Aktuell *Ost Über Uns Archiv Impressum English




Von János Mátyás Kovács..

Was ist „wahre“ Solidarität?

Ein Essay von János Mátyás Kovács.

Glaubt irgendjemand noch an die Solidarität zwischen den „zwei Europas“? Über unterschiedliche Definitionen dieses emotional besetzten Begriffs in „Ost“ und „West“.
Ein Essay von János Mátyás Kovács.


Eines ist sicher: Auch Leute, die meinen, das Konzept europäischer Solidarität sei zweideutig und werde überstrapaziert, reden gerne über sie. Ich fürchte, auch ich gehöre zu dieser Gruppe. Meine einzige Entschuldigung ist, dass ich Solidarität nicht predige, sondern nur den Solidaritätspredigten anderer zuhöre. Acht ehemals kommunistische Länder werden in Kürze der Europäischen Union beitreten und damit Teil dessen werden, was sie so lange als den »Westen« glorifiziert oder dämonisiert haben. Und wie bei den früheren EU-Erweiterungen ist auch dieses Mal der Solidaritätsdiskurs ein wesentlicher Bestandteil des dabei inszenierten Übergangsrituals. Eigentlich müsste man dieses Ritual mit kühlem Kopf einer unparteiischen Analyse unterziehen. Aber als osteuropäischer Bürger kann ich nicht versprechen, diesem Erfordernis voll gerecht zu werden.

Mein Beitrag beschäftigt sich mit den rivalisierenden Interpretationen, die die beiden Hälften Europas mit »wahrer« Solidarität verbinden. Ich werde im Folgenden zwei dominante Diskurse idealtypisch unterscheiden, den romantischen (»östlichen«) und den pragmatischen (»westlichen«), wobei Ersterer auf eher altruistischen, Letzterer auf eher utilitaristischen Erwägungen beruht. Die überdeutliche Bipolarität der Realtypen dieser Diskurse, wie sie in Deutschland etwa im sprichwörtlichen Konflikt zwischen »Ossis« und »Wessis« zum Ausdruck kommt (1), rechtfertigt meines Erachtens mein Vorgehen, das Simplifikationen frönt und gegen alle möglichen Wissenschaftsstandards verstößt. (2) Ich argumentiere mit einem primitiven Zwei-Akteure-Modell und benutze die Worte »Osten« und »Westen« zur Repräsentation sehr unterschiedlicher Handlungssubjekte: die beteiligten Länder; Brüssel und die EU-Mitgliedstaaten; die alten und die neuen Mitglieder; die Kandidaten und die »Ausgeschlossenen«; die Eliten und die breite Bevölkerung; die Regierungs- und die Oppositionsparteien; Politik, Wirtschaft und die Wissenschaft; etc. Meine Untersuchung zur Solidarität bewegt sich darüber hinaus in einem schwer definierbaren transnationalen Bezugsrahmen, das heißt, ich erforsche ein Feld, auf das nicht umstandslos übertragen werden kann, was zur Analyse von Umverteilungspraktiken auf nationaler Ebene, in sozialen Gruppen oder in Familien an Methoden entwickelt wurde. (3) Glücklicherweise muss ich ja nicht die tatsächlich praktizierte Solidarität zwischen den beiden Akteuren bewerten, sondern »nur« die zugrunde liegenden Differenzen im Solidaritätsverständnis herausarbeiten.

Eine Überraschung
Im Kommunismus war Solidarität eher ein Thema für schwarzen Humor als Gegenstand gelehrter Untersuchungen. Ein altruistisches Verständnis transnationaler Solidarität war unter Bedingungen »erzwungener Solidarität« schlicht unvorstellbar. Schon der Name des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe und die sowjetische Parole druzhba narodov gaben genügend Anlass zu Sarkasmus. Hier mein Lieblingswitz über »sozialistische Brüderlichkeit«: »Ein russischer und ein ungarischer Soldat finden während eines gemeinsamen Manövers eine Tafel Schokolade. Sie haben großen Hunger. Sagt der russische Soldat feierlich: ›Wir wollen sie brüderlich teilen.‹ ›Gott behüte‹, antwortet da der Ungar, ›teilen wir sie halbe-halbe.‹« Die Botschaft ist klar: Wo Solidarität nichts als eine Farce ist, wird gleiches Teilen zur einzigen praktikablen Form von Gerechtigkeit. In Osteuropa brauchte man dieses Prinzip bis zur Entstehung von Solidarnosc in keiner Weise zu nuancieren. (4)

Diese Spielart des Anti-Kommunismus war für mich eine große Herausforderung. Als ungarischer Ökonom hatte ich mich von der sozialistischen Marktwirtschaft ab- und dem liberalen Kapitalismus zugewandt und sah nicht ein, weshalb ich auf halbem Wege, bei einer ziemlich korporatistischen Version der sozialen Marktwirtschaft, stehen bleiben sollte. Die Gedankenwelt von Solidarnosc wurzelte in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, gleich, ob marxistisch, anarchistisch oder christsozial, und legte den Schwerpunkt auf den Schutz und die Emanzipation des schwächeren Teils der Gesellschaft. Im Laufe der Revolutionen von 1989 gewann dieser Solidaritätsbegriff abermals transnationale Bedeutung, insbesondere mit Blick auf die ostdeutschen Flüchtlinge und die rumänischen Rebellen. Die innere Stimmigkeit des polnischen Anti-Kommunismus und sein auf den gesamten Ostblock ausstrahlender Sieg machten es mir damals unmöglich, Solidarität à la Solidarnosc mit einer resignierten Geste unter der Rubrik »Sozialromantik« abzuhaken.

Indes schwand die Anziehungskraft »nicht erzwungener Solidarität« in unserer Region erstaunlich rasch (irgendwann zwischen den ersten internen Streitigkeiten von Solidarnosc, der Abwicklung der ehemaligen DDR und dem Ausbruch des Kriegs in Jugoslawien) und so kehrte ich zu meinem gewohnheitsmäßigen Misstrauen gegenüber angeblichen altruistischen transnationalen Beziehungen zurück, worauf auch immer sie sich berufen mögen. Begriffe wie Realpolitik, Geostrategie, Interessen der Supermächte und dergleichen schienen mir weit tragfähiger als Konzepte von europaweiter oder transatlantischer Brüderlichkeit.

Zu meiner Überraschung musste ich im Laufe meiner Beschäftigung mit der zeitgenössischen Ideengeschichte Osteuropas feststellen, dass der Solidaritätsbegriff im Kontext der EU-Erweiterung wiederaufgelebt ist. Es war weniger dieses Wiederaufleben, das mich erstaunte, als die Tatsache, dass sich beiderseits des einstigen Eisernen Vorhangs zwei rivalisierende Solidaritätsdiskurse herausgebildet haben, die sich, wie in einem Gespräch zwischen zwei Schwerhörigen, gegenseitig hochschaukeln, ohne zu einer Verständigung zu führen.

Um ein aktuelles Beispiel zu nehmen: Bei meiner Arbeit an einer vergleichenden Studie über acht Länder, die sich mit deren Wirtschaftskulturen im Spannungsfeld zwischen Ost und West befasst (5), stelle ich jeden Tag aufs neue erstaunt fest, wie sehr die Erzählungen unserer Interviewpartner von ihrer jeweiligen Vorstellung von europäischer Solidarität geprägt sind, gleichgültig ob wir mit Unternehmern, Beamten oder Ökonomen (den drei Zielgruppen unseres Forschungsprogramms) sprechen, gleichgültig auch ob sie aus dem Osten oder aus dem Westen kommen. In ihren Mikro-Erzählungen schwingen stets zwei Makro-Erzählungen mit, die beide von der Kosten-Nutzen-Verteilung zwischen Ost und West handeln, mit einer Betonung auf dem turbulenten Spiel um die EU-Erweiterung. Ich nenne diese beiden Diskurse die »Rhetorik des Ressentiments« und die »Rhetorik der Indifferenz« - und überlasse es dem Leser, zu erraten, welcher Diskurs welchem Teil Europas zuzuordnen ist. (6) Obgleich die beiden Rhetoriken argumentativ und stilistisch scharf kontrastieren, sind die jeweiligen Sprecher praktisch austauschbar, da sie ähnlich ambivalente Überzeugungen ausdrücken, gleich, in welchem der drei angesprochenen Felder sie tätig sind. Weder im Osten noch im Westen lässt sich heute noch deutlich unterscheiden, ob eine gegebene Solidaritätserzählung von einem gemäßigten Populisten, einem pragmatischen Konservativen, einem sozialistischen Pragmatiker oder einem frustrierten Liberalen stammt. (7)

