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Von Jaroslav Rudiš.

Liberec: eine Stadt unter den Wolken

Die nordböhmische Stadt Liberec ist eine besondere Stadt. Wenn man sich ihr auf der Autobahn von Prag aus nähert, taucht als Erstes langsam ein Bergrücken mit dem silbernen Turm eines Fernsehsenders und eines Hotels auf dem Hügel Ještěd auf, der zur Stadt gehört. Im Auto kann man dann eine Stunde lang mutmaßen, wie unten in den Straßen wohl das Wetter ist.

Das gestaltet sich dort nämlich oft ganz anders als im Inneren des Landes. Selbst wenn hinter Prag die Sonne vom Himmel brennt, ist es durchaus möglich, dass es in Liberec regnet. Tut es auch, da können Sie sich fast sicher sein. Liberec mit seinen hunderttausend Einwohnern ist umgeben vom Isergebirge und vom Lausitzer Gebirge, und die Wolken, die von der Nordsee herziehen, sind hier wie in einer Falle gefangen. Der Bergrücken lässt sie nicht weiter ins Landesinnere, und so entlädt sich oft alles hier. Es lohnt sich, zum Spaziergang einen Regenschirm mitzunehmen. Lautet doch ein typischer Liberec-Witz: „Wenn man den Ještěd sehen kann, wird es regnen. Kann man ihn nicht sehen, regnet es schon.“

Die Metropole der Sudeten
Liberec ist nicht nur deshalb eine geheimnisvolle Stadt. Als Junge kam ich gern zu Verwandten auf Besuch hierher, fuhr mit den Straßenbahnen in der Stadt umher und entzifferte alte deutsche Aufschriften auf den abbröckelnden Fassaden. Bahnhof. Postamt. Kaufhaus. Damit tauchten auch Fragen auf: Wo kamen die her? Wo sind die Menschen, die dort wohnten? Die Erwähnung der in der Tschechoslowakei lebenden Deutschen war nämlich bis zum Jahre 1989 tabu. Es wurde nicht über sie gesprochen, und wenn doch, dann stellte man sie als böse Nazis dar.
Liberec, ehemals Reichenberg, war die Vorzeigemetropole der Sudeten, eine wohlhabende Stadt, die vor allem aufgrund der Textil- und Glasindustrie prosperierte, durch die Schönheit der Natur in der Umgebung Touristen anzog und wo auch Tschechen neben Deutschen lebten. Nach dem Krieg wurden fast alle Deutschen aus Liberec vertrieben. Zurück blieben ihre leeren Häuser, viele verfielen, andere überlebten den Sozialismus in recht erbärmlichem Zustand. Ich erinnere mich an die verfallenden Jugendstilhäuser in der Straße „Pražská ulice“, die erst vor ein paar Jahren im letzten Moment bewahrt werden konnten. Die städtische Badeanstalt wartet hingegen immer noch auf ihre Rettung.
Am Stadtrand von Liberec entstanden in den sechziger und siebziger Jahren – ähnlich wie in anderen Städten der ehemaligen Tschechoslowakei – graue Betonsiedlungen für Arbeiter. Eine Wohnung war wie die andere: Sie bot Warmwasser, eine Zentralheizung und eine genaue Vorstellung davon, was der Nachbar gerade machte, weil die Wände der Häuser einfach zu dünn waren. Vielleicht nennt man diese Plattenbauten auch deshalb auf Tschechisch „Hasenställe“. Nun werden sie langsam renoviert und menschlicher gestaltet. Eine Erinnerung an die längst vergangene Zeit stellt auch das wuchtige „Haus der Kultur“ dar, das von den Einwohnern von Liberec wegen seiner eigenartigen langgezogenen Form nur „Sarg“ genannt wird.

