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Von Richardas Norvila.

Der Protoyp – Inbegriff einer russischen Lebensform - Richardas Norvila

Die Frage nach der Faszination und der auratischen Anziehungskraft von Prototypen in der Soundkunst scheint mir vor allem aus philosophischer Sicht legitim. Nur mit Unikaten zu arbeiten oder aus stereotypischen Maschinen etwas Unerwartetes herauszukitzeln, führt zum Primären zurück: zur Materie und dem Geist. Mit musikalischen Massenwaren wie einem „MC-303“ klandestine Verhandlungen in einer ungewöhnlichen, neuen Art und Weise aufzunehmen, ihn wieder in sein Urstadium, in seine Prototypenform, zurückzuführen, ist ein Akt, der mehr der Dimension des Geistes als jener der Technik zuzuordnen ist.

Deshalb kann die Realität des Prototypischen aus der Welt der Maschinen hineinleiten in das Universum von Beziehungen. Der Prototyp steht für einen sehr persönlichen und „primären“ Aufbau einer Verbindung zu einer E-Maschine, die ja für sich selbst eine Lebensform darstellt. In diesem Verhältnis gilt es, mit der Maschine in einer möglichst differenzierten Sprache zu kommunizieren und ihre Grenzen zu akzeptieren.

Ein prototypisches Maschinen-Unikat kann sehr erotisch und verführerisch sein. Es bezirzt einen wie eine Traumfrau. Ein großes Glücksgefühl, es bei sich zu haben und zu wissen, dass es einem alleine gehört. Eine Menge solcher Kreaturen bilden einen Harem. Man muss schon tief in die Tasche greifen, um diese Objekte der Begierde zu erhalten. Also, alles in einem: Fleisch und Geld. Die prototypische Methode verlangt einem eine manische Anstrengung ab und zeigt gar Parallelen zur Geschichte der Bibelumdeutung: Sie ist eine persönliche „Umschreibung“ der Bedienungsanleitung, die durch eigene soziale Utopien motiviert ist: Etwa, neue Möglichkeiten für die Vernetzung von Maschinen zu erforschen.

Die russische Gruppe „INTERNAT“ (mit Richardas Norvila und Roman Lebedev) war ein Versuch, eine solche Utopie zu verwirklichen. Sie vernetzte in ihrem Moskauer Studio Weltmarkengeräte und Maschinen russischer Herkunft (die wegen ihrer extrem divergierenden Qualität alle im Grunde Prototypen darstellten) und zwang sie damit zu einem ständigen Erfahrungsaustausch. Dahinter stand die Idee, dass Maschinen, die auf Grund verschiedener Elektrostoffwechsel-Muster ihr Leben bestreiten, in einem Schaltkreis einander „umerziehen“ können. Aus dieser Elektro-Gruppenpädagogik heraus entstanden skurrile, elektronische Geschichten, die auf fünf – bis jetzt unveröffentlichte – Alben verteilt wurden („Die Wassermelone und 20 GrooveBoxen“, „Electric Sandplay“, „Diät“, „Tiubiteika Kolloquium“, „Technical Monks“). All dies geschah in den Jahren 1998 und 1999.

Bald entwickelte sich daraus das Projekt BENZO (Richardas Norvila), das sich im Bereich sozial orientierter Kunst bewegt. Dessen Musik- und Klangwelt sollte Ausdruck russischer Lebensform sein. Gewiss, Russland und Moskau sind keine Synonyme. Aber die Reisen und längeren Aufenthalte in Europa brachten die Erkenntnis, dass Moskau das Zuhause von BENZO ist. Denn Moskau ist wie ein experimenteller Sequenzer, der alles Russische mit Einflüssen aus der ganzen Welt zusammenquirlt, ähnlich etwa wie es der „Logic Audio 5.2“ tut. Mit gewissen Unterschieden freilich: In Moskau ist die Zahl der Tracks unendlich groß, die Plug-Ins sind chaotisch, die Steuerung der Automation ist nie vorhersehbar, und ein „Undo“ existiert nicht.

BENZO vermittelt die persönlichen Erfahrungen menschlicher Existenz in Moskau. Die Musikstücke erzählen kleine Stadtgeschichten und sind Porträts von Menschen, die in dieser Metropole leben. Sie sind eher etwas Visuelles und Sprachliches, das, in Klänge verhüllt, daherkommt. Typologisch betrachtet, sind die Nummern lustig, melancholisch, zum Teil albern bis niedlich. Sie sind keine Arrangements, keine durchdachten Songs, eher Improvisationen. Sie sind wie ein Spaziergang eines Stadtflaneurs, der über genug Zeit verfügt, dem Wahrgenommenen Aufmerksamkeit zu schenken. Das Instrumentarium besteht ausschließlich aus Unikaten und Prototypen, aus russischen Elektromaschinen, die größtenteils nicht mehr gebaut werden, entweder gebraucht erworben oder auf der Straße gefunden wurden.

Das Prototypische an allen diesen Geräten ist ihre Herstellungsmethode. Die serienmäßig gebauten, russischen Analog-Synthesizer gleicher Marke, gleichen Typs wie etwa der „Polyvox“ klingen nie gleich. Jede einzelne Maschine hat zwar ein schönes, wildes Kolorit, aber definitiv immer ein anderes. Der Grund liegt in dem Erfindungsreichtum russischer Elektromonteure, die oft mit einer eingeschränkten Menge an Baukomponenten die Synthesizer bauen mussten (selten waren alle Teile im Lager verfügbar – eine typische Situation in den Fabriken der Sowjetzeit). Die Techniker ließen sich davon nicht beirren und änderten kurzerhand den Bauplan. Das Klangergebnis der „unfreiwilligen Prototypen“ entsprach dann freilich kaum mehr den „wohltemperierten Vorstellungen“ der Kunden.

Die Art und Weise, wie diese Maschinen erzeugt wurden, das Prinzip des Prototypischen, ist tief in der russischen Lebensform – oder, wie man in Europa sagt, „russischen Seele“ – verwurzelt. Dieser Begriff meint, dass fast alles, was man zum Leben braucht, an der Oberfläche, auf der Straße, liegt. Nimm nur. Und was hat das alles mit Musik zu tun? Und ist der Begriff der „russischen Seele“ nicht heillos veraltet? Musikschaffen ist, wie es scheint, abgesehen vom „primär-narzistischen Trieb“, kommerziellen Erfolg zu erstreben, eine religiös-metaphysische Handlung, denn die Musik als Gebet diffundiert schneller in den Stoffwechsel, als es Bildern und Wörtern gelingt. So wie die russische Lebensform das Prototypische in sich aufgesogen hat, so haben es auch die Werkzeuge und Maschinen, die in diesem Leben, über das sie ihre Kurzgeschichten erzählen, „aufgewachsen“ sind.
Das Prototypische in der russischen Lebensform zu erkunden, ist die Lust von BENZO: Worüber man nicht reden kann, kann man zumindest summen. (Angenommen, man ist in einem Musikzimmer und niemand hat den Strom abgeschaltet.) PLAY.

Moskau, August 2002



Richardas Norvila (geb. 1961 in Sowjet-Litauen) studierte an der Moskauer Lomonossov-Universität Philosophie und Medizinische Psychologie. Von 1992 bis 1997 studierte er am C. G. Jung Institut in Zürich und promovierte 1993 in Philosophie. Seit April 1998 lebt und arbeitet er in Moskau als freischaffender Komponist und Psychotherapeut.
erschienen im Katalog "Prototype - Armaments and Armatures against elecrtonic music, 2002