Im östlichen Teil des Kontinents vertreibt man sich die Zeit schon lange damit, über den ost-westlichen Güter- und Kulturaustausch zu sinnieren, sei es aus Westler-Perspektive oder aus einer national-populistischen, von den unzähligen Mischformen ganz zu schweigen. (8) Doch am Vorabend der EU-Osterweiterung kann es sich auch ein politisch denkender Westeuropäer nicht länger leisten, die Problematik der Ost-West-Transaktionen mit vornehmem Schweigen zu bedenken. Im Westen entsteht ein dominanter Diskurs, der sich vom Bisherigen teilweise unterscheidet und sich mit dem Interessenausgleich zwischen den alten und den neuen Mitgliedstaaten beschäftigt. (9) Zu hoffen ist, dass dieser Diskurs den üblichen »Orientalismus« (10) baldmöglichst hinter sich lässt.

Auf das Henne-und-Ei-Problem, wie der Dialog zwischen den Vertretern der östlichen und der westlichen Rhetoriken begann, werde ich mich nicht einlassen. Glaubt man den Westlern, so begann er mit östlichen Beschwerden und emotional aufgeladenen Unterstellungen; glaubt man den Ostlern, begann er mit nicht erfüllten westlichen Versprechungen. Fest steht jedenfalls, dass die westliche Seite entweder mit tiefem Schweigen antwortete - worin schlechtes Gewissen, Empörung oder Gleichgültigkeit zum Ausdruck kommen mochten - oder aber den Dialog mit einer Aufzählung der beiderseitigen Vorteile eines EU-Beitritts sowie einer Einführung in die Kunst des social engineering in transnationalen Gemeinschaften fortsetzte. Im Gegensatz zum »Eingeladenen« ließ sich der »Einladende« nicht so häufig zu hitziger Rhetorik hinreißen, eine Zurückhaltung, die ihm kraft seiner starken Verhandlungsposition nicht schwer fiel. (11)

Während die Repräsentanten der beiden Solidaritätsdiskurse verdrossen aneinander vorbeiredeten, nahmen die Beitrittsverhandlungen ihren bekannten Lauf. Die asymmetrische Position der Verhandlungspartner legt es nahe, dass die Rhetorik des Ressentiments erdacht wurde, um den Schmerz der Unterlegenheit zu lindern und einige Ausnahmen von den Beitrittsregeln zu erwirken. Die Rhetorik der Indifferenz wiederum schien als Rechtfertigungsdiskurs zu dienen, um die Unmöglichkeit weiterer Zugeständnisse zu demonstrieren. Ich möchte nicht so weit gehen und beide Rhetoriken etwas wohlwollender betrachten. Vom ideologischen Hickhack des politischen Tagesgeschäfts einmal abgesehen, vermute ich als Grund der divergierenden Solidaritätsdiskurse tief sitzende Überzeugungen, die durch rationale Motive verstärkt werden, will sagen: Beweggründe, die tief in vergangenen Erfahrungen wurzeln und nicht notwendig dem Zweck der Manipulation oder Selbsttäuschung dienen. Wie bei den meisten Übergangsriten zeigen sich zwischen den Beteiligten an den beiden Enden des Übergangs auch hier große Deutungsunterschiede. Dass es den divergierenden Deutungen nicht an Fantasie fehlt, dass sie eine große Vielfalt an Symbolen bemühen und darüber hinaus rivalisierende Rationalitätskonzepte ins Spiel bringen, darf den Beobachter nicht dazu verführen, bei den Protagonisten dieses Dialogs allenthalben Verschwörungsabsichten und Massenpsychosen am Werk zu sehen.

Im Folgenden möchte ich vier Aspekte untersuchen:
- die semantischen Wurzeln der divergierenden Auffassungen von Solidarität,
- die Schwierigkeiten, Solidarität zu definieren und zu messen,
- die Bestandteile der beiden Solidaritätsrhetoriken,
- die Chancen gegenseitiger Annäherung.


Zwischen zwei Vokabularien

Angesichts des Eindrucks, dass die Dialogpartner aneinander vorbeireden, ist ein Griff zum Wörterbuch vielleicht hilfreich. In englischen Wörterbüchern findet man unter dem Stichwort »Solidarität« folgende Definitionen: unity or agreement, especially among individuals with a common interest, sympathies or aspirations; mutual dependence; mutual support or cohesiveness within a group; complete or exact coincidence of interests; an entire union or consolidation of interests and responsibilities; fellowship; community; combination or agreement of individuals, as of a group; complete unity, as of opinion, purpose, interest, feeling; agreement between and support for the members of a group, especially a political group. (12)

Offenkundig ist das Wort »Solidarität« im Englischen nicht notwendig mit dem altruistischen Aspekt von fraternité und Philanthropie konnotiert. Die Betonung liegt eher auf Interessengemeinschaft, gegenseitiger Abhängigkeit und Einigkeit (und daraus folgend esprit de corps) als auf der Unterstützung anderer. Die Adjektive solidary und solidaristic sind im Englischen selten, und wo die Bedeutung von »solidarisch« wirklich gebraucht wird, mag das französische Original solidaire eher angezeigt sein.

Ich will gerne einräumen, dass mir diese Besonderheit bis vor kurzem nicht bewusst war - weshalb ich das Wort »Solidarität« im Englischen bisher mit einem ganzen Bündel von Worten umschrieben habe, die sämtlich mit der Silbe »co« beginnen: companionship, cohesion, compassion, consensus. Das erklärt sich aus meiner Muttersprache, dem Ungarischen, aber auch aus dem allgemeineren Kontext mittelosteuropäischer Traditionen insgesamt. Im Ungarischen kann man nicht aus Eigeninteresse mit jemandem solidarisch sein, auch nicht auf der Grundlage einer nüchternen Abwägung »gegenseitiger Abhängigkeit« oder einer »Einheit von Interessen und Verantwortlichkeiten«. Eine geschäftliche Abmachung oder ein politisches Abkommen mögen gegenseitige Abhängigkeit widerspiegeln oder auf wechselseitigen Zugeständnissen beruhen; Solidarität jedoch ist wesentlich durch Uneigennützigkeit bestimmt, sie impliziert die Unterstützung des Schwächeren und geht zumindest mit einem kleinen Opfer einher, von dem man sich keine materielle Belohnung erwartet. Was man durch die Unterstützung anderer gewinnt, ist bestenfalls eine moralische Gratifikation. Daher kann man auch nicht mit dem Stärkeren oder Mächtigeren solidarisch sein, würden meine Landsleute hinzufügen.

In Anbetracht der verwirrenden Bedeutungsunterschiede zwischen anglo-amerikanischen und ungarischen Wörtern derselben lateinischen oder französischen Herkunft mag es angeraten sein, einen Blick in Wörterbücher der deutschen Sprache zu werfen. Es verwundert kaum, dass dort unter dem Eintrag »Solidarität« Begriffe wie »Unterstützung«, »Opfer«, »Brüderlichkeit« und »Nächstenliebe« dominieren. Im Wahrig und im Duden beispielsweise begegnet man Synonymen wie »gemeinsam«, »einig« und »fest verbunden«. Gleichzeitig liegt die Betonung auf dem »Solidaritätsprinzip« der katholischen Soziallehre (Theorie des Solidarismus), in der »wechselseitiges Füreinander-Eintreten (einer für alle, alle für einen)« und »soziale Ausgleichsprozesse« im Vordergrund stehen. Des Weiteren wird strikt zwischen »Interessensolidarität« (siehe »Solidarhaftung« und »Solidarschuldner« im Unternehmensrecht) und »Gemeinschaftssolidarität« unterschieden. (13)

Auf einen sprachlichen Graben war ich gefasst, doch nun fiel ich in einen kulturellen Abgrund. Die Hoffnung auf gegenseitiges Verständnis zwischen Ost und West, so dachte ich, sei nur dann begründet, wenn der im Westen dominante Diskurs die anglo-amerikanische (liberale) Sichtweise von Solidarität mit der (sozialliberalen oder konservativen) Ausdeutung verbindet, wie sie in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern Tradition hat. Nun jedoch erwies sich alles als viel komplizierter, und dies nicht nur, weil man sich im Dschungel der kommunitaristischen, egalitär-liberalen etc. Theorien so leicht verlieren kann.

