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Von Otto Reiter.

Melancholie des Widerstands

Ungarns Kinokunst

Über Béla Tarr, den einsamen Meister des ungarischen Kinos, und andere begabte Nachwuchsregisseure in Ungarn.

In den achtziger Jahren war es der Regisseur István Szabó, der das ungarische Kino unübersehbar machte. Seine historische Trilogie („Mephisto“, 1981, „Oberst Redl“, 1985, und „Hanussen“, 1988) tourte zu den Festivals aller Kontinente, beginnend mit dem weltweit Aufsehen erregenden Gastauftritt von „Mephisto“ bei einem Hollywood-Propaganda-Maschinerie-Event, genannt Oscar-Preisverleihung. Seine jüngsten internationalen Arbeiten waren allesamt Flops, das Privileg seiner Bekanntheit István Szabó mehr hinderlich als nützlich. Zu viele verschiedene Geldgeber, die alle selbstverständlich ihre eigenen Interessen hatten, und zu viele selbst ernannte „wohlmeinende“ Ratgeber können wohl als Grund gelten.

Auch seine weniger bekannten Kollegen hatten in den vergangenen Jahren immer härter zu kämpfen. Wurden in den achtziger Jahren noch 20 Spielfilme pro Jahr in Ungarn produziert, hat sich die Zahl mittlerweile bei neun bis zehn eingependelt, wenn es denn ein „gutes Jahr“ ist. Der Großteil des Publikums geht in Ungarn – wie überall – nicht ins Kino, um einen anspruchsvollen heimischen Film anzusehen, sondern um möglichst effektvoll von den vielen Alltagsproblemen abgelenkt zu werden.

Das alles interessiert Béla Tarr (Jahrgang 1955), den einsamen Meister des ungarischen Kinos, herzlich wenig. Seinen ersten Film drehte er mit 16 Jahren auf Achtmillimeter und erfuhr anfangs vor allem Skepsis und Misstrauen. „Damnation“ (1988) brachte ihm erstmals internationale Anerkennung und „Sátántangó“ (1994), basierend auf László Krasznahorkais erstem Roman, den endgültigen Durchbruch bei jenen, die nicht nur unterhalten und ablenkt werden wollen.

Béla Tarr ergeht es heute in Ungarn ein wenig so wie dem Schriftsteller Robert Musil in Österreich. Jedes Schulkind lernt, dass Letzterer ein über tausendseitiges Meisterwerk der Literaturgeschichte mit dem Titel „Der Mann ohne Eigenschaften“ geschrieben hat. Gelesen jedoch hat den Roman kaum einer. Auch ich nicht.

Dafür habe ich in Budapest vor einigen Jahren „Sátántangó“ gesehen. Siebeneinhalb Stunden und keine Sekunde zu lang. Keine ablenkenden Farben. Schwarzweiß. Behutsame, fast zärtliche Kamerabewegungen dokumentieren ein Dorf und seine Bewohner in Agonie. Béla Tarr ist ein düsterer Verwandter des russischen Filmpoeten Andrej Tarkowskij und nicht zufällig wählte er für seinen nächsten Film wieder einen Roman von Krasznahorkai: „Die Melancholie des Widerstands“. Unter dem Titel „Werkmeister Harmonies“ (2000) kam der außerordentliche Film in die wenigen Kinos, die wagten, einen Béla-Tarr-Film zu zeigen.

Tarr überspielt das vorherrschende öffentliche Desinteresse an seiner Arbeit mit Melancholie und Verachtung für die Gesellschaft, die manche als Arroganz missverstehen. Kürzlich sagte er in einem Interview: „Während der kommunistischen Zeit dachte ich: Okay, ich habe ein Problem mit deren Politik. Aber bis heute hat sich für mich fast nichts geändert: Offiziell mag mich niemand, heimlich schon, weil ich noch immer außerhalb des so genannten Systems bin, außerhalb dieser dummen, kleinbürgerlichen ungarischen Scheiß-Filmindustrie.“

Heute empfindet er es als Zensur, dass eine Kodakfilmrolle nur elf Minuten aufnehmen kann. Es gibt Schlimmeres, egal, momentan arbeitet er an der Verfilmung einer Kurzgeschichte von Georges Simenon: „Der Mann aus London“. Tarr wird wie immer keine Kompromisse eingehen und mit sich und allen anderen dabei kämpfen. Dass der Film in einigen Jahren fertig und mich wie alle anderen Werke von ihm gefangen nehmen wird, darauf freue ich mich schon heute.

Es gibt in Ungarn aber noch andere kreative Regisseure. Etwa der junge György Pálfi (Jahrgang 1974), dessen Film „Hukkle“ (ungarisch für Schluckauf) mittlerweile auch international für Furore sorgte: Ein Verbrechen. Ein Dorf. Keine Dialoge, aber optische Spannung wie selten im Kinoalltag. Oder den in den USA geborenen Nimród Antal, der mit „Kontroll“ (2003), einer aberwitzigen Tour de force mit und in den Budapester U-Bahnen, eine cinematographische Landmarke gezeichnet hat: eine Atmosphäre, so kraftvoll wie in „Der dritte Mann“ im Wien der Nachkriegszeit. Also kein Grund für Traurigkeit. Béla Tarr, Nimród Antal, György Pálfi. Alles ungarische Filmhoffnungen, die mit ihren Filmen demnächst dort zu sehen sein werden, wo es noch mutig programmierte Kinos gibt.

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Oktober 2010



> Link: REPORT online > Link: Wikipedia "Béla Tarr"-