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Von Sibylle Hamann.

Dem Osten gehen die Frauen aus

Die Frau steigt in den Kleinbus, der Papa steht am Herd.

<Was hat das kleine Örtchen Lučenec in der Slowakei mit den ostdeutschen Plattenbauvierteln in Marzahn und ­Mecklenburg-Vorpommern gemeinsam? Die Frauen gehen von dort weg, um fern der Heimat den Lebens­unterhalt für ihre ­Familie zu verdienen, während die Männer zu Hause den Haushalt führen. Ein aus der Krise geborenes Experiment der vertauschten Geschlechterrollen, mit großen Konflikten. Eine Reportage.

Mittwochs und samstags wird in Lučenec immer geputzt. Die Männer holen morgens den Mopp aus dem Abstellkammerl, die Kinder werden zum Wischen und Staubsaugen eingeteilt. Denn mittwochs und samstags kommt die Mama von der Arbeit heim. Und da soll es halbwegs sauber sein.
Lučenec ist eine verschlafene Kleinstadt in der südlichen Slowakei, nahe der ungarischen Grenze. Die Fußgängerzone im Zentrum wird eben neu gepflastert. Der Ort verfügt über zwei Billa-Supermärkte, zwei Bankomaten, eine barocke Kirche, eine Pizzeria „Europa“, einen Eissalon, ein Sonnenstudio und einen jährlichen Angelwettbewerb. Es gibt Apfelbäume und ein paar Kühe. Es ist recht schön in Lučenec. Aber es gibt keine Arbeit. Die große Textilfabrik am Stadtrand hat zugesperrt.
Seit es in Lučenec keine Arbeit mehr gibt, geht in den adretten Einfamilienhäuschen Seltsames vor sich. Ein Phänomen macht sich bemerkbar, das man auch anderswo in osteuropäischen Krisenregionen beobachten kann: Die Geschlechterverhältnisse verkehren sich ins Gegenteil. Die Frauen gehen Geld verdienen, die Männer bleiben daheim und kümmern sich, mehr oder weniger freiwillig, um den Haushalt. Beide, Männer wie Frauen, hatten nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaft ihre Jobs in den Fabriken verloren. Die Frauen grämten sich, rissen sich zusammen und begannen neu. Die Männer grämten sich und sind bis heute arbeitslos. „Sie haben resigniert“, sagt Danka.
Danka, 48 Jahre alt, eine schmale, kantige Frau, ist heute Pflegerin. Eine von jenen Tausenden „Illegalen“, die sich in Österreich um Alte, Kranke und Einsame kümmern – nicht in Pflegeheimen, sondern in deren privaten Wohnungen. Dankas Geschichte ist typisch für die Frauen dieses Landstrichs. Sie war bis zur Wende in der technischen Abteilung einer Maschinenfabrik angestellt. Damals produzierte das Werk Gabelstapler für die sozialistischen Länder und beschäftigte 700 Arbeiter. Heute stellt es mithilfe von 29 Arbeitern Kaminöfen für den Export in den Westen her. Für Danka gibt es hier nichts mehr zu tun.
Damit wollte sie sich nicht abfinden. Sie hat ein Haus mit Garten, zwei studierende Kinder, einen arbeitslosen Mann, der früher Automechaniker war. Sie hat keine Zeit zum Stillsitzen – und sie ist stolz. „Ich will das Haus nicht verlieren. Ich will nicht, dass meine Kinder in Armut aufwachsen. Deswegen musste ich etwas tun“, sagt sie.
Die Chance, die sich auftat, war die Pflege. Das örtliche Arbeitsamt bietet Kurse für Krankenschwestern an und viele, sehr viele Frauen haben diese belegt. Lučenec ist so zum „Sammelbecken der Pflegerinnen“ geworden. Der Ort liegt nah genug bei Österreich, sodass sich das Hin- und Herfahren lohnt. Die Schicht, während der die Pflegerinnen rund um die Uhr bei ihren Patienten wohnen, dauert im Normalfall 14 Tage. Anschließend kommen die Frauen, entweder mittwochs oder samstags, für zwei Wochen nach Hause. 45 Euro Taschengeld gibt es pro Tag, 630 Euro für zwei Wochen. Das ist viel im Vergleich zu einer Krankenschwester im örtlichen Spital, die im Monat umgerechnet 200 bis 300 Euro verdient.