Solidarität messen?
Mit den verwickelten Problemen der Solidaritätsmessung, die auftauchen, wenn sich zwei Parteien nicht einmal auf die Bedeutung des Begriffs »Solidarität« einigen können, möchte ich den Leser nicht allzu sehr behelligen. Selbst im bestmöglichen Fall, dass sich der EU-Beitritt als Positivsummenspiel herausstellt, wird man weiter darüber streiten, ob man eine Win-Win-Situation als die Quintessenz von Solidarität bezeichnen kann. Die typische Antwort eines Westlers würde in etwa folgendermaßen lauten: Da diese vorteilhafte Situation ein Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen auf der Grundlage gemeinsamer Interessen und Wertvorstellungen ist, sind wir definitiv solidarisch miteinander. Synergieeffekte sind die wichtigste Voraussetzung für Solidarität; Umverteilung, das heißt, Opfer von unserer Seite, gehören nicht unbedingt dazu. Wer von Unterstützung sprechen will, kann dieses Wort durchaus gebrauchen, denn im vorliegenden Fall hilft die stärkere Seite der Schwächeren ja tatsächlich, aber eben durch Zusammenarbeit zum beiderseitigen Vorteil.

Der Osteuropäer würde darauf folgendermaßen antworten: Eine Win-Win-Situation ist nur dann Ausdruck von Solidarität, wenn der schwächere Teil relativ gesehen mehr gewinnt als der stärkere Teil, Zusammenarbeit also mit Umverteilung einhergeht. Am Ende wird der Osten den Vorsprung des Westens vielleicht aufholen. Sollte uns dies aber ohne Umverteilung gelingen, so kann von »echter« Solidarität keine Rede sein. Im entgegengesetzten Fall, wenn der Osten von der Win-Win-Situation vergleichsweise weniger profitiert als der Westen, wird der Westeuropäer immer noch von Solidarität sprechen, während der Osteuropäer sich fragen wird, warum der Westen dem Osten nicht einen Teil seines Gewinns abgibt, um den Abstand zu verringern. Weshalb sollte man eine Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich in Europa als ein Zeichen von Solidarität interpretieren, wird er sich fragen. Ist es nicht vielmehr so, dass in diesem Fall die Neumitglieder auf verdrehte Weise mit den stärkeren Altmitgliedern solidarisch sind?

Fragen über Fragen, und dabei haben wird das Problem absoluter Zugewinne und die Spiele ohne Happy End - die Win-Lose und die Lose-Lose-Situation - noch gar nicht erörtert. Aber bleiben wir bei der ziemlich optimistischen Annahme einer Win-Win-Situation. (14) Es könnte der Fall eintreten, dass sich die beiden Seiten nicht über die Höhe des Opfers einigen können. Der Osteuropäer könnte sich bescheiden (oder diplomatisch) geben und den Westen nur um ein relativ kleines Opfer bitten, weil er weiß, dass angesichts der derzeitigen Ost-West-Unterschiede auch ein absolut gesehen kleines Opfer des Westens für den Osten auf eine relativ gesehen große Unterstützung hinausliefe, die den Aufholungsprozess nicht unerheblich beschleunigen würde. Er könnte den Westen aber auch herausfordern und ein willkürlich gewähltes Aufholungstempo als unbedingte Voraussetzung von Solidarität ansetzen und davon die absolute Höhe seiner Unterstützungsforderung ableiten. Der Westen wiederum kann aus einem reichhaltigen Repertoire an Antworten schöpfen, angefangen von der trockenen Botschaft »sei froh, dass du nicht verlierst« bis hin zu einer Haltung, die ich als »realistische Großzügigkeit« bezeichnen möchte. Ich meine damit die Anwendung des elastischen Grundsatzes: Gib dem Osten so viel wie nötig, um ihn (und die erweiterte Union) vor dem Niedergang zu bewahren, und so viel wie möglich, ohne die Stabilität des Westens zu gefährden. Die Elastizität dieses Grundsatzes kann sich vor allem bei einer Win (Ost)-Lose (West)-Situation zeigen.

Bei jeder Variante stellt sich die Frage, was unter Gewinn zu verstehen ist. Was soll überhaupt umverteilt werden und in welcher Weise? Einkommen? Reichtum? Chancen? Materielle oder geistige Güter? In welchem Zeitrahmen soll die Verteilung stattfinden? Eine Seite mag kurzfristig verlieren, langfristig aber gewinnen. Gewinnen kann auch bedeuten, weniger zu verlieren als bei Nichtbeteiligung. Das Beitrittsspiel besteht aus zahlreichen Teilspielen. Sind die Gewinne in diesen Teilspielen wirklich messbar und miteinander vergleichbar? Wie berechnen wir zum Beispiel die Souveränitätsverluste der Neumitglieder und wie vergleichen wir das Ergebnis mit den erhöhten Agrarsubventionen? Auch wenn man das Plus und Minus in ein und demselben Bereich, sagen wir der Souveränität, betrachtet, ergeben sich vermutlich unüberwindliche Messprobleme. Können wir die Souveränitätseinbußen, die mit der Übernahme des geltenden Gemeinschaftsrechts einhergehen, in einsichtiger Weise mit den Souveränitätszugewinnen vergleichen, die dasselbe Gemeinschaftsrecht im Hinblick auf die Gewährung neuer Freiheiten bringt?

Gehen wir einmal vom Unmöglichen aus und nehmen wir an, alle kurz- und langfristigen Gewinne der EU-Erweiterung ließen sich in beiden Hälften der europäischen Wirtschaft quantifizieren. Wir kennen nicht nur alle Preisindizes, Außenhandelszahlen und Beschäftigungsindikatoren, sondern auch das Geldäquivalent aller indirekten Auswirkungen des wirtschaftlichen Wandels auf die Luftverschmutzung, die Lebenserwartung und die Migrationsbereitschaft. Auch die Bilanz aller politischen und soziokulturellen Transaktionen zwischen Ost und West sei exakt bekannt. Nehmen wir des Weiteren optimistisch an, die Neumitglieder seien am Ende des Tages in jeder Hinsicht des Gebens und Nehmens Nettoempfänger. Selbst in diesem Paradies werden wir die Osteuropäer klagen hören: »Der Solidaritätsbegriff darf nicht durch eine zwar weitsichtige und allumfassende, aber dennoch rein technokratische Kalkulation instrumentalisiert werden. Ihr Westler seid nicht wirklich solidarisch, wenn ihr uns einen Scheck über tausend Milliarden Euro ausschreibt, ihn dann aber zu Boden fallen lasst, damit wir uns vor euch bücken.«

Die Rhetorik des Ressentiments
Der westliche Leser mag die Scheck-Metapher lächerlich finden, das Gefühl der Demütigung übertrieben und den Schaden dessen, was die Osteuropäer als Unhöflichkeit betrachten, reparabel. Er wird sich mit der optimistischen Ansicht beruhigen: »Früher oder später werden die Synergieeffekte des Einigungsprozesses sie von ihrer Überempfindlichkeit heilen, wie es auch im Fall von Spanien und Portugal und zuletzt in Ostdeutschland der Fall war.« Die Beitrittsmüdigkeit (15) wäre natürlich weniger verbreitet, könnte sich Osteuropa sicher sein, dass der erwähnte Scheck tatsächlich ausgestellt ist. Doch bislang ward in Budapest, Prag oder Warschau noch kein dicker Scheck gesehen und dies könnte durchaus bedeuten, dass auch nie einer ankommen wird.

