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St. Petersburg! Was soll man von einer Stadt halten, die sich mehr oder weniger aus Extremen zusammensetzt? Vor 300 Jahren noch eine lebensfeindliche Sumpflandschaft, bis ein Visionär am Zarentrohn seine neue Hauptstadt, „gebaut auf den Knochen seiner Arbeiter“, aus dem Boden stampfen ließ. Der Sumpf ist Palästen und Triumphen des Ingenieursgeistes gewichen, das drückende feuchte Klima blieb vor Ort. Von Bernhard Wolf.

Gebaut auf den Knochen seiner Arbeiter...

Reise um den Tag in 80 Welten

„Einen Petersburger erkennt man an der schlechten Gesichtsfarbe“, heißt es mitfühlend im übrigen Russland. Kein Wunder. Im kurzen explosionsartigem Sommer mit Temperaturen bis zu 35 Grad und der flirrenden Mitternachtssonne während der „weißen Nächte“ überschlägt sich hier das Leben. Dem folgt ein endlos kalter Winter, in seinem Zenit mit einer Tageslichtperiode von fünf Stunden. Das beschäftigt nicht nur die Gesundheit, sondern prägt auch den Charakter. Genauso wie der beispiellose Prunk, den die Zarenresidenz in ihrer kurzen Geschichte in und um das Stadtzentrum anghäuft hat. Darunter über 200 Museen, die mit Abstand größte Kunstsammlung der Welt in der Eremitage, über 100 Theater, und vor allem eines - Paläste, Kanäle, Paläste. „Inoffzielle Hauptstadt“, „Hochburg des Verbrechens“, „Stadt der Boheme“, „Venedig des Nordens“ – dies sind die Attribute des heutigen St.Petersburg. Eine fünf Millionen Metropole in ständiger Spannung zwischen Modernität und ihrem imperialen Erbe. Stiefmütterlich behandelt vom unumschränkten Geldmagneten Moskau, immer noch reich genug für eine virulente Club- und Modeszene, geliebt von Künstlern und Feingeistern aller Art. „Petersburg existiert nicht wirklich“, konstatiert Viktor Mazin, Psychoanalytiker und Leiter des „Museums der Träume von Sigmund Freud“ am Kamenij Ostrov. „Die Mischung aus Klima, Architektur und Geschichte ist völlig irreal. Petersburg ist die perfekte Stadt zum Träumen.“ Nun gut. Brechen wir auf zur einer punktuellen Stadtexkursion an drei Lieblingsplätze eines Verehrers.

Der Strand an der Peter-Pauls Festung
Die Neva umschließt mit ihrem Hauptarm breit das Stadtzentrum. Solange es warm genug und der Fluss nicht mit Eis blockiert ist, dient er auch der Handelsschiffahrt. Nachts zwischen ein und fünf Uhr wird die Stadt von einem beeindruckenden Ritual in zwei Hälften geteilt. Alle wichtigen Brücken öffnen sich, damit die großen Lastkähne passieren können. Das tägliche Wettrennen von Nachtschwärmern und Taxifahrern ihre auf der anderen Seiten gelegenen Ziele doch noch zu erreichen hat damit ein vorläufiges Ende. Konfroniert mit Brückenteilen, die samt ihren Straßenmarkierungen plötzlich steil in den Himmel führen, begibt man sich dann meistens zurück in den Club, den man gerade zuvor noch hektisch verlassen hat. Oder man wartet auf die große Chance kurz vor drei Uhr, wo sich die Brücken für die hartnäckigsten Piloten kurz wieder senken. Den besten Blick auf dieses Spektakel hat man von einem ungewöhnlichen Ort aus. Vor der Peter-Pauls Festung, am Ufer genau der Eremitage gegenübergelegen, befindet sich eine kurze Strecke Strand. Feiner Sandstrand, mitten im Stadtzentrum. Hier kann man bei intaktem Immunsystem im Sommer auch schwimmen gehen. Hier präsentieren sich die Wahrzeichen der Stadt in einem Panorama wie sonst nirgends in St.Petersburg. Isaaks-Kathedrale, Winterpalast, Admiralität - alles auf einen Blick, und mehrere der hyperaktiven Brücken gleich dazu.