Auf dem Weg in die Bibliothek
Dennoch blieben glücklicherweise viele Häuser aus der Vergangenheit stehen und wurden nach 1989 renoviert. Noch immer entzückend ist das Viertel „Lidové sady“ (Volksgärten). Als wäre dort die Zeit stehen geblieben. Verzierte kleine Villen, große gepflegte Gärten und Straßenbahnen, die leise durch die lange Allee fahren.
Auf dem Hauptplatz steht das Rathaus im Neorenaissance-Stil, das nach Plänen des Wiener Architekten Franz Neumann erbaut wurde, mit der Statue des Blechritters Roland, dem Beschützer der Stadtrechte, auf der Spitze. Das Rathaus bildete die Kulisse für mehrere Spielfilme, ebenso der hiesige Bahnhof. Bekannt und nicht zu übersehen sind auch das schlanke funktionalistische Kaffeehaus und das Wohnhaus „Nisa“ aus den dreißiger Jahren.
Zwei Jahre arbeitete ich als Portier in einem anderen architektonischen Kleinod: dem Grandhotel „Zlatý Lev“ (Goldener Löwe) des Architekten Anton Worf. 1905 galt es als das modernste in der Monarchie und gehört bis heute zu den besten in der Stadt. Hier verfügte man über einen Zentralstaubsauger, eine ausgezeichnete Küche, unerhört hohe Zimmerdecken und ein Gästebuch, in dem sich hundert Jahre bewegte Liberecer Geschichte widerspiegeln: Eingetragen haben sich hier der Polarforscher Amundsen, der zweite tschechoslowakische Präsident Beneš, Hitler, der Kommunist Gottwald und der Raumfahrer Juri Gagarin.
Einer meiner Lieblingsplätze ist auch das auf dem kleinen Hügel im Zentrum gelegene Krematorium aus dem Jahre 1917. Es war das Erste in ganz Österreich-Ungarn, aber verbrannt werden durfte darin erst nach dem Zerfall der Monarchie, weil die kaiserlichen Vorschriften eine Feuerbestattung nicht vorsahen. Auf die deutsche Vergangenheit verweist das von deutsch-tschechischen Fonds finanzierte Projekt der staatlichen wissenschaftlichen Bibliothek. Eröffnet wurde sie im Jahre 2000 und hat ihren Sitz nur ein paar Schritte vom herrlichen, unlängst renovierten Wiener Kaffeehaus „Pošta“ entfernt. An der Stelle der großen, verglasten und luftigen Räumlichkeiten der Bibliothek stand vor dem Krieg eine Synagoge, die von den Nazis niedergebrannt wurde. Teil des Projekts des Architekten Radim Kousal von der Gesellschaft Sial ist auch ein kleiner jüdischer Gebetsraum.

Hubáčeks Wunder
Das prächtigste Juwel von Liberec und zugleich eines der bekanntesten Gebäude der ganzen Tschechischen Republik erhebt sich hoch über der Stadt, in einer Höhe von 1012 Metern über dem Meeresspiegel. Der fast hundert Meter hohe silberne Kegel des Hotels „Ještěd“ stammt aus dem Jahre 1973 und ist das Werk des Architekten Karel Hubáček aus Liberec, der für dessen Entwurf den prestigeträchtigen Perret-Preis des Internationalen Architektenverbandes erhielt.
Zur Realisierung trug der Zufall bei: Ursprünglich stand hier ein altes deutsches Hotel, das aber zu Beginn der sechziger Jahre ausbrannte. Hubáčeks Entwurf verbindet die Faszination von der Weltraumfahrt, Technik und Science-Fiction mit gutem Gespür für die Landschaft. Die aerodynamische Spitze des Turms ergänzt den Gipfel des Berges Ještěd, ja noch mehr, es scheint, als würde er geradezu aus dem Gipfel herauswachsen.
Das Gebäude dient als Fernsehsender und Berghotel mit großem Restaurant und zwei Zimmerdecks. Man kommt sich hier wirklich wie an Bord eines Raumschiffes vor. Schade nur, dass in den Zeiten des wilden Kapitalismus in der ersten Hälfte der neunziger Jahre ein Teil der Inneneinrichtung zerstört und ausgetauscht wurde. Nunmehr erwägt man aber die Anfertigung von Kopien der ursprünglichen Stühle, Tische und Lampen, und die Stadt Liberec bemüht sich um die Eintragung des Hotels in die Liste des UNESCO-Welterbes.
Hubáček gründete 1968 in Liberec die Architektenvereinigung Sial, die im Lande zu einer sehr progressiven und bekannten Marke wurde; auf seine Initiative geht auch die Entstehung der Fakultät für Architektur der dortigen Technischen Universität zurück. Er ist ebenso einer der Architekten des für die damalige Zeit originellen Einkaufshauses auf dem Platz „Soukenné náměstí“ aus dem Jahre 1978. Jetzt heißt es „Ještěd“. Zurzeit wird es nach langen Streitigkeiten und medialen Querelen von Baggern zerlegt, um einer neuen Shopping-Galerie Platz zu machen.
Von der Baustelle flüchtet man besser auf den Hügel. Auf dem Ještěd zu übernachten, das ist nämlich ein Erlebnis. Im Sommer kann es passieren, dass der Blitz in den Turm einschlägt. Im Winter kann man in der Dunkelheit der weißen Wolken aufwachen. Und wenn man besonderes Glück hat, erlebt man bei einer Inversion hoch über den Wolken absolute Abgeschiedenheit.



Auszug aus dem Roman „Grand Hotel“, der im November 2008 erscheint.

Jaroslav Rudiš, geboren 1972 in Turnov, Tschechien, feierte sein Debüt als Schriftsteller 2002 mit dem Roman „Nebe pod Berlínem“ („Der Himmel unter Berlin“, Rowohlt, Berlin, 2004). Im November 2008 erscheint im Verlag Luchterhand sein zweiter Roman „Grand Hotel“, der in Liberec spielt, in deutscher Sprache. Sein Held, der dreißigjährige Einzelgänger Fleischman, Suchender und Amateurmeteorologe, arbeitet als Portier im Hotel „Ještěd“. Rudiš’ bislang letzter Roman „Potichu“ (Leise) ist 2007 erschienen.


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa, Oktober 2008
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