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Von Bert Rebhandl.

Kalter Krieg und Coca-Cola

Wie orientierte sich die intellektuelle Klasse im Jugoslawien unter Tito im Hinblick auf die Weltpolitik? Wurde der damalige blockfreie südost-europäische Staat auch von Literaten gutgeheißen?

Der Schriftsteller Bora Ćosić, der seit Mitte der neunziger Jahre in Berlin lebt, blickt zurück: „Ein Teil meiner Generation fühlte sich von Anfang an sehr kosmopolitisch.“ Ćosić repräsentiert eine europäische Biografie, die 
mit den Begriffen „Heimat“ und „Nationalstolz“ nichts mehr anfangen kann: Beides ist ihm abhandengekommen. Ost und West werden nicht mehr definiert, weder örtlich noch gedanklich. Bert Rebhandl hat das Gespräch mit Bora Ćosić zusammengefasst. Die Föderative Volksrepublik Jugoslawien stellte im Kalten Krieg ein Unikum dar: ein kommunistisches Land, das sich nicht zum kommunistischen Block zählte, einen Vielvölkerstaat mit einer straffen Nationalideologie, ein kulturelles Labor, dem immer wieder interessantes Neues entsprang. Der Schriftsteller Bora Ćosić, geboren 1932 in Zagreb und lange Zeit Einwohner der Stadt Belgrad, wurde im Westen mit einem Roman bekannt, der schon im Titel ironisch auf die Größenverhältnisse zwischen Jugoslawien und dem Rest der Welt verwies: „Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“ war nicht zuletzt eine satirische Antwort darauf, dass sich das titoistische Jugoslawien immer ein wenig zu ernst nahm. Dem konnten die Belgrader Literaten wenig abgewinnen. Ćosić beschäftige sich mit russischer Avantgarde ebenso wie mit amerikanischen Erzählern wie William Faulkner, und bis heute ist im Hinblick auf seine Texte unübersehbar, dass es in der Hauptstadt des ehemaligen Jugoslawien eine große surrealistische Fraktion gab. Wie orientierte sich die intellektuelle Klasse unter Tito in der Weltpolitik? Gab es einen affirmativen Begriff des blockfreien Jugoslawien auch unter den Literaten? Bora Ćosić, der seit Mitte der neunziger Jahre in Berlin lebt, den es aber auch immer wieder nach Rovinj (Kroatien) zieht, blickt im Gespräch mit „Report“ zurück: „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich selbst zur Zeit, als es schien, Jugoslawien würde bis in alle Ewigkeit existieren, besonders viel auf mein Jugoslawentum hielt oder irgendwie damit gerechnet hätte; ein Teil meiner Generation fühlte sich von Anfang an sehr kosmopolitisch. Die anderen hatten sich natürlich in die nationalistischen Gewässer verirrt, besonders als das Land anfing, in mehrere Nationalstaaten zu zerfallen.“ Die Kriege der neunziger Jahre hatten auch einen kulturellen Hintergrund. Das internationale Erbe verlor an Bedeutung und nicht zufällig ist Radovan Karadžić, der untergetauchte Ex-Präsident der Republika Srpska, auf den das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag 1996 einen Haftbefehl ausgesetzt hat, auch nationalistischer Dichter. Bei Bora Ćosić hingegen überwiegen spielerische Formen der Dekonstruk-tion. Die auf ihn wirkenden Einflüsse beschreibt der Schriftsteller folgendermaßen: „Die Dichter der russischen Avantgarde hatte ich von der frühen Jugend an geliebt und übersetzt, aber sie waren nur eine von mehreren Quellen für meine handwerkliche Ausbildung, für die Entwicklung zum Schriftsteller. Außer den Russen haben mir die amerikanischen Erzähler sehr viel bedeutet: William Faulkner, Ernest Hemingway. Und dann die französischen surrealistischen Poeten, die modernen deutschen Prosa-Verfasser wie Thomas Mann oder Robert Musil und viele andere aus der reichen Geschichte des 20. Jahrhunderts, bis Fernando Pessoa und Vladimir Nabokov. Im Laufe der Jahre erscheinen einem die Vorbilder aus der eigenen Jugend wie liebe Bekannte, früher oder später muss jeder seinen eigenen Weg finden.“ Wie dieser eigene Weg aussieht, wird in „Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“ auch an dem Beispiel der US-amerikanischen Kultur durchgespielt. Während die Augen vieler seiner Zeitgenossen auf Hollywood und die Konsumgüter aus der westlichen Siegermacht gerichtet waren, machte Bora Ćosić sich darauf seinen eigenen Reim: „Für meine Jugend und für mein Buch bedeuteten die amerikanischen Schauspieler das, was sie im Grunde waren – nur gespielte Helden.“ In der Zeit des Kalten Krieges war Ćosić vom Westen nicht besonders fasziniert, auch nicht von den westlichen Waren, seien es Nylon-Hemden oder Coca-Cola. Für ihn gab es weder ein „positives“ noch ein „einheitliches“ Gefühl für den Westen. Dieser beinhaltete vielmehr unterschiedliche Definitionen: den Westen der Hochtechnologien, den Westen der enormen kulturellen Traditionen, den Westen der Gefühllosigkeit gegenüber einigen Minderheiten oder sozialen Randgruppen. Die Kluft zwischen Europa und Amerika, meint Ćosić, entspringe zuerst der ökonomischen und politischen Sphäre. Für diese Bereiche zeigt der Schriftsteller nicht so großes Interesse. Er verspürt auch keinen Drang dazu, verschiedene Nationen zu konfrontieren, sie an ihren unterschiedlichen und eigenartigen Traditionen zu messen. Im Gegenteil: „Ich bin immer dafür, diese gegenseitig zu ergänzen und einzufügen.