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Von Sibylle Hamann, Bernhard Odehnal.

Jenseits des Flusses

Zeitlos

Weder der Kommunismus noch die Modernisierung haben auf die störrischen Menschen von Maramureş, einem Bezirk in der Region Transsilvanien, nachdrücklich Eindruck gemacht.

Es wird schon bald dunkel in Vişeu de Sus. Aus dem Fluss steigt die Feuchtigkeit herauf und aus den Wäldern am Berghang kommt der kühle Wind herunter. Die Hühner schlafen schon, nur die Katzen streunen noch leise durch den Hof. Da bricht plötzlich das Geschrei los.

Es kommt von unten, vom Flussufer. Drei Fuhrwerke stehen da, mit erschöpften, schwer atmenden Pferden, jeweils zwei an einer Deichsel. Ihre Wagen sind bis oben hin beladen mit Baumstämmen, die sie eben vom Berg herunter und hier durch die Furt geschleppt haben. Es sind kräftige, wohl genährte Tiere mit glänzendem Fell. Die halten was aus. Aber der Fluss ist reißend dieser Tage, in denen oben auf dem Berg der Schnee schmilzt. Nicht alle haben es geschafft. Ein Fuhrwerk steckt fest, in der Mitte der Strömung, die Pferde stehen bis zum Bauch im Wasser. Ein zweites Fuhrwerk hat sich in den Steinen am Ufer verkeilt, die Tiere haben keine Kraft mehr, um Schwung zu nehmen und es über die steile Böschung herauf zu schaffen.

Die muskulösen jungen Männer, die die Pferde antreiben, scheinen schwere körperliche Arbeit gewöhnt zu sein. In Gummistiefeln waten sie durch den reißenden Fluss, zerren mit aller Kraft an den Deichseln, schieben, brüllen, knallen mit den Peitschen. Endlich schaffen sie es, die müden Tiere mitten im Fluss zu wechseln, die kräftigsten anzuspannen, und poltern unter Aufbietung der letzten Reserven den Abhang herauf. Alle sind triefend nass und jeder andere würde sich in diesem Moment erschöpft ins Gras fallen lassen und eine Stunde lang ausruhen. Aber die Burschen zucken bloß kurz mit den Achseln, schwingen sich behände auf ihre Holzstöße hinauf, stecken sich eine Zigarette an – und fahren weiter, als sei das alles ganz normal.

Es ist alles ganz normal. Am nächsten Tag, etwa um dieselbe Zeit, werden sie wieder durch die Furt kommen, poltern, zerren und brüllen. Es ist ihr Job. Das Landleben in Maramureş, so malerisch es auch anzusehen sein mag, gestaltet sich hart.
Vişeu de Sus ist eine beschauliche, emsige Kleinstadt am Ende des Vaser-Tals. Es gibt nur eine einzige Brücke, die für Autos befahrbar ist. Der Rest des Verkehrs und der Geschäfte wird zu Fuß erledigt – über fragile Hängebrücken hinweg, die grade mal ein Mensch auf einmal passieren kann. Es gibt nur zwei Drahtseile zum Festhalten, im Wind schaukelt alles bedrohlich und immer wieder sind ein paar Bretter morsch. Aber das schreckt nicht einmal die Schulkinder, die sich jeden Tag flink über die Lücken hinüberhanteln. Das einzige Problem, sagen die Leute, seien die Betrunkenen. Da ist schon öfters mal einer in finsterer Nacht ins Wasser gefallen.

Es ist kein Zufall, dass das Vaser-Tal nach dem deutschen Wort „Wasser“ klingt. Es waren Deutsche, die ihm diesen Namen gaben. Sie kamen hierher, in die grünen Hügel im Norden Rumäniens, weil es hier Land und Arbeit gab. Im 18. Jahrhundert wurden die Zipser in Maramureş angesiedelt, eine deutsche Minderheit aus der heutigen Ostslowakei. Kurz danach kamen jene, die man bis heute „die Deitschen“ nennt: landlose Bauern aus Oberösterreich, denen Kaiserin Maria Theresia hier im Kronland Land und Lohn versprach. Sie teilten sich die Städte mit chassidischen Juden, die aus Russland und der Ukraine eingewandert waren und von deren Kultur heute nur mehr der jüdische Friedhof auf einem Südhang oberhalb Vişeus zeugt. Rumänen gab es auch, aber sie lebten in kleinen Dörfern und Einschichthöfen.

Bis heute haben sich Reste der deutschen Vergangenheit gehalten. Deutsch ist nicht wirklich eine Fremdsprache – viele verstehen zumindest ein paar Brocken davon. Einige haben Verwandte, denen mit dem Nachweis deutscher Vorfahren die Auswanderung nach Deutschland gelang. Und im deutschen Kulturverein im Zentrum der Stadt, mit ein paar Bänken im schattigen Innenhof, werden ab und zu deutschsprachige Filme gezeigt und Besuchsdelegationen etwas verstaubter großdeutscher Heimatverbände empfangen. Hier spricht man vom „Wischau“-Tal, der Fortsetzung des kleineren Wassertals, und Vişeu de Sus heißt hier „Oberwischau“.

Was die Zuwanderer damals anlockte, war das Holz – und dieses bildet bis heute die Lebensgrundlage der Region. Es befindet sich an den Ufern des wildromantischen Karpatentals, in das keine Straße führt. Jahrhundertelang wurden die mächtigen Stämme im Fluss herunter ins Tal geflößt. 1925 baute man die einspurige Bahnstrecke, die den Transport von Menschen, Bäumen und Material wesentlich erleichterte. Die Bahn fährt bis heute, teilweise sogar noch mit Dampflokomotiven. Wenn sich Touristen nach Vişeu de Sus verirren, dann deswegen.

