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Von Antje Mayer.

Die Unsichtbaren

Die Roma wehren sich. Auf ihre Art.

Nach den Roma-Revolten in der Ostslowakei Anfang 2004 überschlugen sich die Medien mit Sensationsberichten über deren katastrophale Lebensbedingungen. Die Mehrheit jedoch ist äußerlich längst integriert. Indes: Der tägliche Rassismus gegen sie reißt nicht ab. Eine jüngere Generation wehrt sich nun. Auf ihre Art.

Warum nicht alle Roma Supermärkte plündern, Analphabeten sind und in Slums vor sich hinvegetieren ...
„Ein Zigeuner hat lange Haare, ist dreckig und lügt“, findet der Slowake Ivan Hriczko. Er selbst hat eine kurze, adrett gegelte Frisur, verwendet größte Sorgfalt auf ein perfektes Businessstyling. Er will endlich nicht mehr die Lügen hören, die über Menschen wie ihn verbreitet werden. Denn Ivan Hriczko (23) ist kein Zigeuner, kein „Cigan“, er ist ein „Mittelschicht-Rom“, wie er sich selbst nennt. Einer, der unter den „Weißen“, den Nicht-Roma, in der Slowakei aufgewachsen und gut ausgebildet ist. „Ich gehöre zu einer neuen Generation, die sich aus dem Teufelskreis von schlechter Ausbildung, Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe-Empfängertum befreit hat“, erklärt Hriczko selbstbewusst.
Nicht einmal zwanzig Jahre war er alt, als er schon beim slowakischen Fernsehen, bei Global-TV, anheuerte und das nicht hinter, sondern vor der Kamera. Als „erster Roma-Reporter der Slowakei“ – mit ungarischen und jüdischen Wurzeln – sei er so populär wie umstritten gewesen, erzählt Hriczko. „Viele Zuschauer dachten, ich stamme wegen meiner dunklen Haare und Hautfarbe aus Spanien oder Portugal. Als die erfuhren, dass ich ein Rom bin, waren Drohanrufe noch die harmloseste Art des Angriffs.“

Alles auf eine Karte gesetzt
Als ihn vor zwei Jahren die „Weiße“ Kristína Magdolenová auf einem Medienseminar ansprach, ob er nicht mit ihr eine Roma-Presseagentur in Košice in der Ostslowakei gründen wolle, war er „sofort Feuer und Flamme“.
„Meine Mutter bekam fast einen Herzanfall vor Angst, als sie das hörte“, erinnert sich Hriczko. „Aber ich konnte die Vorurteile und die boulevardesken Roma-Berichte in den slowakischen Medien nicht mehr ertragen.“ Während er das erzählt, schiebt der junge Rom seinen dicken goldenen Siegelring zurecht und stolz seine Visitenkarte über den Tisch. Sie weist ihn als „Direktor“ aus. „Das erste Mal in meinem Leben, dass ich alles auf eine Karte setze“, lächelt Hriczko.
Lächeln scheint Hriczkos Passion zu sein. Denn der Journalist gehört zu der Sorte Mensch, die mit ihrer einnehmenden Höflichkeit derart bezirzen, dass sie einen freudestrahlend als „Idiot“ bezeichnen könnten und man würde es noch als Kompliment auffassen. Aber solcherart Unflätigkeiten würden freilich nie im Leben über Hriczkos Lippen kommen. Im Gegenteil. Diplomatie, das ist die hohe Kunst, der er sich verschrieben hat. Seine drei Leitmotive sind „Objektivität“, „Kommunikation“ und „Unabhängigkeit“. Die wiederholt der Rom mantra-artig, so oft, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren mag, dass seine Freundlichkeit eher als Schutzpanzer gegen mögliche Kränkungen dient, als dass dieser Ursprung einer leichtfüßigen Lebenseinstellung ist.