Es ist in Osteuropa heute relativ leicht, auch ohne populistische Demagogik folgende Vorhersagen für wahrscheinlich zu halten:
- Angesichts der weniger günstigen Ausgangsbedingungen lassen sich die Erfolgsgeschichten früherer Erweiterungsrunden nicht wiederholen.
- Die Neumitglieder werden im Armenhaus der Union sitzen, herausgerissen aus ihrer natürlichen (osteuropäischen) Umgebung. Die Besten der derzeitigen Outsider werden als EU-Insider zu den Leistungsschwächsten gehören.
- Die Bestimmungen der EU werden das Wirtschaftswachstum in Osteuropa verlangsamen, die unternehmerischen Fähigkeiten der neuen Kapitalisten der Region ins Leere laufen lassen und hocheffiziente Wirtschafts- und Sozialordnungen zerstören, wie sie nach dem Fall des Kommunismus unter dem Einfluss der Globalisierung bzw. Amerikanisierung entstanden.
- Niemand kann uns garantieren, dass wir mit dem EU-Durchschnitt gleichziehen werden. Das Beispiel Ostdeutschland zeigt aufs deutlichste, dass kein ehemals kommunistisches Land hoffen kann, den Vorsprung des Westens innerhalb einer Generation aufzuholen – selbst wenn jedes Jahr ein dicker Scheck kommt.

Der vorliegende Beitrag will keine Kosten-Nutzen-Analyse der EU-Osterweiterung aufstellen. Er will auch nicht darüber urteilen, ob das Gefühl der Demütigung und die Neigung zu düsteren Zukunftsszenarien in weiten Teilen der Bevölkerung Osteuropas gerechtfertigt ist oder nicht. Wie dem auch sei, jedenfalls zirkuliert bereits eine detaillierte Leidensgeschichte des Beitrittsprozesses, die in der Region mit ritueller Inbrunst erzählt wird. (16) Sie sei hier kurz rekonstruiert.

Die Geschichte über die angeblichen Missetaten des Westens hebt an mit der »Erbsünde«, dass er die sich mit 1989 eröffnende Option einer raschen europäischen Wiedervereinigung verwarf und durch eine schrittweise Integration ersetzte. (17) Die Große Illusion, man werde in gemeinsamer Anstrengung die gute Gesellschaft erfinden, wich dem langweiligen Alltagsgeschäft bürokratischer Kompromissfindung. (18) In der Tat betrachtete der Westen die EU-Mitgliedschaft weder als quasi-natürlichen Anspruch, der einem Land kraft seiner geographischen Lage zukomme, noch als moralischen Ausgleich für das unter dem Kommunismus erfahrene Leid. Viele Osteuropäer erinnern ihre vergangene Drangsal aber als Dienst am Westen. Der Kontext dieser Wahrnehmungsweise wurde bereits vor Jahrhunderten gesetzt (man denke an das Bild der Pufferzone zwischen Zivilisation/Christenheit und Barbarei).

Dass die Bürger Osteuropas eine sofortige Wiedervereinigung im Jahr 1989 als mutigen Akt der Solidarität seitens der »glücklichen Hälfte« Europas geschätzt hätten, versteht sich von selbst. Wiederholt versuchten sie, den Westen zu überzeugen, dass dies geringere Opfer erfordern würde als eine schrittweise Lösung. Sie verwiesen auf die Gefahr einer kommunistischen Restauration, gaben eine mögliche Destabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in der Pufferzone zu bedenken und machten nicht ohne Selbstironie geltend, es sei gefährlich, »böse Kinder« zum Spielen im Hof zu lassen. »Wir machen draußen viel größeren Lärm als drinnen unter strenger Aufsicht«, sagten sie. »Und morgen werden wir mehr Dreck an den Schuhen hereintragen als heute. Bedenkt doch«, so fuhren sie fort, »wenn ihr uns zu lange im Kalten warten lasst, werdet ihr euch in eurer neuen Familie mit erschöpften und zornigen Jugendlichen herumschlagen müssen.«

Die Vision, dass der Westen sein Glück mit den Glücklosen im Osten teilt, war nicht nur ein sentimentaler Wunschtraum vieler Osteuropäer, sondern wurde während des Kalten Kriegs auch von nicht wenigen westlichen Politikern und prominenten Intellektuellen propagiert. Seither findet die Theorie, dass man »vom Westen im Stich gelassen wurde« - im Osteuropa von jeher ein integraler Topos jeder Rhetorik des Ressentiments -, wieder einmal offene Ohren. Und dies umso mehr als der Westen unmittelbar nach seinem »Treuebruch« 1989 in der Region viel aktiver wurde, teils als politischer Verbündeter der künftigen Nato- und EU-Mitglieder, teils - und dies eher rhetorisch - als kultureller Weggefährte der alten osteuropäischen Nationen, die nur wegen des historischen Unfalls der Sowjetisierung ein halbes Jahrhundert abgeschnitten waren. »Ihr verdient es, nach Europa zurückzukehren, denn ihr gehört zu uns«, gab der Westen dem Osten zu verstehen. »Doch bitte geduldet euch ein wenig, beide Seiten müssen sich erst aneinander anpassen.« In den Anfängen war es in der Tat so, dass sich der westliche Diskurs in seiner leidenschaftlichen Betonung von wechselseitiger Anpassung und Solidarität nicht sehr vom östlichen Diskurs unterschied, ob sich Solidarität nun auf die Schaffung von Arbeitsplätzen, das Beibringen von Unternehmenskultur, die Förderung der Demokratisierung, militärische Sicherheitsbelange oder auf die geistige Erneuerung bezog.

Obwohl in wirtschaftlichen Angelegenheiten kein osteuropäischer Bürger ernsthaft glauben konnte, der Westen würde altruistisch handeln, (19) leisteten die verbalen Integrationsgesten und der Verweis auf die historisch-kulturelle Nähe bei den Beitrittskandidaten überzogenen Erwartungen Vorschub. Anfang der neunziger Jahre war man in der gesamten Region mehr oder weniger überzeugt, dass die unbestreitbar hohen Gewinne, die dem Westen in der ersten Zeit der postkommunistischen Transformation zufielen, für die meisten Länder des ehemaligen Ostblocks einen raschen EU-Beitritt bedeuten würden. Der Westen, so die Annahme, würde die politischen und soziokulturellen Risiken auf sich nehmen, sobald die ökonomischen Risiken durch Einsparungen bei den Verteidigungsausgaben und Einkünfte aus den neuen Märkten Osteuropas mehr als gedeckt sein würden. »Nicht nur durch unser vergangenes Leid, sondern auch durch unsere derzeitigen Revolutionen haben wir direkt zu eurem Wohlstand beigetragen«, bedeuteten die Ost- den Westeuropäern. »Wir betteln nicht um einen Gefallen und wir könnten euch auch von eurer historischen Schuld freisprechen, doch bitte vergesst nicht, was ihr in der jüngsten Vergangenheit bei uns abgesahnt habt.« Man verlangte vom Westen also keinen Ausgleich für die Gewinne, die er aus der Ost- und Entspannungspolitik gezogen hatte (20), und man schien auch bereit zu sein, seine moralische Mitschuld an den Tragödien von 1956, 1968 und 1981 zu vergessen. Lediglich ein neuer (europäischer oder euro-atlantischer) Marshall-Plan wurde als geeignetes Mittel zur Abfederung eines schnellen EU-Beitritts ins Spiel gebracht. (21)

Doch schon bald mussten die Osteuropäer feststellen, dass die westliche Rede vom Prinzip eines quasi-natürlichen Beitrittsanspruchs und kultureller Nähe so ernst nicht gemeint war. Ja, es wurde nicht einmal ersetzt durch das Prinzip der Kooptierung auf der Grundlage umfassender Wechselseitigkeit. Letzteres würde den oben erwähnten Risikotausch implizieren, ohne jedoch die Leistung der Beitrittskandidaten zu berücksichtigen und daraus eine Rangfolge abzuleiten. Dieses Prinzip versprach praktisch dasselbe Ergebnis, das heißt, einen Beitritt kraft »Geburt« oder aufgrund weitgehend indirekter Verdienste. Im Gegensatz dazu wollte die EU jedoch von den Regeln früherer Beitrittsrunden nicht abweichen und machte das (direkte und nichthistorische) Verdienst jedes einzelnen Beitrittskandidaten zum Maßstab. Die Prozedur beinhaltete Betrittsvoraussetzungen, Leistungskriterien, Grenzwerte und roadmaps, und daraus resultierte eine hierarchisch gestaffelte Warteliste.

