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Von Radek Knapp.

Ein Ausländer in Polen - eine literarische Gebrauchsanweisung

Ein Text von Radek Knapp, dem Autor von „Franio“ (und „Herrn Kukas Empfehlungen“

Nun, wo Sie die Grenze überschritten haben und kurz davor stehen, Ihrem ersten Polen zu begegnen, sollten Sie unbedingt ein paar Dinge über ihn wissen.

Die Polen benehmen sich in ihrer Heimat ganz anders als im Ausland. Und vor allem sehen sie gar nicht so ausländisch aus, wie sie es in Deutschland oder Frankreich zu tun pflegen. In ihrem eigenen Land wirken sie wie normale Leute und benehmen sich auch so. Sie fahren mit Bussen zur Arbeit, sitzen in Cafés und plaudern über das Wetter. Am Abend sehen sie fern oder gehen ins Kino. Das ist jedoch nicht die einzige Veränderung, die Sie wahrnehmen werden. Die andere wäre, dass Sie jetzt der Ausländer sind und es bald auch zu spüren bekommen. Die Polen sind sehr sensibilisiert, was den Umgang mit Ausländern angeht. Eine Eigenschaft, die man übrigens mit den Westeuropäern teilt, wenn auch mit einem ganz anderen Resultat. Im Westen ist das Erscheinungsbild eines Ausländers klar umrissen. Man versteht darunter ein zumeist dunkelhäutiges Individuum, ausgestattet mit einem gesunden Appetit auf Heroin und unsere Steuergelder sowie einer diabolischen Fähigkeit, unseren blonden Walküren den Kopf zu verdrehen. In Polen ist es andersrum. Ein Ausländer ist ein edles, großzügiges Individuum, das aus einer Welt kommt, die noch in Ordnung ist. Zum einen liegt es an der Gastfreundschaft, die ein Markenzeichen der slawischen Seele ist – wenn in Polen zu Ihnen jemand „Dzien Dobry“ sagt, was soviel wie „Guten Tag“ bedeutet, dann meint er es auch so. In …sterreich hingegen ist das „Grüß Gott“ nur ein Anlass, sich aus dem Staub zu machen, in Deutschland so unbedeutend wie das Gähnen nach dem Aufwachen und in Frankreich existiert das „Bonjour“ nur noch in einem Vier-Sterne-Hotel. Die polnische Ausländerbewunderung hat allerdings auch tiefe geschichtliche Wurzeln. Durch die 40-jährige Trennung von Westeuropa bekam das Wort „Ausländer“ einen geheimnisvollen und reizvollen Beiklang. Egal, wer damals nach Polen kam, ob es ein französischer Rauchfangkehrer oder deutscher Briefträger war, es war in erster Linie ein Westler. Also jemand, der zwei Farbfernseher, einen Mercedes-Diesel besaß und womöglich nicht länger als zwei Tage zuvor echte Schokolade gegessen hatte. Diese 40 Jahre bedingungsloser Huldigung an den Westler haben in den meisten Polen eine Menge pawlowscher Reflexe hinterlassen, unter denen der unerschütterliche Glaube an den guten Fremden einer von vielen ist. Es gibt wahrscheinlich kaum ein zweites Land in Europa, wo die Einheimischen selbst sich so gerne und so oft als Ausländer ausgeben würden. Würde sich jemand die Mühe machen, alle Anrufe zu zählen, die täglich in polnischen Amtern oder Banken eingehen, würde er staunen, wie viele Ausländer sich gerade in Polen aufhalten. Es ist geradezu slawischer Volkssport, sich mit starkem englischen oder französischen Akzent in einem Amt zu melden und dort nach einer Auskunft zu verlangen. Man bekommt dann die Auskünfte nicht nur schneller als üblich, es ist auch umgekehrt für das Schalterfräulein oder den Zugauskunftsbeamten viel aufregender, John Miller aus Wisconsin als irgendeinem Jan Nowicki aus Mokotow behilflich sein zu dürfen. Für den Westeuropäer klingt das alles wie nach einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Es ist schließlich unüblich, dass Herr Müller sich bei einem Münchner Arbeitsamt am Telefon als Kemal …zdogan ausgibt. In Polen kann einem kaum etwas Besseres passieren, als ein Ausländer zu sein. Es wäre also kontraproduktiv, sich auf den Straßen Warschaus oder Krakaus als ein Pole durchschmuggeln zu wollen. Mit dem Überschreiten der polnischen Grenze haben Sie ein mächtiges Privileg erhalten – nämlich aus einer anderen Wirklichkeit zu kommen. Sie müssen nicht all diese Dinge tun, auf die die Polen in der Fremde peinlich achten. Verbergen Sie nicht Ihren Akzent und zögern Sie keinesfalls, einen Einheimischen nach der Straße zu fragen. Seien Sie einfach Sie selbst: ein Ausländer.



Aus: Radek Knapp„Gebrauchsanweisung für Polen“© Piper Verlag, München 2005
Radek Knapp, geboren 1964 in Warschau, lebt seit 30 Jahren in Wien. Seit 1994 ist er als Autor tätig. Neben Beiträgen für verschiedene Zeitungen und Anthologien hat er zahlreiche Bücher verfasst, unter anderen den Erzählband „Franio“ (Deuticke, Wien 1994) und den Roman „Herrn Kukas Empfehlungen“ (Piper Verlag, München 1999).
Wir empfehlen auch: Jiří Gruša„ Gebrauchsanweisung für Tschechien und Prag“Piper Verlag, München 2003


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Oktober 2006
> Link: REPORT online > Link: Piper Verlag-