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Von Florian Klenk.

Kuckst du!

Deutschland: Ein Sittenbild

Stimmungsbild eines Ausland-Österreichers aus dem Nachbarland Deutschland: In Neukölln Döner drehen oder die Angst der liberalen Politologen.

Früher wäre diese Bemerkung, die Deutschlands momentane Stimmung so auf den Punkt bringt, in dieser liberalen Runde vielleicht mit Stirnrunzeln kommentiert worden. Diesmal stieß sie auf Verständnis. Eine Reihe von gebildeten, weltoffenen Menschen – feinsinnige Publizisten, Professoren und Kaufleute – kam vor nicht allzu langer Zeit bei einem dieser hanseatischen Empfänge zusammen und parlierte über die Welt. Da entfuhr es dem scharfzüngigen, weit über die Grenzen bekannten liberalen Politologen: „Wissen Sie“, klagte er, „die Muslime hier essen nicht nur anders, sie kleiden sich nicht nur anders, sie beten nicht nur anders: Manche von ihnen wohnen hier in Hamburg und heißen Mohammed Atta!“
Im August muss der Spötter sich wieder bestätigt gefühlt haben. Überwachungskameras am Bahnhof in Köln hatten Bilder eines libanesischen Studenten aufgenommen. In seinem Michael-Ballack-Fußball-Shirt sah er wie ein richtiger WM-begeisterter Deutscher aus. Doch dann stellte der Student einen Koffer mit einer selbst gebauten Propangasbombe in einen Zug. Hunderte Passagiere sollten sterben, weil sich der Islamist mit dem WM-Trikot über die dänischen Mohammed-Karikaturen ärgerte. Zum Glück war der Gotteskrieger zu dumm dazu: Sein Sprengsatz war ein Fehlkonstrukt. Mohammed Atta, Hamburger Zelle, Kofferbomber, Schläfer: Das prägt eine Gesellschaft, in der auch ohne Islam-Terror 60 Prozent die Meinung vertreten, es gebe zu viele Ausländer im Land.
Es herrscht Misstrauen und Unbehagen, aber auch Sorge hinsichtlich jener, die in Kreuzberg oder Neukölln ihr Döner drehen, in der Moschee auf die Knie fallen oder in der Schule ein Kopftuch tragen wollen. Auch umgekehrt wächst der Unmut.
„Wieso“, fragen viele Muslime verärgert, „wieso verdächtigt ihr Deutschen uns ständig, Terroristen zu sein? Wieso sollen wir uns ständig von islamistischen Fanatikern distanzieren, mit denen wir selbst nichts zu tun haben wollen?“ Seit dem elften September, seitdem „der Westen“ in seine sogenannten Parallelgesellschaften blickt, fürchten viele deutsche Sozialforscher, dass das Land – zumal in den Städten – auseinanderdriftet. Denn nicht Multikulti hat sich hier durchgesetzt, wie Konservative glauben machen wollen, sondern ein Nebeneinanderleben der Kulturen, die einander misstrauisch beäugen. Hier die Deutschen ohne „Migrationshintergrund“: geburtenschwache Einzelkinder, zu 90 Prozent in Mittelschulen ausgebildet, konfessionslos, noch immer vergleichsweise wohlhabend. Und da die Muslime, Türken zumeist: sie kommen schon als Jugendliche öfter mit dem Gesetz in Konflikt, sind ärmer und ungebildeter – und haben kaum Aufstiegschancen. Sie erleben, so hat etwa das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen herausgefunden, mehr Prügel in der Familie und sind selbst schneller bereit, Konflikte mit der Faust auszutragen. Die Hälfte lernt nur noch in heruntergekommenen Hauptschulen, deren Lehrer (siehe Rütli-Schule) mit den Kids nicht mehr zurande kommen. Nachmittags sitzen viele vor Gewaltspielen. Sie beziehen ihr Geld immer öfter vom Sozialamt, sprechen schlecht Deutsch, sind fast Analphabeten. Sie blicken auf ihre Großeltern, die es trotz harter Arbeit nicht geschafft haben, in Deutschlands Elite anzukommen. Wenn keine sozialen Reformen einsetzen, so warnen die Soziologen, wird diese dritte Generation keinen Platz mehr in Deutschlands „Mitte“ finden – und sie wird weitgehend unter sich bleiben – und einer Macho-Kultur angehören, die abends im Kino beim „Tal der Wölfe“ applaudiert, wenn Juden sterben.
Viele gebürtige Deutsche werden sie deshalb für antisemitische Terror-Sympathisanten halten – obwohl das natürlich Quatsch ist. Muslime haben – obwohl sie das durchaus wünschen – statistisch gesehen keine deutschen Freunde. Sie vertreten zunehmend andere Welt-, Frauen- und Familienbilder.