Clubbeitritt, Athletikmeisterschaft, Einschulung, elterliche Hilfe, Einstellungsgespräch, Reiseführung, militärischer Drill - in solche Metaphern übersetzte der Osten die paternalistischen Botschaften des Westens und verzichtete nach und nach auf die eigenen Metaphern, die von Liebesheirat und freundschaftlicher Verbundenheit erzählten, oder vom erschöpften Seemann, der sich nach überstandenem Sturm in den Hafen rettet. All diese optimistischen Metaphern sollten symmetrische Verhältnisse, Anerkennung und Vertrauen zum Ausdruck bringen, Dinge, die eher auf Moraltugenden, Tradition und gegenseitiger Unterstützung beruhen als auf Leistungsfähigkeit.

Einen weiteren Schlag für die osteuropäische Selbstachtung bedeutete es, als klar wurde, was die EU unter »Beitrittsbereitschaft« versteht, welche Leistungskriterien sie anlegt und wie Leistung gemessen werden soll. An diesem Punkt schwingt sich die östliche Rhetorik in epische Höhen und wirft dem Westen vor, er habe den Weg zum Beitritt mit Beleidigungen gepflastert. Die Empörung galt sowohl der Philosophie als auch der Durchführung der Leistungsprüfung, vom Eurospeak ganz zu schweigen. »Die Europäische Kommission fokussiert auf die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts, anstatt die sozioökonomische Kultur der Kandidaten zu berücksichtigen«; »die Auswahlkriterien sind in sich unstimmig«; »die Spielregeln spiegeln das Schlimmste wieder, was social engineering hervorzubringen vermag, nicht zuletzt, dass sich die Regeln im Laufe des Spiels ändern«; »die ›Hypotheken‹ des Ostens werden über-, sein ›Vermögen‹ unterbewertet und der Preis, den er für den Betritt zu zahlen hat, wird völlig außer Acht gelassen«; »die Anpassung an den acquis communautaire zwingt uns ein Durchschnittsmodell des Kapitalismus europäischer Provenienz auf«; »der Auswahlprozess wird durch (geo-)politische Ad-hoc-Entscheidungen, finanzielle Zwänge und dergleichen mehr verzerrt«, »der Erweiterungsprozess liegt in den Händen inkompetenter Bürokraten, die Zeit vergeuden, als wären sie beauftragt, den Beitritt hinauszuzögern« (22) ; »der Wettbewerb stachelt die Kandidaten gegeneinander auf«, »das Endergebnis war durch eine jahrhundertealte symbolische Geographie, das heißt, durch die Voreingenommenheit des Westens gegenüber Mittelosteuropa vorprogrammiert«; »die Beitrittsvoraussetzungen wurden höher angesetzt als im Fall der ›Süderweiterung‹, die von der Union bereitgestellte Unterstützung fiel dagegen viel geringer aus«; »niemand sprach von Osterweiterung, als Österreich der EU beitrat«; »von accession zu sprechen, impliziert eine Hierarchie«; »die Rede von einem ›Europa der zwei Geschwindigkeiten‹, von ›Kerneuropa‹ (23) und Ähnlichem dient nur dazu, die östliche Peripherie sprachlich auszugrenzen« - die Liste der Klagen ließe sich endlos fortsetzen. Sie gipfeln in der Anschuldigung, aus dem Verhalten des Westens spreche »Orientalismus«, ja sogar »Imperialismus«. (24)

Ab einem bestimmten Punkt hatte der Westen praktisch keine Chance mehr, Sympathie für seine Erweiterungsstrategie zu ernten; was er auch unternahm, wurde im Bezugsrahmen des Ressentiments interpretiert. Die Leidensgeschichte mündete in die sonderbarsten Verschwörungstheorien (ich verwende die Sprache der Populisten, um die Sache zu verdeutlichen): »Die Kompradoren haben unsere Nation für'n Appel und 'n Ei an die neuen Eindringlinge verhökert«; »der acquis wurde erfunden, um die Konkurrenz aus dem Osten zu lähmen«; »was der Westen arglistig als Osterweiterung verkauft, ist eigentlich eine Westerweiterung (25) unserer einzigartigen Werte«; »alles in allem machen wir den Westen noch reicher, was einfach unsinnig ist«; »wie bei den Sowjets ist Solidarität nur ein Synonym für Ausbeutung und ungleichen Tausch«. (26)

Solidarität ist eine zerbrechliche Ware. Offenbar ließen sich die Beitrittskandidaten bei der Abwägung der Frage, ob der Westen sich nun solidarisch verhalte oder nicht, ebenso sehr durch die Beitrittschoreographie - ihre Kulisse, ihre Sprachregelungen, Symbole und Bilder - beeinflussen wie durch die Höhe der Transferzahlungen und die Verteilung des Stimmrechts in der erweiterten Union. Sie fühlten sich durch die kühlen kritischen Bemerkungen in den Länderberichten provoziert, durch die strengen Forderungen und den reservierten Stil der Brüsseler Delegationen, durch die Heimlichtuerei der EU-Administration, durch die permanente Verschiebung des Beitrittstermins und durch den ständig erhobenen Zeigefinger: »wartet noch ein bisschen und räumt erst einmal euer Haus auf«, »bringt euch auf das europäische Niveau«, »strengt euch an, übt euch in Disziplin und legt eure schlechten Manieren ab«, usw. Dabei schwang untergründig stets die Warnung mit: »Vergesst bitte nicht, dass ihr diejenigen seid, die unserem Verein beitreten wollen.« Symptomatisch ist, wie dieser Satz im Osten aufgenommen wurde: »Die tun so, als würden sie uns mit dem Beitritt einen Gefallen tun.« Diese Interpretation nahm die Reaktionen auf den Beitrittsvertrag vorweg. Das Prinzip »Friss Vogel oder stirb«, das der Westen am Ende der Betrittsverhandlungen durchsetzte (und nur mit kleineren Zugeständnissen versüßte), wurde schlicht als Erpressung wahrgenommen. »Warum tut der Westen nicht zumindest so, als würde er uns respektieren«, fragte man sich voller Zorn.

Um zu meinem Steckenpferd zurückzukehren: Auch osteuropäische Liberale durften diesen Zorn mit einigem Grund teilen. Manche ihrer Vorbehalte (gegen Überregulierung, Legalismus, social engineering, Europazentrismus) habe ich bereits genannt. Doch sie hatten noch einen anderen Grund zur Besorgnis, der sie von den westlichen Euroskeptikern unterscheidet. Das asymmetrische Verhältnis zwischen Chef und Untergebenem - um eine weitere Metapher zu verwenden - ließ in den letzten Jahren der Beitrittsverhandlungen in den Herzen und Köpfen der Beitrittskandidaten Verhaltensweisen wiederaufleben, die sich unter dem Kommunismus herausgebildet hatten. Dazu gehört zum Beispiel, was zu Zeiten der Kommandowirtschaft als »Plan-Poker« bezeichnet wurde (Anlegen von Leistungsreserven, Verdrehen von Vorschriften), was einen komplizierten Zwiesprech (und doppelbödiges Handeln) gegenüber den Autoritäten implizierte, ein ständiges Haschen nach Ausnahmeregelungen. Auch die Intrigenschmiederei gegen andere Beitrittskandidaten und die ständigen Versuche, Big Brother für sich einzunehmen, erinnern den Beobachter an die »gute alte Zeit« im Sowjetreich. (27)

Ungeachtet der angehäuften Frustrationen lässt sich die Rhetorik des Ressentiments keineswegs auf sentimentales oder hinterlistiges Gerede über historische Schuld, moralische Verantwortung und dergleichen reduzieren. Sie besitzt zum Teil ein rationales Fundament, wobei unter Rationalität hier mehr zu verstehen ist als das Minimum, das man braucht, um sich eine Spielstrategie auszudenken. Gewiss, diese Rhetorik beinhaltet eine spezifische Mischung aus Anspruchsdenken und Vorwürfen, sie kann sich sarkastisch, verbittert oder wütend äußern, doch sie beruht nichtsdestotrotz auf einem spezifischen Solidaritätsbegriff.