Roma-Revolten: spektakulär und medienwirksam
"Der heurige März war ein guter Monat für die Roma Press Agency“, ist Hriczko stolz. Über dreißig Journalistenteams aus der ganzen Welt hätten sich in den vergangenen Wochen bei ihnen in der Agentur förmlich die Klinke in die Hand gegeben. Ein bisschen Zubrot hätte das gebracht, ansonsten finanziere man sich mit ein wenig Geld von der Amerikanischen Botschaft, der EU und der Schweizer Medienhilfe. Um über die Lebensbedingungen der Roma zu berichten, seien die Kollegen Redakteure von weit her in die hübsche ostslowakische Stadt Košice (300.000 Einwohner) gereist. Neben dem monatlichen Supplement „Rómske listy“ in der Wochenzeitschrift „Domino“ publiziert die siebenköpfige Redaktion auf ihrer Webpage täglich drei bis fünf Artikel. Die Seite sei in dieser Zeit frequentiert wie selten gewesen. „Viel von Ausländern, kaum von Einheimischen, für die die Nachrichten – immerhin auf Englisch, Romanes und Slowakisch – ja vor allem auch gedacht sind“, fügt Hriczko enttäuscht hinzu und dann lächelt er umgehend wieder.
Der Grund für das jählings erwachte Interesse des Auslandes an den Roma in der Ostslowakei stellt sich so spektakulär wie medienwirksam dar. Ende Februar hatten Revolten und Lebensmittelplünderungen in mehreren ostslowakischen Roma-Siedlungen, gegen die rund 20.000 Polizisten und 1.000 Soldaten vorgingen, für internationale Schlagzeilen gesorgt. Grund der Wut: Der slowakische Ministerpräsident Mikulas Dzurinda hat ab Anfang März den Grundbetrag für die Sozialhilfe von rund 4.000 auf 2.000 Kronen gekürzt (rund 50 Euro). Die meist kinderreichen Roma-Familien bekommen unabhängig von der Kinderanzahl einen maximalen Satz von 4.210 Kronen (rund 104 Euro). Die staatliche Unterstützung ist die einzige Einnahmequelle vieler Roma, die immerhin neun Prozent der Gesamtbevölkerung des neuen EU-Beitrittslandes ausmachen und teilweise unter katastrophalen hygienischen Bedingungen in Ghettos außerhalb der Städte und Dörfer hausen.
„Auf diese mittellose Minderheit haben sich die Medien und die Politiker in den vergangenen Wochen geradezu gestürzt“, spottet Etela Matová, eine 22-jährige Romni, die für die Presseagentur arbeitet. Wenn sie durch den „Vorzeige-Slum“ Lunik IX am Stadtrand von Košice führt, wohin längst kein Pizzadienst und Taxi der „Weißen“ mehr, aber seit neuestem eine Menge Journalisten fahren wollen, winken ihr die Roma inzwischen vertraut zu. „Für sie sind die unerhofften Besucher, die täglich mit ihren Mikrophonen und Kameras auf sie einstürmen, eher eine willkommene Abwechslung als ein Stein des Anstoßes. Immerhin haben die Leute viel Zeit. Die Arbeitslosenrate in Lunik IX beträgt nämlich genau hundert Prozent.“ Etela Matovás Worte werden jäh durch einen ohrenbetäubenden Krach unterbrochen. Irgendjemand hat eben aus dem fünften Stock der abrissreifen, von stinkenden Müllhalden umkränzten Plattenbauten etwas sehr Großes auf die Straße geworfen. „Wenn der Fernseher kaputt ist, pfeffern die Roma ihn hier einfach aus dem Fenster. So ist das nun einmal in Lunik IX“, zuckt die junge Journalistin gelassen die Achseln.

