrücke hindurch ins Tal der Vadina. Edgardo Ratti hat freundlicherweise seinen Ateliervorplatz für eine Skulptur aus der Welt der Science Fiction zur Verfuegung gestellt: die „Harkonnen“-Möbel von HR Giger (1940). in der Nähe des Wasserfalls ist zudem sein „Biomechanoid“ anzutreffen (2002). Gegen den Wasserfall zu findet der Wanderer somit eine ganze Ausstattung vor. Sie wirkt fremd in dieser Umgebung, diese Sitzgruppe rund um einen Tisch. Sie sind das Werk des Schöpfers des Monsters im Film „Alien“ (1980), für den er den Oscar erhalten hat. Die Welt der Science Fiction und ausserirdischer Riten prägt die Phantasie von HR Giger (1940), der alle Medien in deren Dienst stellt. Für Vira wurde ein Set Möbel aus Spritzbeton neugegossen: ein Harkonnentisch und vier Harkonnenstühle, eine starke surreale Präsenz in friedlicher Umgebung.

Und ein ebenfalls für die Umgebung ungewohntes Objekt schwimmt im Wasserbecken unterhalb des Wasserfalls: eine gelbe Meeresboje, Leuchttonne von beträchtlichen Ausmassen (415x140 cm) des Wasser- und Schiffahrtamtes in Bremerhaven. Dieses zwar in punkto Einsatz im Wasser stimmige Objekt als seltsames Displacement hat sich der Künstler Olaf Nicolai (1962) ausgedacht. Es markiert stolz den Schlusspunkt des Rundganges in Vira.

Ein kurzes Gastspiel vom 20. – 23. Juli ist noch für den Seeparkplatz von Magadino zu melden „Lenin on Tour / Prologo sul Lago Maggiore“ ist die erste Etappe einer Europatour dreier während der Zerschlagung der Mauer im Jahre 1989 von ihren Sockeln gestürzten Monumenten. Auf einem Tieflader reisen die Büsten von Lenin und zweier Genossen durch die Lande. Die Idee stammt vom deutschen Künstler Rudolf Herz (1954). Und wieso gerade am Lago Maggiore? Frau Neugeboren aus Böblingen versicherte uns, dass sie mit Lenin auf dem Monte Verità getanzt habe. So kann Lenin nun vier Tage auf den Ort blicken, an dem er vielleicht für einen Moment vom Ziel seiner Träume –der Revolution in Russland- abgelenkt wurde, noch vor der Errichtung der Sowjetunion, ihrem Zusammenbruch und der Rückkehr zur Bezeichnung Russland.

Ein Initiationsweg mit Besinnlichem, Heiterem, Energetischem, Plastischem, Skulpturalem, Traurigem, Gemaltem, Aufrüttelndem, Historischem und Aktuellem, der diesjährigen G2003.






Lindinger + Schmid, Büro für Kunst und Öffentlichkeit,
Schönhauser Allee 149, D-10435 Berlin, Tel. +49 (0)30 / 44 300 765, F: +49 (0)30-44 300 722, email: G2003@lindinger-schmid.de>
erschienen im Katalog "Prototype - Armaments and Armatures against electronic music"