Die Beitrittskandidaten bringen ungeachtet ihres offensichtlichen Versuchs, in möglichst kurzer Zeit größtmögliche Hilfe vom Westen zu erhalten, eine ganze Reihe von rationalen Argumenten zur Verteilungsgerechtigkeit vor. Sie sind über die bisherige Unterstützung früherer Beitrittskandidaten sehr genau im Bilde und messen daran, ob sie bei den Verhandlungen fair und mit Respekt behandelt werden. Wie wir gesehen haben, sind die »Neuen« durchaus bereit, Kosten und Nutzen zu vergleichen (»wir geben mehr, als wir nehmen«), Risiken zu teilen (»wir haben substanzielle Vorleistungen erbracht«) oder Opportunitätskosten zu berechnen (»die Erweiterung wird teurer, wenn ihr sie verzögert«), wenn sie die EU zu mehr Solidarität bewegen wollen. Zwei plausible Vorschläge fehlen dabei jedoch. Meines Wissens hat im Osten bisher niemand angeregt, im Westen eine Art »Soli« nach deutschem Vorbild einzuführen und/oder eine »Solidaritätsanleihe« aufzulegen.

Sie wollen ihren Rückstand schnell aufholen - dies ist der Eckstein der moralischen Ökonomie des Ostens -, aber sie verlangen nicht, hier und jetzt den Reichtum (Einkommen, Wohlfahrt) der derzeitigen Mitgliedstaaten egalitär umzuverteilen. Was sie nicht wollen, ist, sich mit Almosen zufrieden zu geben. Sie möchten nicht, dass der Westen verliert, weil der Osten gewinnt, aber sie können sich Solidarität nicht ohne wirkliche Opfer seitens des Stärkeren vorstellen. Wenn beide Seiten gewinnen, muss der Osten relativ gesehen mehr gewinnen, um seinen Rückstand mittel- oder langfristig aufholen zu können. Sollte dieses Mehr nicht von alleine fließen, so wird der Osten den Westen auffordern, einen Teil seiner Gewinne nach Osteuropa umzulenken. Dies ist eine notwendige Bedingung von Solidarität. Die Neumitglieder sind überzeugt, dass sie damit nicht zu viel verlangen. »Würde der Westen auch nur ein Prozent seines Bruttosozialprodukts an den Osten abführen, so würde dies in unserem Teil des Kontinents ein vielprozentiges Wachstum auslösen«, stellen sie resigniert fest. Vielleicht fehlt ja nur ein »erster Anstoß«, der im Osten zu relativ höheren Gewinnen führen und so eine Umverteilung schon bald überflüssig machen würde.

Aus welchen Gründen werden die rationalen Botschaften des Ostens im Westen missverstanden, fehlinterpretiert oder einfach nicht beachtet? Sind sie unentwirrbar mit historisch-moralischen Argumenten verwoben? Sind sie nur schlecht formuliert? Beruhen sie auf einem Solidaritätsverständnis, das der Adressat nicht unterschreiben kann? Oder hat der Westen gar kein Interesse, zuzuhören?

Die Rhetorik der Indifferenz

Man kann nicht umhin, sich letztere Frage zu stellen, wenn man sieht, welch tief sitzende Indifferenz die Antwort des Westens auf die Rhetorik des Ressentiments kennzeichnet - eine Gleichgültigkeit, die dieses Ressentiment vielleicht erst hervorrief. Mit Gleichgültigkeit meine ich weder das Fehlen einer moralischen oder moralisierenden Sicht auf den europäischen Einigungsprozess noch den Mangel an Begeisterung für taktische Züge im Beitrittsspiel oder die Unterdrückung negativer Gefühle gegenüber dem Osten. Im Gegenteil, die Altmitglieder lehnten die ethischen Schlussfolgerungen des von den Beitrittskandidaten vertretenen Solidaritätsdiskurses keineswegs ab – schließlich bildet die Unterstützung schwächerer »Familienmitglieder« einen wichtigen Grundstein des Ethos (Mythos) der Union; häufig zeigten sie sich nur gleichgültig, um ihre Verhandlungsposition zu stärken, und ihre orientalisierenden Vorurteile gegenüber den Neulingen konnten sie nie ganz verbergen. (28)

Indifferenz ist hier der Ausdruck von drei Einstellungen: a) prinzipielles Desinteresse an einem überwiegend altruistischen Solidaritätsverständnis, an historischen Argumenten über reziproke Beziehungen und an wie immer vagen Ideen über Verteilungsgerechtigkeit und social engineering; b) ein vielleicht auf Aversion und Angst beruhendes, instinktives Ignorieren jedweder »Klagekultur« und jeder Art von Denken, welches das Opfer mit seinen Ressentiments in den Mittelpunkt rückt; c) die Gelassenheit, die die »Verkäufer« auf dem EU-Beitrittsmarkt gegenüber den sicheren »Käufern« an den Tag legen können. In den Beitrittsländern wird diese Haltung nach wie vor als zutiefst demütigend empfunden (und als Herablassung oder gar Hass verkannt), was das Ressentiment nur steigern kann und den Graben weiter vertieft.

Die Rhetoriker der Indifferenz stellten das Endziel, dass der Osten seinen Rückstand aufholen soll, interessanterweise nie in Frage. Vielmehr zogen sie es in Fragen der ferneren Zukunft vor zu schweigen und konzentrierten ihre Kritik auf ein weiteres Leitmotiv des östlichen Solidaritätsdiskurses: den Umverteilungsanspruch. Der Grundtenor der Kritik war Überraschung: »Warum begreift der Osten nicht, dass direkte Unterstützung dem Aufholprozess schaden könnte? Wollen die ihr eigenes Projekt gefährden?«

Die Osteuropäer winkten indigniert ab. Verständnislos fragte man sich, warum es nicht möglich sein sollte, Konsens über den eigenen Solidaritätsbegriff zu erreichen, wo die Union doch selber gerne von Identität, Zugehörigkeit, Familie der Nationen, kulturellen und religiösen Traditionen, EU-Staatsbürgerschaft, sozialem Zusammenhalt, dem Europäischen Sozialmodell und dergleichen mehr spricht. (29) Reflexartig assoziierten die Osteuropäer dieses Vokabular mit Nachsicht, Selbstlosigkeit, moralischer Verantwortung, gegenseitigen Gefälligkeiten und Großzügigkeit und sahen darin einen Ausdruck des Solidaritätsprinzips »Einer für alle, alle für einen«. Es dauerte eine Weile, bis sie erkannten, dass der Westen die biblische Analogie vom verlorenen Sohn längst hinter sich gelassen hatte. (30) Der Paternalismus, den der Westen meinte, war nicht bedingungslos und nicht von Zuneigung oder Selbstverleugnung geprägt. Der Pater namens Europäische Union beschloss, streng und fordernd zu sein, und wenn er trotz alledem eine Ausnahme von der Regel macht, dann nicht aus Liebe zu seinem Sohn, sondern aus wohlverstandenem Eigeninteresse. Nichts darf die Maxime der Initiation in Frage stellen: »Beweise zuerst, dass du fähig bist, mit uns unter einem Dach zusammenzuleben. Der Übergangsritus behauptete das Recht des Vaters, die Bedingungen des Zusammenlebens festzulegen, beispielsweise auf welche Weise die Familie Beschlüsse fällt oder die Art der Unterstützung, die der Sohn von engen Verwandten erwarten darf.

Im Folgenden stelle ich die Hauptmotive der Rhetorik der Indifferenz in einem imaginären Dialog mit sechs Tropen der osteuropäischen Argumentation dar.

