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Anfang der 70er Jahre zog ich mit meinen Eltern in das für damalige Zeiten ultramodern ausgestattete „Haus des neuen Alltages“. In diesem Wohnheim für Studenten, Praktikanten und die Familien der Mitarbeiter der Staatlichen Universität Moskau sollte das soziologische Experiment der „Bildung einer neuen Kommunalwirtschaft“ verwirklicht werden. Das Experiment scheiterte freilich. Dafür kam ich als Schüler der 7. Klasse zum ersten Mal in meinem Leben mit einem Rockensemble in Berührung, dem „Bit“, in der ich Bassgitarre spielte...
Von Alexei Borisov.

Geistige Lässigkeit - Alexei Borisov

Über den Maschinenkult in der Sowjetunion

Mein Vater arbeitete in der Rechnerzentrale der Universität Moskau. Das Rechenzentrum mit dem Computer „БЭСМ-6“ erinnerten an Weltraumstationen oder an die großen Schaltzentralen von Kernreaktoren. Der Zutritt war Unbefugten verboten und das Personal musste Spezialkleidung tragen. Oft zeigte mir mein Vater stolz Grafiken, die die Maschinen dort produziert hatten oder zwang den brummenden Geräten, irgendwelche Musik und Geräusche zu produzieren. Diese Begegnungen mit „elektronischer Musik“ blieben mir lange im Gedächtnis.

In den Siebzigern existierte in Russland der Begriff der „elektronischen Musik“ schon. Man assoziierte ihn vor allem mit Zeichentrickfilmen, dem dokumentar-wissenschaftlichen und fantastischen Kino und mit dem etwas langweiligen „Orchester der elektro-musikalischen Instrumente“ von Vjacheslav Mesherin. Ab 1975 tauchten dann aber in Insiderkreisen Namen wie Klaus Schulze, Tangerine Dream und sogar Kraftwerk auf.

Fünf Jahre später kamen in Russland Punk und New Wave in Mode. Meine Kollegen aus der Formation „Centre“, in der ich von 1980 bis 1981 Gitarre spielte, begannen damals erstmals mit elektronischen Instrumenten zu experimentieren. Zu jener Zeit sah ich zum ersten Mal die Rhythmus-Boxen der westlichen Firmen Roland und Casio. Unter dem Eindruck der Musik von XTC, Stranglers, Ultravox, Cabaret Voltaire und Joy Division probierten wir intuitiv die Energetik des Punk-Rocks mit dem kühleren und ästhetisierten Klang der Elektronik aus.
In der von mir und dem Keyboarder Ivan Sokolovsky 1985 gegründeten Gruppe „Notschnoi Prospekt“ („Nächtlicher Boulevard“) traten wir als elektronisches Duo mit Drumm-Maschinen und Synthesizern auf. Wir nahmen Playbacks auf Band auf, nahmen das Real-to-Real Tohnbandgerät der Firma „UHER“ mit auf die Bühne und spielten live dazu. Diese Methode entwickelte sich nur wenig später zur Manie innerhalb der russischen Popszene.

Bald, Mitte der Achtziger, hatte sich in Moskau eine elektronische „Szene“ gebildet. Depeche Mode war für sie ein wesentlicher Orientierungspunkt. Gruppen mit programmatischen Titeln wie „Der Biokonstrukteur“, „Allianz“, „Vektor“, „Doktor“ waren in Moskau sehr populär. In Petersburg (damals noch Leningrad) tendierten die Gruppen „AVIA“, „Televisor“, „Modell“ und der Avantgardist Sergei Kuriochkin zur Elektronik. Die Szenen der Baltischen Länder kamen allerdings über ihre lokale Berühmtheit nicht hinaus. Bei „Notschnoi Prospekt“ bewegten wir uns in Richtung industriell-elektronischer Psychedelika. Iwan Sokolovsky, der für die Elektronik in unserer Band zuständig war, verwendete selbstgemachte Geräte wie zum Beispiel eine Art Vocoder.