Selbstverständlich ist es ein Job, den Männer ebenso gut machen könnten. Aber irgendwie kriegen sie das nicht so recht hin, hat Danka festgestellt: „Da herrscht sehr viel Nähe, es ist emotional und körperlich enorm anstrengend. Das hält ein Mann nicht so leicht aus.“ Vielleicht – aber das schwingt in ihren Worten nur unterschwellig mit – sind sich die Männer auch einfach zu schade für diese Art Arbeit. Weil man dabei keine Maschinen bedient, keine Knöpfe drückt, weder ein Werkzeug noch ein Lenkrad in der Hand hält. Weil es sich eben, in ihren Augen, um keine „richtige“ Arbeit, sondern um Frauenkram handelt.
Es wird für die Männer wohl gar nicht so einfach sein, beobachten zu müssen, dass „Frauenkram“ in diesen Zeiten, in dieser Gegend, unter diesen Umständen, mehr Einkommen abwirft als die Tätigkeiten, die sie selbst gelernt haben. Ähnliches geschieht an vielen Orten, an denen die industrielle Produktion, unwirtschaftlich, wie sie war, zusammenbrach – und mit ihr die heroische Aura des muskulösen, schwitzenden männlichen Industriearbeiters. Wenn sich hier neue Arbeitsmöglichkeiten auftun, dann meist in klassischen Frauennischen: im Tourismus, in privaten Dienstleistungen, überall dort, wo Improvisation gefragt ist. Wo man keine Maschinen braucht und bei der Arbeit nicht schwitzt. Wo sich jedoch ständig von einem Tag zum anderen alles ändern kann.
Danka und ihre Kolleginnen haben sich schon mehrmals im Leben „neu erfunden“. Als es mit der Technikerinnen-Karriere vorbei war, haben sie sich einen Satellitenanschluss besorgt und vor dem Fernseher Fremdsprachen geübt. Sie haben sich Kassetten zum Üben bestellt. Sie haben pflegen gelernt, weil in Österreich Pflegerinnen gebraucht werden. Sie hätten etwas anderes gelernt, wenn in Österreich etwas anderes gefragt wäre. Sie wären sich auch nicht zu schade, putzen zu gehen.
Dass sich Frauen leichter tun, ihre Biografien an politische Umwälzungen anzupassen, kann man auch anderswo beobachten. Im Osten Deutschlands zum Beispiel. Marzahn in Berlin, einst Wohnviertel der DDR-Elite, ist heute ein Schauplatz der Krise. Der Wind pfeift zwischen den lang gezogenen Quadern der Plattenbauten durch. Die zerzausten Hecken auf den Grünstreifen können ihm wenig entgegensetzen. „Die Platte“ wirkt besser als ihr Ruf: Sie wurde saniert und in niedlichen Pastelltönen angepinselt. Doch die Monotonie im Einzelhandel, die über Kilometer hinweg ewig gleiche Abfolge von monströsen „Aldi“- und „Lidl“-Märkten, verrät, dass hier keine hedonistisch-elitären Trendsetter zu Hause sind, sondern die „Abgehängten“. Marzahn ist kein Slum. Die Armut ist nicht sichtbar. Aber wenn vor der Pfarre Gratis-Essen verteilt wird, bildet sich eine lange Schlange von Wartenden. Jeder Vierte ist arbeitslos.
Im Erdgeschoß eines schmucklosen Wohnblocks ist „Marie“ untergebracht, eine Berufsberatungsstelle für Frauen. Karin Gaulke hat hier jeden Tag mit den klassischen Symptomen des Umbruchs zu tun: Arbeitslosigkeit, Schulden, Sinnkrise. Doch sie hat dabei eine ähnliche Beobachtung gemacht wie Danka in Lučenec: dass Frauen mit der Krise irgendwie produktiver umgehen. „Frauen arbeiten ja ohnehin immer, im Haushalt zumindest“, sagt Gaulke. „Die haben was zu tun, fühlen sich nicht so schnell überflüssig.“