1. Der Beitritt als quasi-natürlicher Anspruch: Selbstverständlich sind Geographie und Geschichte notwendige, keineswegs aber hinreichende und schon gar nicht wohl definierte Bedingungen, um Ansprüche an den Westen zu untermauern. Solidarität hat nicht nur eine Ost-West-, sondern auch eine Nord-Süd-Achse, mit weitaus mehr Bedürftigen in der Dritten Welt. Ein großer Teil von ihnen, namentlich die Bewohner des Mittelmeerraums oder der Kolonien, könnten ebenfalls geographische oder kulturelle Nähe zu Westeuropa geltend machen. (31) Wie an den Beispielen Türkei oder Israel (in unserem Zusammenhang auch Russland) deutlich wird, ist die kulturelle Geographie eine viel zu wackelige Grundlage, um darauf eine praktikable Theorie der Solidarität zu gründen. Eben weil die symbolischen Grenzen (von Religion, Kunst, Wissenschaft, Soziallehren usw.) verschwommen sind, muss die EU auf praktischen Überlegungen bestehen, um sich nicht endlos mit Fragen wie »Ist Rumänien europäischer als Kroatien?« aufzuhalten. Neben der Übernahme des acquis und der Kopenhagener Kriterien geht es vor allem um die allgemeine Arbeitsfähigkeit der Union. Die Kapazitäten der EU für Altruismus sind begrenzt, sagt der Westen, schließlich wollen auch die ärmeren Altmitglieder sowie die ärmeren Regionen und Bürger innerhalb der Mitgliedstaaten ein Stück vom Kuchen abhaben. Auch sie haben einen »natürlichen Anspruch«. Je größer aber die Zahl der »natürlichen« Ansprucherheber, umso geringer die Wahrscheinlichkeit, eine dauerhafte Lösung für einvernehmliches Zusammenleben zu finden, und umso höher die Wahrscheinlichkeit organisatorischer Überdehnung.

2. Moralische Verantwortung für Osteuropa: Auch dies ist zumal im transnationalen Kontext ein vages Konzept. Es konkurriert mit dem Verantwortungsprinzip auf nationaler und Unionsebene. »Solange wir unsere Nationalstaaten haben«, sagt der Westen, »werden wir uns für das Schicksal unserer eigenen Mittelschichten wahrscheinlich mehr verantwortlich fühlen als für die Unterschichten in anderen Ländern.« Sogar im Fall von Deutschland, das sich als eine Nation verstehen will, ist die moralische Verantwortung für die frühere DDR heftig umstritten. »Natürlicher Anspruch« und »moralische Verantwortung« mögen den Beitritt zur Union begründen, aber sie sagen noch nichts über dessen Bedingungen aus. »In jedem Fall stellt sich die Frage, wie sich rechtfertigen lassen soll, dass wir die Opfer des Kommunismus gegenüber den Menschen in unseren ehemaligen Kolonien bevorzugen«, meinen die Westeuropäer.

3. Historische Schulden begleichen: »Gibt es irgendjemanden«, fahren sie fort, »der nachrechnen könnte, wie hoch unsere Rechnungen für die Vergangenheit sind? Und wo sollen wir mit der Berechnung anfangen? Als die mongolische Invasion aufgehalten wurde? (32) Als Wien von den Türken entsetzt wurde? Beim Pariser Friedensvertrag? München? Jalta? Warum nicht die Russen haftbar machen? Schließlich haben nicht wir Osteuropa kolonisiert, warum sollten also ausgerechnet wir die heutigen Bürger Osteuropas für alles entschädigen, was sie unter dem Kommunismus verloren haben? Dass der Westen vergleichsweise Glück hatte, ist schon richtig; doch wer sagt, dass man für Glück Abbitte zu leisten hat? Jedenfalls haben wir auch zum Wohlstand unterm Kommunismus beigetragen und/oder den Zerfall des Sowjetreichs befördert.« Führen wir die Sache ad absurdum: »Liebe Benachteiligte, sagt mal, wie viel die großzügig unterstützten Ostdeutschen den armen Russen von heute schulden, und vergesst nicht, Hitlers Taten gegen die Russen mit Stalins Taten gegen die Deutschen zu verrechnen. Wäre es nicht nützlicher, nicht mehr ständig nach rückwärts zu schauen? Ach übrigens, könntet ihr uns vielleicht sagen, wie ihr eure östlichen Nachbarn behandelt (oder die Bürger im rückständigen Ostteil eures Landes)? Habt ihr schon alle eure historischen Schulden beglichen?«

4. Gegenseitigkeit und Risiko-Teilung zwischen Ost und West heute: »Im Prinzip«, so das Argument, »wäre ein solches Solidaritätsschema durchaus akzeptabel für uns, würden die ›Gefälligkeiten‹ des Ostens nicht immer systematisch überbewertet und unsere Gegenleistungen nicht ebenso systematisch unterbewertet. Zum einen haben die Beitrittsländer bereits kräftig vom Zufluss westlichen Kapitals profitiert, ohne den der völlige Zusammenbruch unvermeidlich gewesen wäre. Und wäre der Beitrittsprozess nicht zu einem positiven Abschluss gekommen, so wäre eben dieser Zusammenbruch nicht auszuschließen gewesen. Zum anderen bietet der Westen dem Osten allein durch die Aufnahme in die EU nicht nur neue Marktchancen, Beschäftigungsmöglichkeiten und Transferzahlungen, sondern darüber hinaus ein ganzes Bündel an externen Effekten, angefangen bei der Sicherheit für Investoren, über wachsende Geldwertstabilität, Geschäftsverbindungen und Bildungsaustausch bis hin zum Markennamen ›Europa‹. Die Neumitglieder können ihr free riding in einem viel breiteren Rahmen genießen. Und dies sind nur die rein wirtschaftlichen Vorteile, die ohne ein kleines Opfer unsererseits schwerlich möglich gewesen wären. Dasselbe gilt aber auch für die politischen und sozioökonomischen externen Effekte. Der acquis, den der Osten mit so viel Murren übernimmt, ist das Ergebnis von harter Arbeit, Konfliktbewältigung und Selbstbeschränkung – mit einem Wort: ein Ergebnis früherer Opfer. Wir lassen den Osten im Stich?«

Von dieser Warte aus ist die Aufnahme in die Union gleichbedeutend mit Unterstützung, insbesondere wenn man die Risiken berücksichtigt, die der Westen eingeht, wenn er dem Osten künftig die Nutzung seiner politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ordnungen erlaubt. Die EU-Erweiterung könnte weitere Opfer nach sich ziehen, wenn die Neumitglieder diese Ordnungen durch Steuerflucht, Korruption oder ethnische Zwistigkeiten missbrauchen. »Drittens«, so fährt der Westeuropäer fort, »lassen sich zahlreiche andere Risiken noch viel weniger abschätzen als die eben genannten. Mit unserem Experiment, die EU gleichzeitig zu vertiefen und zu erweitern, und der beispiellosen Kooptierung einer großen Zahl relativ rückständiger Länder haben wir einen Schritt getan, der unsere früheren Opfer rückblickend vielleicht einmal als eitles Bemühen erscheinen lässt. Wie aber sollten wir Risiken teilen, wenn wir nicht einmal ihren Umfang kennen? Wenn wir in der Lage wären, Kosten und Nutzen (auch in politischer und sozioökonomischer Hinsicht) gegeneinander aufzurechnen, wer weiß, vielleicht würde sich herausstellen, dass nicht der Westen, sondern der Osten zahlen müsste. Weshalb sollten wir angesichts dieser Sachlage mehr für den Osten tun als zur Schadensbegrenzung unbedingt erforderlich?«

5. Sofortige Aufnahme als Solidaritätsbeweis: »Ihr beschuldigt uns«, sagt der Westeuropäer, »wir hätten die historische Chance, Europa sofort wiederzuvereinigen, verpasst. Seid ihr euch eigentlich der Komplexität eines solchen Mammutunternehmens bewusst? Sorgfältige Vorbereitung, eingehende Prüfung, der Aufbau von Institutionen, rechtliche und kulturelle Anpassungsprozesse usw. brauchen ihre Zeit. Nicht zuletzt aus Solidarität wollten wir Osteuropa den Schock ersparen, den die überstürzte Wiedervereinigung Deutschlands mit sich brachte. Übereiltes Handeln hätte dazu führen können, dass beide Seiten rasch schlechter dastehen als vorher. Vergesst nicht, dass einige der früheren EU-Kandidaten länger warten mussten als ihr. Wir können unsere Philosophie des social engineering nicht einfach beiseitelegen; schließlich hat sie sich bei dem Jahrhunderte dauernden Aufbau eines demokratischen Kapitalismus und bei den Maßnahmen gegen soziale Ungleichheit ebenso bewährt wie in jüngerer Zeit im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses.«