Abraksin Dvor: Schmelztiegel Kaukasus
In der Mitte des Hauptboulevard von St.Petersburg, dem Nevskij Prospekt, befindet sich ein frisch renovierter wuchtiger Block von gut einem halben Kilometer Seitenlänge. Der „Gostinij Dvor“ ist die traditionelle Nobeleinkaufsmeile in St.Petersburg. Heute wird er von Benetton, Cartier und russischen Nobelkonfektionen bevölkert, demzufolge kommen viele nur zum Schauen. Wie ein Entwurf aus einem Gegenuniversum erstreckt sich in unmittelbar Nähe, quasi über die Sadovaja Ulica gespiegelt, der „Abraksin Dvor“, der Trödler- und Händlermarkt von St.Petersburg. Hier laufen die geografischen Stränge eines großen Landes zusammen, jetzt wie zu Sowjetzeiten. Menschen und Waren aus allen Regionen Russlands treffen hier aufeinander. Usbeken, Kasachen, Mongolen, und in der Mehrzahl ein Gemisch kaukasischer Nationalitäten: Georgier, Tschetschenen, Armenier. Es ist eng, laut und bunt. Für russische Nationalisten auch das willkommmene Feindbild vom „zwielichten“ Treiben der „Chernie/Schwarzen“, wie Kaukasier im rasissistischen Jargon gennant werden. Not oder Geschäfte bringen sie bis in den hohen Norden, dort, wo das Geld sitzt. Erstehen kann man hier so ziemlich alles zu günstigen Preisen. Wertvolle Lederjacken und billige Stereoanlagen, raubkopierte Comuterprogramme und selbstgebrannten Schnaps. Das beste georgische Restaurant der Stadt, mit Disco auch zur Mittagszeit, liegt mitten im Getümmel. Den Weg dahin soll sich jeder selbst finden.

Die Markthalle am Sennaja Ploschad
Am Sennoj Rynok, dem Lebensmittelmarkt am „Heuplatz“, gleich beim Moskovskij Prospekt bekommt man tiefe Einblicke in die russische Kulinarik. Sie erzeugen die ersten Vorahnungen, wie eine freundliche Symbiose mit dem Wetter vor Ort aussehen könnte. Während der Winterzeit dominiert in der weitläufigen und vollbelegten Markthalle der bunteste Bereich. Die überbordenden Stände mit sauer eingelegtem Gemüse. „Ich liebe alles, was sich in Russland in Einmachgläsern befindet,“ meinte ein Freund. Dem kann man nur zustimmen. Kein Gemüse scheint diesen raffinierten Prozessen widerstehen zu können. Egal ob scharf eingelegtes Kraut mit roten Rohnen, junger Knoblauch, ganze Tomaten oder diverse Schwammerln. Sie alle finden ihren Weg in die magischen Glasbehälter, um sich dort langsam zu geschmacklichen und ernährungstechnischen Wunderwuzzis zu entwickeln. Die Nachbarabteilung hingegen hält sich vornehm in weiß/himmelblau. Weiß die Grundprodukte Kefir, Sauerrahm, Topfen, Milch. Himmelblau die großen Metalltöpfe und Schöpfkellen. Nach Hause geht man wiederum mit einem vollem Glas. Sauerrahm, Doppelrahmstufe oder sowas. Ergänzt wird der Einkauf mit einer Ladung Protein in Fisch- oder Fleischform. Dazu das beste Schwarzbrot nord-östlich der Gebrüder Auer aus Graz. Wenn diese Ingredienzien dann in eine Suppe wandern und essentiell mit Wodka unterlegt werden, ist die Welt dein Freund. Egal was für eine Nummer der Breitengrad gerade haben mag.