Aufgrund ihrer Herkunft täglich diskriminiert
„Ähnlich wie in diesen Slums, auf Slowakisch auch ‚osady’ genannt, hausen in der Slowakei ungefähr 120.000 Roma“, weiß Matovás Chef Ivan Hriczko. „Aber da gibt es noch die, die wir die ‚Unsichtbaren’ nennen. Sie stellen als Mittelklasse, aus der ich ebenfalls stamme, mit 250.000 Mitgliedern die Mehrheit der slowakischen Roma. Rund drei Viertel davon sind verhältnismäßig gut ausgebildet, besitzen Häuser, Autos und Fernseher, leben also wie die ‚Weißen’. Fast. Sie waren die Ersten, die nach 1989 ihre Jobs verloren. Denn auch den Nicht-Roma geht es derzeit in der Slowakei nicht gut. Ein Rückgang der Arbeitslosigkeit von derzeit 17,4 Prozent auf unter 14 Prozent wird nicht vor 2010 erwartet. Je nach Region variiert die Arbeitslosigkeit unter den Roma aber zwischen 70 und 100 Prozent. Aufgrund ihrer Herkunft werden sie täglich, vor allem bei der Jobsuche, diskriminiert“, ärgert sich der ehemalige TV-Reporter. „Für sie haben die Politiker und die Medien keine Ohren und Augen. Die geben nicht so gute Bilder her!“
Eine solche „Unsichtbare“ ist Hrickos Bekannte Josephina Vornová, die der Agenturgründer liebevoll „Schwester“ ruft. Die 22 Jahre junge Romni lebt in dem 1.500 Seelen zählenden Dorf Durkov auf dem Land, zwanzig Autominuten von Košice entfernt. Ein Drittel der Einwohner dieser Siedlung sind Roma. Zusammen mit ihrem Mann und ihrem einjährigen Sohn wohnt sie in einem penibel aufgeräumten Zimmerchen, knapp zwanzig Quadratmeter klein, im Haus ihrer Eltern und Geschwister. Die junge „Mittelstand-Familie“ kann sich einige Dinge leisten, denn Josephinas Ehemann hat Arbeit im Supermarkt „Metro“ gefunden: einen Schrank, ein Gitterbett, einen Fernseher, ein Familienfoto und – der ganze Stolz – eine nigelnagelneue gelbe Ledercouch. Dafür gibt es keinen Marienkitsch und Plastikblumen wie bei den Eltern.
„Wie alle Häuser der Roma steht auch das meiner Familie außerhalb des Dorfes“, ärgert sich die junge Mutter. „In der Schule musste ich immer besser als die Weißen sein, weil ich eine Romni bin. Jeden Tag nach dem Aufstehen schießt mir durch den Kopf: Ich bin eine Romni. Ich denke es, wenn ich durch das Dorf gehe und die Blicke der Nicht-Roma auf mir spüre. Ich habe helle Haut und braune Haare und dennoch lassen mich die Weißen merken, daß ich ‚nur' eine Romni bin. Warum bloß? Ich verstehe diese Ablehnung einfach nicht.“
Josephina Vornová ist aufgewachsen wie andere slowakische Kinder. Sie wurde nicht mit 14 Jahren von ihren Eltern traditionell verheiratet, hat eine gute Schulausbildung genossen, spricht nicht nur Romanes, sondern auch Slowakisch und sogar gut Englisch. Sie will als „gute Roma-Frau“ auch nicht so viele Kinder wie nur möglich gebären, sondern bleibt erst einmal bei ihrem einen, „in Zeiten wie diesen“. Ihren Job als Integrationsbetreuerin für Roma-Kinder im Dorfkindergarten hat sie kürzlich verloren. Wegen Geldmangel, wurde ihr gesagt. Dennoch gehe es ihr besser als vielen anderen Roma im Dorf, findet Josephina. Da hat es ihre Verwandte Darina Tucková schon schlechter.
Die lebt mit ihrer achtköpfigen Familie, deren Mitglieder allesamt mit der Sozialhilfe auskommen müssen, auch in einem ähnlich großen Steinhaus wie dem ihren, nur ein paar hundert Meter weiter auf dem „Minderheitenhügel“ des Dorfes. Die Straßen, die dorthin führen, sind schlammig und unbefestigt und von notdürftig zusammengezimmerten Baracken der ärmeren Roma gesäumt. Die Luft ist erfüllt vom beißenden Geruch verbrannten Plastiks. Darina ist Mitte fünfzig wie ihr frühpensionierter zuckerkranker Ehemann.
„Vierzig Jahre hat er als Bauarbeiter geschuftet“, ist Darina Tucková den Tränen nahe. „Seit den Sozialkürzungen auf 2.000 Kronen weiß ich nicht mehr, wie ich die teuren Medikamente meines Mannes zahlen soll. Sie allein fressen drei Viertel meiner Unterstützung. Aber wir wollen nicht stehlen.“ Zum Beweis zeigt sie mit zittriger Hand eine Schuhschachtel. „Schauen Sie: Allein fünfzehn verschiedene Mittel muss mein Gatte täglich nehmen, sonst würde er sterben.“ „Richtig so, reg dich auf, Darina“, ermutigt sie Hriczko, „lern deine Wut zu formulieren.“