Ende der Achtziger veränderte sich in Russland sowohl die Produktionssituation wie die technologischen Möglichkeiten für das Musikmachen. Die Moskauer Musiker verkauften allesamt ihr analoges Zeug und deckten sich mit Digitalmaschinen ein. Allerdings wurden allen bald die Grenzen der Digitaltechnik klar und außerdem kostete diese Sachen eine Menge Geld. Als Reaktion darauf verwendete „Notschnoi Prospekt“ und noch öfter das, 1992 von mir und Pavel Jagun gegründete, Duo F.R.U.I.T.S. wieder analoge Instrumente.

Damals fingen wir an, mit verschiedenen einheimischen Geräten wie „Polyvox“, „Rhythmus 2“, „Aelita“, „Elektronik“ und der Drummaschine „Lel“ zu experimentieren. Viele Musiker hatten zu dieser Zeit eindrucksvolle Kollektionen elektronischer Instrumente verschiedenster Generationen, Firmen und Länder gesammelt. Die Champions dieser Disziplin wurden Richardas Norvila (Benzo), Jurij Orlov (F.I.O.) und Nikolai Nebogatov („Spies Boys“). In Moskau boomten die Analogsynthesizer und alte Drummaschienen wieder.

Gegenwärtig ähnelt die russische Elektronikszene der europäischen und amerikanischen. Es ist eine extreme „Computerisierung“ musikalischer Prozesse zu beobachten. Klar, dass der Computer für den Musiker –ob er nun erfahren oder ein Anfänger ist – grenzenlose Möglichkeiten eröffnet. Doch führen diese Computertechnologien doch letztendlich dazu, die musikalischen Ergebnisse derart zu nivellieren, dass ästhetische, vor allem nationale, aber auch emotionale Momente des Autors vollständig verschwinden: Eine Art „Sound- und Technologie-Kosmopolitismus“.

Die russische Elektronik-Musik ist bis zu einem bestimmten Grad die Fortsetzung und die Weiterentwicklung der musikalischen Traditionen der russischen Avantgarde, kombiniert mit einer großen- und typisch russischen- Hochachtung vor wissenschaftlich-technischen Fortschritten. Russland und die Sowjetunion war schon in den Zwanziger Jahren ein großer Übungsplatz für Testversuche sozial-ökonomischer Methoden und für technologische Erfindungen und Visionen.
In der Sowjetunion konnte man eine eigenartige „Vergöttlichung“ von Maschinen, industrieller Architektur, Elektrizität, der Wissenschaften und sogar von Arbeitprozessen festzustellen. Alles war freilich politisch gefärbt und verschmolz mit der kommunistischen Ideologie. Die „Mystifizierung der Maschine“ verstand man als Munition gegen den westlichem Imperialismus und den Kapitalismus.

Die russische elektronische Szene ist und war eine (un-)bewusste Reflexion auf dieses Phänomen. Daraus resultiert die Glorifizierung des Aktes der Herstellung der Musik durch komplizierten Geräte und neueste Technologien. Die Musiker sollten ihre technologische Abhängigkeit und ihr Minderwertigkeitsgefühl den Maschinen gegenüber überwinden – zugunsten von schöpferischer Freiheit, geistiger Lässigkeit, der Unabhängigkeit von Klischees und globaler Standards.



Alexej Borisov (Jahrgang 1960) ist einer der Elektronik-Pioniere Russlands. Er füllte in den Achtzigern große Hallen als Gitarist der Gruppe ”Centre”, der ersten New Wave Band der Sowjetunion. 1985 gründete er unter anderem die erste Techno- und Industrial-Kultband ”Notschnoi Prospekt” (Nächtlicher Boulevard). Mit Pavel Jagun betreibt er seit 1992 das Elektronikproje.
erschienen im Katalog "Prototype - Armaments and Armatures against eletronic music", 2002