Auch in Marzahn arbeiteten viele Frauen vor der Wende in technischen Berufen. Sie waren Zerspanungsfacharbeiterinnnen oder standen an der Fräsmaschine. Das Selbstbild der Amazone an der Maschine haben sie jedoch über Nacht abgestreift wie ein altes Hemd. Bisweilen irritiert es die Beraterin sogar, wie schnell das ging; wie bereitwillig sich ihre Klientinnen sofort auf klassische Frauenberufe umschulen ließen, auf Verkäuferin oder Sekretärin. Man sei in der DDR in die technische Ausbildung „irgendwie reingerutscht“, ohne dies wirklich zu wollen, man habe es sich ja damals nicht wirklich aussuchen können, hört Gaulke oft. Sie findet für dieses seltsame Phänomen nur eine mögliche Erklärung. Der technische Beruf sei für Frauen in der DDR häufig nur eine Formalität gewesen. Vielfach waren sogenannte „Ingenieurinnen“ bloß Zuarbeiterinnen, ohne Eigenverantwortung, ohne Entscheidungskompetenz. Oder sie waren für klassische weibliche Nischen zuständig: die Aufzeichnung der Arbeitszeiten, das Archiv, die Kulturabteilung. Da gab es für die Frauen nach der Wende nicht viel zu verlieren. Da war mehr zu gewinnen, wenn man sich „neu erfand“. So fiel es leicht, loszulassen. Leichter als jenen, deren Selbstbild einen großen Sprung bekam: den Männern.
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, was den arbeitslosen Frauen von Marzahn in diesen Tagen am meisten Sorgen bereitet: die Arbeitslosigkeit ihrer Ehemänner. Dass jene mit der Leere nicht zurechtkommen. Dass sie sich gehen lassen. Dass sie abstürzen. „Ich komme schon klar“, sagen sie der Beraterin, „aber was tue ich, wenn mein Mann zu trinken beginnt?“ Um zu sehen, wie berechtigt diese Angst ist, muss man bloß ein Stück weiter nach Nord­osten fahren. Links sind Bäume, rechts sind Bäume, in der Mitte Zwischenräume: Das ist Mecklenburg-Vorpommern, das weite, flache Land an der Ostsee, das die höchste Arbeitslosenrate Deutschlands und gleichzeitig den größten Männerüberschuss aufweist. Die beiden Dinge hängen miteinander zusammen. Denn die arbeitslosen Männer haben resigniert und sind geblieben. Die arbeitslosen Frauen hingegen haben sich selbst am Schopf gepackt und sind weggezogen, in Richtung Westen, um etwas Neues zu suchen.
Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn auf 100 junge Männer nur noch 85 junge Frauen kommen? Man kann es erahnen, wenn man einen Blick in die Statistik wirft: Die Einwohner von Mecklenburg-Vorpommern haben die niedrigste Lebenserwartung von ganz Deutschland, gleichzeitig gibt es hier die meisten tödlichen Verkehrsunfälle und die höchsten Raten an alkoholbedingten Lebererkrankungen und übergewichtigen Personen.
Auch in Lučenec ist nicht alles Wonne, seit die Frauen zum Arbeiten nach Österreich pendeln. Es herrschen Spannungen in den Familien, es gibt gekränkte Eitelkeiten und Verschiebungen in den Rollenbildern, über die nur verschämt gesprochen wird. Nicht jedes männliche Ego kann damit umgehen, mit dem Wischmopp in der Hand darauf zu warten, dass endlich die Ehefrau nach Hause kommt. Und nicht jede Pflegerin kommt mit dem schlechten Gewissen zurecht, das sie, wenn sie unterwegs ist, auf Schritt und Tritt mitschleppt. „Ich weiß, dass mein Mann daheim mit Bemerkungen darüber gehänselt wird, was ich in Wien wohl mache“, sagt Danka. Sie quält sich mit Zweifeln, ob sie ihre Kinder so lange allein lassen darf. Ob sie nicht besser am Krankenbett ihrer alten Mutter hätte sitzen sollen statt sich um eine fremde Frau in Wien zu kümmern. Ob ihre Ehe das aushält? Die Arbeit zehrt an den Nerven, am Körper, an den Beziehungen. Danka magert während der zwei Wochen in Österreich jedesmal um vier, fünf Kilo ab. Sie raucht dort fünfmal so viel wie daheim. Aber die Frauen werden, trotz aller Zweifel, am nächsten Samstag wieder in den Kleinbus steigen und losfahren. Was sie machen, ist ein aus der Krise geborenes Experiment mit Risiko und ungewissem Ausgang. Doch was sollten sie sonst tun, als daran teilzunehmen?



<Sibylle Hamann ist Auslandsredakteurin des ­österreichischen Nachrichtenmagazins „profil“. Im März 2007 ist ihr Buch „Dilettanten unterwegs. Journalismus in der weiten Welt“ (Picus-Verlag, Wien) erschienen.

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,April 2007
> Link: REPORT online