Idealtypisch umfasst diese Philosophie folgende Grundsätze:

a) Die EU verfolgt bei der Institutionenbildung einen organisch-evolutionären Ansatz. Dies umfasst unter anderem langfristige Regulierungen, feste formalisierte Regeln, behutsames Verweben der nationalen Gesellschaften mit unterschiedlicher Vergangenheit und eine schrittweise Angleichung der alten und der neuen Mitgliedstaaten. Diesen Ansatz als bürokratischen Stillstand zu bezeichnen wäre eine ungerechtfertigte Vereinfachung.

b) Die Arbeitsfähigkeit der Union hat absoluten Vorrang, und da sie von den Fähigkeiten der einzelnen Mitglieder abhängt, müssen die Kandidaten sorgfältig ausgewählt und vorbereitet werden. Transferzahlungen alleine, wie hoch sie auch sein mögen, schaffen keine funktionsfähigen Institutionen. Und ohne geeignete Institutionen in den Kandidatenländern kann selbst die kleinlichste Unterstützung nicht absorbiert werden, bzw. sie wird durch Korruption, Nachlässigkeit und Ignoranz versickern.

c) Die EU bevorzugt einheitliche Regulierungssysteme. Ausnahmeregelungen sind auf ein Mindestmaß zu beschränken, Doppelstandards zu vermeiden. Jede Abweichung von den bestehenden Beitrittsregeln wäre unfair gegenüber den Kandidaten früherer Erweiterungsrunden und würde auf Widerstand stoßen. Um Korruption im Keim zu ersticken, kommen Beitritts-Deals auf der Grundlage von gegenseitigen Gefälligkeiten, informellen Verhandlungen, dunklen Transaktionen usw. von vornherein nicht in Frage. »Wir erweisen niemandem einen besonderen Gefallen«, sagt der Westen. »Wir legen nur die Beitrittskriterien fest, und wer sie erfüllt, darf sich uns anschließen.«

d) Zur Vermeidung von Interessenkonflikten dürfen die Kandidaten nicht an Entscheidungen mitwirken, die sich auf die Bedingungen ihres Beitritts beziehen. Das ist in der Tat ein asymmetrisches Verhältnis, aber nur ein vorübergehendes. Demokratie beginnt nach dem Beitritt. Und schließlich wird niemand gezwungen, sich um eine Aufnahme zu bewerben.

e) Solidarität und Zusammenhalt innerhalb der Union beruhen unter anderem auf Konsensfähigkeit, (33) gemeinsamen Werten, gemeinsamer Identität und Unionsbürgerschaft. Diese sollten sich allerdings auf eine offen verhandelte Übereinkunft über die jeweiligen partikularen Interessen stützen können. Romantische Versprechungen reichen nicht aus.

f) Die organisatorischen Möglichkeiten der EU für social engineering sind begrenzt, dem Haushalt enge Grenzen gesteckt. Deshalb sind bei den gemeinsamen Aufgaben klare Prioritäten unumgänglich. Die Osterweiterung zum Beispiel musste warten, bis die früheren Beitrittsprojekte abgeschlossen waren; verzögernd wirkte sich dabei auch die Vertiefung des Einigungsprozesses aus.

g) Obwohl der EU sehr daran gelegen ist, Ungleichheiten zwischen den Mitgliedstaaten abzubauen, kann sie aus den genannten Gründen wie auch aus selbst auferlegter Beschränkung hinsichtlich der EU-internen Umverteilung nicht garantieren, dass Neumitglieder ihren Rückstand in einem vorher bestimmten Zeitrahmen aufholen. (34)

h) Die historischen Rechnungen, die der Osten dem Westen präsentiert, konkurrieren mit künftigen Zahlungsansprüchen. Die Vergangenheit aufzurechnen, gefährdet den inneren Zusammenhalt der Union ebenso wie die globale Wettbewerbsfähigkeit Gesamteuropas. Social engineering erfordert konstruktives Handeln. Die Beschwörung von Ungerechtigkeiten in der Vergangenheit, ob berechtigt oder nicht, sollte um der künftigen Verteilungsgerechtigkeit willen verdrängt werden.

i) Die EU lebt nicht im luftleeren Raum, frei von allen realpolitischen (und geopolitischen) Zwängen. Die Größen- und Machtunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten spiegeln sich auch in der Entscheidungsfindung wider. Ob uns das passt oder nicht, es gibt ein Kerneuropa und es gibt eine Peripherie im europäischen Einigungsprozess. (35) Die Interessen der Mitgliedstaaten haben Vorrang vor denen der Nichtmitglieder. Auch dürfen die politischen und soziokulturellen Ziele der Union nicht dauerhaft im Widerspruch zur wirtschaftlichen Integration stehen. Man kann den Kuchen nicht gleichzeitig behalten und essen. Die jeweilige Konjunkturlage ist eine entscheidende Variable der Unionspolitik. Pech für den, der der Union in einer Phase der Stagnation oder Rezession betritt. (36)

6. Verteilungsgerechtigkeit und aufholende Entwicklung: Die Grundsätze fairer Verteilung sind in der Union weniger streng definiert als die Prinzipien des social engineering. »Nichts ist umsonst«, »zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen«, »keine Hilfe ohne Selbsthilfe«, »jeder Beistand hat transparent zu sein«, »Mildtätigkeit ist nur eine Notlösung«, »der Empfänger ist gegenüber dem Geber rechenschaftspflichtig« - Maximen, wie sie in jedem Lehrbuch über Kapitalismus nachzulesen sind, wurden in den Beitrittsgesprächen immer wieder zitiert, um den Osten von seiner »erlernten Hilflosigkeit« und »Subventionssucht« abzubringen. Demonstrativ präsentierte der Westen sein stärkeres Ego, nicht seine karitative, sondern die meritokratische Seite, um pädagogisch auf den Osten einzuwirken. (37) »Wir wurden in einer Kultur sozialisiert, die auf Selbständigkeit baut«, sagten die Westler. »Wenn wir unsere östlichen Nachbarn wirklich im Stich gelassen haben sollten, wäre es eigentlich höchste Zeit, dass sie sich, dem Beispiel Münchhausens folgend, am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Als Solidarität verkappte Mildtätigkeit würde den Neumitgliedern allen Elan rauben und ihre Fähigkeit zu eigenständigem Aufholen untergraben. Empowerment ist da eine viel bessere Lösung. Wenn wir dem Osten ein Netz statt tonnenweise Fisch geben, wird der Aufholprozess ungleich nachhaltiger sein. Subventionen rufen immer nur nach mehr Subventionen. Außerdem: Wie kann man auf der einen Seite vehement um Hilfe bitten und sich gleichzeitig über den Verlust an Souveränität beklagen?«

Die Umverteilung Richtung Osten will also sorgfältig überlegt sein. Wie aber soll der Endzustand gerechter Umverteilung aussehen? Der Aufholprozess hat viele Facetten. Geht es um Chancen- oder um Einkommensgleichheit? Sollten sich die Neumitglieder am EU-Durchschnitt oder an den fortgeschrittensten Mitgliedern orientieren? Wen sollte der Westen unter den Neumitgliedern unterstützen? Die Leistungsbesten oder die Leistungsschwächsten? Verdient mehr, wer mehr gibt? (38) Der Westen sagt: »Es wäre gewiss stimulierend, über diese Fragen nachzusinnen. Doch leider ist unser Handlungsspielraum sehr begrenzt. Solidarität in Form von Unterstützungszahlungen lässt sich an unsere Wählerschaft im besten Fall nur unter der Bedingung verkaufen, dass wir den Status quo nicht gefährden. Schließlich, weshalb sollten die westlichen Unterschichten am Ende den östlichen Oberschichten beistehen?«



Vortrag „Zwischen Ressentiment und Indifferenz. Solidaritätsdiskurse vor der EU-Erweiterung" auf der Arbeitskonferenz von Caritas und Erste Bank „Neue Freiheit. Neue Verantwortung. Engagement in Europa." Melk, 16. April 2004

... den gesamten Vortrag können Sie als pdf.Datei herunterladen


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Juli 2004
> Link: REPORT online, Link zum PDF.Download > Link: Tr@nsit 21 online: Janos Matyas Kovacs -