Das Bundesfamilienministerium befragte kürzlich 143 türkische Frauen über ihre Ehepartner. Jede Zweite (!) gab an, dass ihr Ehepartner von den Eltern ausgesucht worden sei. Jede vierte (!) Frau sagte, sie habe ihren Mann vor der Ehe nicht gekannt. Wie soll Deutschland darauf reagieren? Niemand weiß es so genau. Erst langsam dämmert dem Land, dass es ein Einwanderungsland ist und dass soziale Fragen einfach nicht beantwortet, ja nicht einmal gestellt wurden. Zum Glück gibt es (noch?) keine Populisten wie Haider in Osterreich, die offen zu hetzen beginnen – die NPD ist ein Phänomen des Ostens, wo es kaum Muslime gibt. Die Politik versucht diesen Missstand derweil durch typisch deutsche Bürokratie zu beheben. Da entwerfen Einwanderungsbehörden kafkaeske Fragebögen, halb Quiz, halb Verhör, um die künftigen Bürger Deutschlands auf ihre Werte und ihr Verhältnis zu Deutschland hin abzuklopfen. Da sollen Gastarbeiter plötzlich „drei Flüsse, drei Philosophen, drei Mittelgebirge“ nennen oder die „Rechte Homosexueller“ und das „Existenzrecht Israels“ erläutern – als ob sie deshalb bessere Bürger wären. In Wahrheit schreckt das jene ab, die sich schon für Deutschland entschieden haben. Hinter solchen Skurrilitäten steckt freilich Rat- und Orientierungslosigkeit.
Sowohl Linke als auch Rechte erkennen, dass die Integration selbst der dritten Generation nicht mehr klappt: weil Muslime zu wenig gefordert wurden, wie die Rechten klagen. Und weil sie zu wenig gefördert wurden, wie die Linke moniert. Wohin das führen kann? Französische Verhältnisse, Aufstand der Vorstädte – das wäre ein Szenario. Doch die französischen Einwanderer kämpften immerhin darum, als Bürger Frankreichs akzeptiert zu werden. Es gibt auch das britische Szenario: Im linksliberalen „Guardian“ wurde kürzlich eine Studie zitiert, wonach 30 Prozent der Londoner Muslime (sie galten als besonders gut integriert) Verständnis für die Ziele der sogenannten „Homegrown Terrorists“ aufbringen, also in England geborene Islamisten, die in Londons Bussen und U-Bahnen Briten in die Luft sprengten.
Und Deutschland? Die Türken, so beruhigen Verfassungsschützer, sind kemalistischer, weniger fanatisch eingestellt – deshalb kann man sie mit den Extremisten in anderen Ländern nicht vergleichen. Eine aktuelle Studie der konservativen Konrad Adenauer Stiftung über kopftuchtragende Frauen hält fest, dass die Köpfe unter dem Tuch völlig „normal“ denken. Also alles okay. Nicht ganz: Vergangenes Jahr befragte das „Islamarchiv e. V.“ ein paar hundert Muslime, ob sie Grundgesetz und Koran für vereinbar halten. Nur 41 Prozent stimmten zu. 2004 war das Ergebnis noch ganz anders ausgefallen: Zwei Drittel hatten damals die rechtsstaatliche Verfassung und den Koran für vereinbar gehalten. Irgendetwas verändert sich da. Die progressive Antwort auf all das? Man kann es kurz fassen: It«s the economy, stupid! Ausbildung, Sprache und Demokratieverständnis müssen forciert werden – am besten schon im Kindergarten. Ghettos müssen „aufgebrochen“, Migranten-Kinder früh gefördert und mit neuen Vorbildern ausgestattet werden.
„Der kleine Mehmet muss die Chance bekommen, mit Max und Moritz zu spielen“, sagt der Kriminologe Christian Pfeiffer. Er muss „spielend Deutsch lernen und deutsche Freunde finden“. Vor allem müssen auch seine Eltern dazu angehalten werden, in die Gesellschaft zu gehen, um diese kennenzulernen. Und umgekehrt müssen Deutsche erkennen, dass es „die Muslime“ nicht gibt, sondern dass ein wachsendes Heer von desorientierten Jugendlichen existiert, die von radikalen, antisemitischen Fanatikern im Fernsehen und Internet aufgestachelt werden. Diese Jungs muss man aus den radikalen Moscheen holen, man muss um sie werben. Dann werden auch liberale Politologen keine so große Angst mehr haben, wenn ein Muslim etwas anderes isst, anders betet oder ganz anders aussieht.



Florian Klenk ist Redakteur für „Die Zeit“.

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Oktober 2006
> Link: REPORT online > Link:florianklenk.com/-