Obwohl: eine wirklich professionell vermarktete Touristenattraktion ist die Waldbahn noch nicht. Der Abfahrtsbahnhof liegt versteckt hinter dem Sägewerk. Eine große, weiße Hündin hat zwei Junge geworfen und versteckt sie in der Erdkuhle unter dem Weichenstellhebel. Allzu oft wird sie dort nicht gestört. Die Vögel zwitschern, eine alte Bäuerin im durchlöcherten Gummigaloschen lässt von morgens bis abends ihre zwei Ziegen zwischen den Gleisen grasen und ab und zu fährt ein Zug ab. Wann genau, weiß im Vorhinein niemand.

Die Holzarbeiter sind, wenn die ersten Touristen kommen, schon lange oben im Tal. Montags um sechs Uhr früh stehen sie am Bahndamm, Plastiksäcke in den schwieligen Händen und die Motorsäge lässig ans Knie gelehnt. Jene, die ganz nach oben fahren, 30 Kilometer weit bis zur Holzfällersiedlung Faina, werden die ganze Woche dort oben in Baracken schlafen. Die Bahn braucht fast drei Stunden für die Strecke, da zahlt sich tägliches Pendeln nicht aus.

Der kleine Kiosk, der schon vor der Morgendämmerung aufsperrt, verkauft, was die Männer dort oben brauchen werden: Speck, Brot und Zigaretten. Sie müssen sich selbst versorgen, denn die kleinen Dörfer oben im Tal sind seit vielen Jahren nicht mehr bewohnt. Wenn die Holzfäller am Samstagmittag hier wieder aussteigen, nach fünf Tagen harter Arbeit im Wald, wird im Kiosk Hochbetrieb herrschen. Dann gibt es Schnaps und Bier, bis spät in die Nacht.

Loici Bagy ist der Lokomotivführer. Er wurde noch oben im Tal geboren, als neben der Bahnstation noch ein paar Bauern wohnten. Jetzt wohnt er in Vişeu, aber er ist nie losgekommen von diesen Bahngleisen und kennt die ganze Strecke in- und auswendig. Seit ein paar Monaten macht ihm die Arbeit wieder mehr Spaß: Da kam die alte Dampflokomotive aus dem Museum, repariert und frisch lackiert, und wird nun, den Touristen zuliebe, statt der Dieselloks eingesetzt. Vasile Barsan poliert jeden Tag die Lampen, prüft die Achslager, schmiert, wo es notwendig ist, und lässt grüßend den Dampf ab, wenn er am Haus seines Heizers vorbeifährt.

Das sieht aus wie im Bilderbuch, aber Dampflokomotivführer ist ein Beruf, in dem man nur selten alt wird. Im Führerstand, direkt neben dem holzgefeuerten Kessel, herrscht unerträgliche Hitze. Der Rauch beißt in den Augen, und um nach vorne zu schauen, muss man sich aus dem Fenster in den Fahrtwind lehnen. Im Winter schwitzt und friert man da gleichzeitig. Den Bremsern geht es auch nicht viel besser: In der Abenddämmerung, wenn die voll beladenen Waggons mit den schweren Stämmen aus dem Tal herunterkommen, stehen sie auf den Waggons, bei jedem Wetter, und müssen aufpassen, dass es nicht zu schnell bergab geht. Es ist nicht leicht, so eine Arbeit jahrzehntelang durchzuhalten, ohne dem Schnaps oder dem Schlendrian zu verfallen. Doch dem Schnaps oder dem Schlendrian zu verfallen, ist hier lebensgefährlich.

So gesehen stellt Maramureş eine Zeitreise in die Vergangenheit des Landlebens dar. Die Gegend war immer zu abgelegen, als dass sie strategischen Wert gehabt hätte; so entging das störrische, ethnisch durchmischte Bergvolk dem Kahlschlag der Modernisierung ebenso wie der Zwangskollektivierung unter den Kommunisten. Die kleinen Bauernhöfe sind weitgehend Selbstversorger, so wie vor langer Zeit: Hinter dem Haus befindet sich meist ein kleiner Gemüsegarten, die Obstbäume werden vor allem zum Schnapsbrennen gebraucht. Im Stall steht eine Kuh, oben auf der Wiese ein paar Ziegen, in einem Verschlag ein Schwein, das die Reste vom Mittagessen kriegt, und wenn die Hühner brüten, dann nimmt die Oma die Nester in ihr Zimmer und hält sie neben ihrem Bett am holzbefeuerten Ofen warm.

Kaum Maschinen, kaum Fahrzeuge, viel Handarbeit, vom Holzhacken bis zum Wäschewaschen: Es wird bei uns früher nicht viel anders gewesen sein. Sonntags ist Kirche, donnerstags ist Markt. Morgens kräht der Hahn, am frühen Abend sitzt man vor dem Haus und schaut, wer vorbeigeht, und später sinkt man, von der Luft ermattet, in tiefen Schlaf, aus dem einen erst der Hahn wieder wecken wird. Es ist ein vordergründig idyllisches Leben. Aber wer mehr als einen flüchtigen Blick darauf wirft, kann erahnen, dass es ein hartes ist.



Sibylle Hamann ist Auslandsredakteurin des österreichischen Nachrichtenmagazins „Profil“. Bernhard Odehnal ist Mitteleuropa-Korrespondent für die Schweizer Tageszeitung „Tages-Anzeiger“.

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,September 2005
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