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Die Geschichte der musikalischen Prototypen ist eine Geschichte voller kreativer Missverständnisse, verpasster ökonomischer Chancen und gewaltiger Höhenflüge mit saftigen Bauchlandungen. Wie bei anderen Chronologien gibt es hier eine paradigmatische Zäsur, eine Zeit vor und eine nach der Bändigung des Stroms, Edison sei Dank. Wie auch in anderen Disziplinen blieb es meist den Adepten vorbehalten, die Lorbeeren des Starruhms für sich einzuheimsen. Dabei sind die in Produktion gegangenen Visionen der Bastler, Tüftler und Himmelsstürmer die Nachzeit, mit schon lange davor stattgefundenen Erfindungen, Entdeckungen, Experimenten, gewagten Theorien und wissenschaftlichen Grenzüberschreitungen. Die Geschichte der musikalischen Protoypen ist eine Geschichte der Utopien, eine der Unterwanderung tradierter Diskurse, eine der Komplotte gegen die Befütterung des Menschen mit Normen.

Von Heinrich Deisl.

Wer hat jetzt die Kontrolle: Die Maschine oder der Musiker?

Über die Sehnsucht nach musikalischer Autonomie

Der Forscherdrang veranlasste Leon Theremin, Friedrich Trautwein, Max Brand, Robert Moog, Don Buchla, Harry Partch und viele andere dazu, ihr Instrumentarium zu Echoloten, zu Empfängern für die Audiosignale aus der Zukunft umzurüsten: Strom wurde zum Klingen gebracht. Man stieß bis in die molekulare und molare Materie des Sounds selbst vor. Es wurden Welten erschlossen, von denen nie ein Mensch zuvor gehört hatte. Musik, Technologie und Physik schlossen sich gegenseitig kurz. Luigi Russolos Straßenlärm-Kulissen der Intonarumori, die afronautischen Synthesizer-Sounds von „Sun Ra“, die liquiden „Sheets Of Sounds“ John Coltranes und die astral-abstrakten „Wah-Wah-Fuzz Feedbacks“ eines Jimi Hendrix befreiten Klänge aus den Kontexten herkömmlicher, nach funktions-harmonischen Prinzipen fungierender Musik. Brian Eno, Robert Fripp, John Cage, Kraftwerk, Roxy Music, Tom Moulton, Grandmaster Flash, Lee Perry – die Liste ist beliebig verlängerbar – sandten Funksignale durch den Äther, indem sie die vorhandenen Ressourcen adaptierten oder gleich eigene bauten.

Viele der historischen elektroakustischen Prototypen wurden für Filmsoundtracks verwendet. Die Weimarer „Welthe-Kinoorgel“ etwa wurde fast ausschließlich für Geräusch- und Klangkulissen bei Stummfilmen verwendet. Als Filmbeispiele dafür, wie man mit elektroakustischen Klängen weit entfernte Welten und nicht greifbaren Schrecken darstellen kann, seien das Krächzen des von Oskar Sala gespielten Mixtur-Trautoniums in „Die Vögel“ von Alfred Hitchcock (1963) erwähnt und der Alien-Sound des Theremins von Samuel Hoffman in „It Came From Outer Space“ von Jack Arnold (1953). Und überhaupt: „Forbidden Planet“ von Fred McLeod Wilcox (1956), der erste große Film mit ausschließlich elektronisch und elektroakustisch erzeugtem Soundtrack von Bebe und Louis Barron.
Wobei es sicher kein Zufall ist, dass elektroakustischen Prototypen gerade in Science-Fiction- und Horrorfilmen und Psycho-Thrillern eingesetzt wurden, bei denen es primär um das Zukünftige, das Andere, um Entfremdung, Verfremdung und Befremdung ging.

Datendesperados und Cracker
„Maschinenmusik nennt sich nicht deshalb Wissenschaft, weil sie eine Technologie kontrolliert, sondern weil Musik die Kunstform ist, die am meisten von Technik unterfüttert, rekombiniert und rekonfiguriert wird“, schreibt der Musikertheoretiker Eshun Kodwo in seinem Buch „Heller als die Sonne. Abenteuer in der Sonic Fiction“ (Berlin, 1999).
Die Protoypenerfinder heutiger Tage sind Datendesperados und Cracker geworden. Die Powerbooks G3, G4 werden mit prototypischer Software aufgeladen. Sie ist nichts anderes als digitalisierte Wickelspulen, Röhrenverstärker und Schaltrelais. Die heutigen Visonäre zapfen die digitalen Quellcodes an und lassen die Festplatten mit speziellen Softwareprogramme, den neuen futuristischen Sprachen, miteinander in Kommunikation treten („MAX/ ESP“, eine IRCAM-Entwicklung, „Reaktor“ von der Berliner Firma Native Instruments, „Ableton“ von Robert Henke und Gerhard Behles und „Final Scratch“ unter anderen von Ritchie Hawtin). Gebrauchsanweisungen sind dazu da, dass man sie zerreißt und aus den Knipseln neue Anleitungen klebt, neue Instruktionen zur Untergrabung des vom Markt Vorgeschriebenen. Die Maschinen unterhalten sich damit bestens miteinander. Nur ab und zu stört und lenkt ein menschlicher Maschinist ihr trautes Flüstern, Brüllen, Tuscheln und Schreien. „Zuerst hat Software den Laptop zu einem Musikinstrument gemacht. Wer hat jetzt die Kontrolle: Die Maschine oder der Musiker?“, fragt sich der Medientheoretiker Erik Davis (Wired, 5/2002).

Elektronische Prototypen-Instrumente und Musik erzeugende Prototypen-Sprachen fassen in dem von ihnen erzeugten Sound eine Aura des Einzigartigen, der Autonomie, des Zukünftigen, des Fremden und Metaphysischen. Prototypen sind ewige Baustellen, Prototypen sind die Freiheit zum Selbermachen. Sie sind archäologische Ausgrabungsstätten des kollektiven Gedächtnisses für kommende Generationen. Und der Strom, als analog-digitale Aorta des täglichen Lebens, berichtet dabei von der wunderbar neuen Welt der Beschleunigung, Gleichzeitigkeit, grenzenlosen Kommunikation und massenhaften Vervielfältigung. Strom ist Veränderung, Wechselwirkung, Transformation. Was stand anderes zu erwarten, als dass die elektronische Musik die Grenzen zwischen Geräusch, Musik, Stille und Lärm einschmelzen würde. Strom ist Kommunikation. Gibt es etwas noch Ungenaueres als die humanoide Kommunikation? Die elektronischen Musik-Prototypen kommunizieren mit einer neuen, antivisuellen, damit ihnen ganz eigenen Präzision. Sie singen die Sprache der Zukunft.



Heinrich Deisl (Jahrgang 1972) ist DJ, Historiker, Kommunikationswissenschaftler und freier Musikautor (u. a. für „skug“) in Wien und Bologna.
erschienen im Prototype - Katalog, 2002
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