„Wir haben noch unser ganzes Leben in diesem Land vor uns“
Als Ivan Hriczko und Josephina Vornová das Haus der Freunde verlassen, werden sie nachdenklich: „Die Generation unserer Eltern und Großeltern hat viel falsch gemacht, indem sie sich selbst isoliert und hingenommen hat, von Sozialhilfe leben zu müssen. Die Eltern der Weißen verboten zwar ihren Kindern, mit uns zu spielen, aber auch unsere Mütter verboten uns den Umgang mit den Kindern der Weißen. Warum? Weil die in ihren Augen unanständig waren. Mehrere Freunde zu haben vor der Heirat – so etwas verletzte ihr Moralgefühl. Aber wir jungen Roma müssen uns ändern, müssen auch überkommene Regeln über Bord werfen“, wird Josephina lauter: „Mit Diplomatie und Charme unsere Sorgen und Wünsche äußern, ohne auf Konfrontation zu gehen: objektiv, kommunikativ und unabhängig. Wir haben noch unser ganzes Leben in diesem Land vor uns.“
Mit dem Agenturchef Ivan Hriczko und anderen „Mittelschicht-Roma“ wie der Agenturjournalistin Etela Matová hat Josephina Vornová nun im vergangenen Jahr die Roma-Jugendorganisation „My Roma“ („Wir Roma“) gegründet. Der Verein vermittelt Arbeitspraktika in Unternehmen, organisiert Diskussionsrunden, Kulturtreffen und hält Kommunikationskurse ab. Dass viele der slowakischen Unternehmer, die Roma sind, aber bekanntermaßen ihresgleichen bei der Einstellung keineswegs bevorzugen, findet Ivan Hriczko, ganz Geschäftsmann, nicht weiter schlimm: „Auch sie müssen sich den Marktgesetzen beugen. Der, der besser ausgebildet ist, soll den Job bekommen. Alles andere wäre Rassismus mit umgekehrten Vorzeichen.“
Heuer sprach Josephina mit ihren Freunden von „My Roma“ das erste Mal beim Bürgermeister ihres Dorfes vor, um ihre Sorgen und Wünsche vorzubringen. „Er entschuldigte sich zwar, dass er derzeit kein Geld für Maßnahmen habe, aber ein Erfolg war der Termin trotzdem“, freuen sich Josephina und Ivan. „Immerhin signalisierte der Bürgermeister Verständnis für unsere Kultur.“
Und wie pflegen die jungen Roma, zu denen die Journalistin Etela, der Agenturchef Ivan und Josephina gehören, ihre Tradition und Kultur? „Im Grunde leben wir längst wie die Weißen“, überlegt Ivan Hriczko. „Der einzige große Unterschied ist, dass unsere Hautfarbe dunkler ist und wir Romanes sprechen. Vielleicht heiraten und beerdigen wir unsere Toten noch auf eine andere Art. Aber unterscheidet sich dahingehend zum Beispiel die Tradition der Sizilianer nicht auch ein wenig von der der Österreicher?“, fragt Ivan Hriczko.
In diesem Moment klingelt sein Mobiltelefon. „Entschuldigen Sie bitte einen Augenblick, meine Liebste“, flötet Hriczko mit kaum zu übertreffender Höflichkeit. Vor lauter Aufregung vergisst er während des Telefongesprächs für einen Augenblick sogar zu lächeln. Als er auflegt, strahlt er über das ganze Gesicht: „Das war das slowakische Sozial- und Familienministerium. Sie baten um einen Termin mit mir!“ Dann dreht Hriczko seinen goldenen Siegelring zurecht und schmunzelt: „Wenn ich das noch zu der Frage, was uns als Roma unterscheidet, hinzufügen darf: Heute Morgen habe ich zum Frühstück ein Fladenbrot nach Art der Roma gegessen. Sollten Sie unbedingt probieren!“



Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,April 2004
> Link: REPORT online > Link: RPA - Roma Press Agency-