“ Der Prozess der literarischen Übersetzung trägt wesentlich zu diesen Ergänzungen und Einfügungen bei. Bora Ćosić hat die Weltliteratur genau studiert. Auf die Frage, ob es umgekehrt auch das Bestreben gab, als Teil dieser Weltliteratur wahrgenommen zu werden, oder ob er schon vor 1989 den Wunsch verspürte, in einem westlichen Land zu leben, in dessen Sprache seine Bücher auch übersetzt würden, meint Bora Ćosić: „Sehr lange Zeit verfiel ich nicht im Entferntesten auf den Gedanken, dass ich überhaupt anderswo leben könnte. Jahrelang war mir auch ziemlich egal, ob eines meiner Bücher irgendwo übersetzt wird oder nicht. Die politischen Umstände, die mein Land zerstört haben, haben auch zu meinem Exil geführt. Man kann also sagen, dass ich nicht wegen des Auslands ins Ausland gegangen bin, sondern weil mir mein Land fremd geworden ist.“ Dennoch scheint es, als wäre er in Berlin angekommen, als würde Berlin „ihm liegen“: „Das Leben in Berlin hat mir ungeahnte Erfahrungen gebracht. Ich durfte eine weitläufige Stadt kennenlernen, nicht nur geografisch weitläufig, sondern auch geistig. So habe ich mir diesen Raum sehr schnell angeeignet, ohne daran zu denken, wo er genau liegt, zu welcher Nation diese Stadt gehört oder zu welchem Staat. Und weil meine slawischen Vorfahren sich zu ihren Lebzeiten von genau dort aus auf ihren sinnlosen Weg in Richtung Süden machten, denke ich, dass es eigentlich ganz natürlich ist, wie ich mich heute in Berlin fühle.“ Bora Ćosić verbringt inzwischen wieder viel Zeit in dem Land, das nicht mehr das seine ist. Es gibt auch seine Sprache nicht mehr. Er schreibt Serbokroatisch, in dem Idiom des alten Jugoslawien. Lange Zeit waren nur wenige Bücher von Ćosić in deutschen Ausgaben erhältlich. Erst seit er beim Suhrkamp Verlag eine neue Heimat gefunden hat, erscheinen so wichtige Werke wie „Die Zollerklärung“ (über die schwierige „Emigration“ seiner Bibliothek) wieder. Ist Bora Ćosić also doch, ohne dies jemals geplant zu haben, in Deutschland und damit im Westen angekommen? „In Berlin, in Deutschland und in Europa fühle ich mich ganz angekommen, ganz zu Hause. Das bedeutet nicht, dass ich mich ‚verdeutscht‘ habe. Im Gegenteil, die deutsche Umgebung ermöglicht mir, weiter neutral zu bleiben, mit neutralen Emotionen auch gegenüber meiner offiziellen Abstammung.“ Die Republik Serbien gilt heute als Verlierer unter den Staaten, die aus Jugoslawien hervorgegangen sind. Die Chancen für einen Beitritt zur EU werden im Augenblick als nicht besonders hoch eingeschätzt. Teilt Bora Ćosić diese Auffassung? „Außer mithilfe einer Menge Nachgiebigkeit vonseiten der EU hat Serbien wohl momentan keine große diesbezügliche Perspektive.“ Bald nach 1989 gab es erste Theorien über das „Ende der Geschichte“, die mit dem Sieg des Westens im Kalten Krieg einherging. Bora Ćosić schreibt sowieso keine Siegerliteratur, trotzdem sei die Frage gestattet: Hat der Westen gesiegt? „In der Geschichte ist es doch nie sicher, wer der eigentliche Sieger ist – und für wie lange.“ Das Gespräch endet mit einer spielerischen Frage: Wie könnte die Rolle von Ćosićs Familie in einer heutigen Weltrevolution aussehen? „Weltrevolution wie Revolution allgemein, das sind Begriffe, die ich am liebsten nur für pejorativ-literarische Zwecke benutze. Ich wünsche keinem, das in der Praxis erleben oder machen zu müssen. Es wäre besser, wenn jeder Mensch durch die eigene Entwicklung sein einzelnes und persönliches Schicksal ‚revolutionieren‘ könnte, damit er seine Fähigkeiten fördert und verbessert, auch die eigene – und damit die allgemeine – Manierlichkeit. Und das kann man nicht mit dem Sturm auf das Winterschloss erreichen oder indem man von der Sierra Maestre nach Havanna hinunterklettert.“



Bora Ćosić, geboren 1932 in Zagreb, wurde mit seinem Roman „Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“ einer größeren Öffentlichkeit bekannt. In den 1950er und 1960er Jahren war er Mitarbeiter und Redakteur verschiedener literarischer Zeitschriften („Mlada kultura“, „Delo“, „Književnost“, „Književne novine“, „Danas“). Später arbeitete er in der dramaturgischen Abteilung der Belgrader Produktionsfirma Avala Film.
1992 verließ Ćosić Serbien aus Protest gegen das Milošević-Regime und ging nach Rovinj (Kroatien), später nach Berlin. Belgrad, die Stadt, in der er aufwuchs, möchte er seither nicht mehr beim Namen nennen. Zur Zeit der Jugoslawienkriege nannte er sie nur „die Stadt, aus der heraus der Krieg regiert wird“. Im Jahr 2002 wurde Bora Ćosić mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.

Bert Rebhandl lebt als freier Journalist 
und Autor in Berlin.


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa, November 2007
> Link:REPORT online > Link: Wikipedia/Bora Ćosić-