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Von Autor Aaron Moulton.

Revolution auf Abruf

Autor Aaron Moulton war auf dreitägiger Stippvisite in der Kiewer Kunstszene

„So was gab es noch nie“, hörte ich immer wieder während meiner drei Tage in Kiew. Im vergangenen halben Jahr wurde ein Zentrum für zeitgenössische Kunst in Kiew eröffnet, ein großer Kunstwettbewerb initiiert, und neue Räume für engagierte Kunstprojekte schossen förmlich wie Pilze aus dem Boden. Die Revolution befand sich erst einmal in der Warteschleife – was wollte man mehr?
Noch im vergangenen August gab es in Kiew kaum einen Ort für Kunst, vielleicht auch deswegen, weil alle vor der Eröffnung des „Pinchuk Art Centre“ im September 2006 den Atem angehalten hatten. In einer Stadt, in der Unternehmensgründungen offenbar so etwas wie ein nationales Freizeitvernügen darstellen und unternehmerischen Energien unendlich viel Platz zu deren Entfaltung geboten wird, kann sich offensichtlich auch die kulturelle Landschaft schnell entwickeln.

Der Sammler Viktor Pinchuk hatte seinen ersten eindrucksvollen Auftritt ...
im Jahre 2000 und stieg da ein, wo die Bemühungen des Kunstmäzens George Soros', Kunst und Kultur in Osteuropa zu institutionalisieren, das heißt neokapitalistisches Vermögen in Kunst zu investieren, letztlich nur unerfüllte Erwartungen hinterlassen hatten.
Allgemein als reichster Mann der Ukraine bezeichnet, ist Viktor Pinchuk einer der wenigen, denen es gelang, in der Ukraine Kultur zu institutionalisieren. Pinchuk sammelt seit mehr als zehn Jahren Kunst. Er wird dabei von seinem Kurator Oleksandr Solowjow beraten, der bisher ein konkurrenzlos breites Spektrum an Werken zeitgenössischer ukrainischer Kunst zusammengetragen hat. Ukrainische Stars wie Oleksandr Gnilizkij, Wassili Tsagalow, Oleg Kulik und Sergej Bratkow findet man auf seiner Künstlerliste ebenso wie internationale Größen wie Olafur Eliasson, Thomas Ruff oder Michael Lin. Die Sammlung ist ein nicht ganz unproblematischer Versuch, sich über einen im Grunde immer noch konfusen Ost-West-Dialog zu legitimieren. Der große Umfang der Sammlung ist jedenfalls ein Indiz dafür, wie laienhaft und passiv andere ukrainischen Institutionen bisher gesammelt haben. Sollten jene jemals versuchen, eine Kollektion oder repräsentative Schau des zeitgenössischen ukrainischen Kunstschaffens zusammenzustellen, würden sie auf Pinchuk schielen müssen wie die Londoner Tate Modern auf den Sammler Saatchi, wenn sie auch nur annähernd ihre Lücken auf dem Gebiet der neuesten heimischen Kunstproduktion auffüllen wollten.

Nicolas Bourriaud wurde 2003 von Pinchuk angeworben, um sich um den Ankauf „internationaler“ Kunst zu kümmern. Eine wahrhaftig schweißtreibende Aufgabe, denn das heißt, sich an die internationale Front im Kampf um die hippsten und gehyptesten Stücke werfen zu müssen. Immerhin: Man engte den Fokus auf Werke ein, die sich mit Kunst und Technik auseinandersetzen. Pinchuk besaß bis dahin nämlich bereits eine umfangreiche Sammlung im Bereich „Neue Medien“ aus der Ukraine, die bei einem Industriellen wie ihm auch einen biografischen Hintergrund haben dürfte.
Alles in allem hat diese Sammlung und alle Aktivitäten, die mir ihr verbunden sind, mittlerweile den Rahmen für die Kunstszene in der Ukraine offiziell abgesteckt, in der bisher der kommerzielle Markt das Sagen hatte.
Wenn man sich fragt, wie man in einem Land Interesse für Kunst weckt, in dem es so gut wie keine Kunstschickeria, geschweige denn so etwas wie ein kulturelles Bewusstsein gibt, dann hat nun das neue „Pinchuk Art Center“ eine Antwort darauf, die auf intelligent populistische Art sowohl Laien als auch Kunstkenner anspricht. Seine Ausstellungen werben mit der richtigen Mischung aus Spaß und Glamour wie bei der Vik-Muniz-Retrospektive und bei der kürzlich eröffneten Ausstellung mit Werken aus der Sammlung von Elton John. Für den Anfang für eine private Institution mit quasi-staatlicher Initiativkraft sicher ein guter Weg.

Natalia Manzhali und Liudmila Motsiuk vom Media Art Lab ...
warteten im futuristisch-hippen Café des „Pinchuk Art Center“ auf mich. Die Bar in der obersten Etage des Zentrums, eine auf cool getrimmte, in weißem Leder gehaltene geodätische Höhle, wartete mit einer Ausstattung auf, die von interaktiven Sofas mit beweglichen Teilen bis zu Musikboxen an Stellen, wo man sie am wenigsten erwartet, reicht, aus denen unaufhörlich ein Bossanova-Remix tönt. Auch nicht fehlen darf das DJ-Pult, das symbolträchtig im Zentrum des Geschehens platziert ist und wahrscheinlich noch nie zum Einsatz gekommen ist. Ein wohl kaum ironisch gemeintes Willkommen in der Welt der zeitgenössischen Kunst.
Das Kunstzentrum selbst befindet sich in der Kiewer Ultra-Edel-Location „Arena“, einem Büro- und Einkaufskomplex, der die feinsten Luxuslabels der Stadt und reichlich „Entertainment“ zu bieten hat. Die beiden Frauen Manzhali und Motsiuk sind ein inspirierendes Duo, das mit einer Reihe unorthodoxer öffentlicher Kunstprojekte dazu beigetragen hat, einen lebendigen Dialog mit dem erst erwachenden, aber rasch wachsenden Kiewer Kunstpublikum aufzubauen. Das „Media Art Lab“ wird von vielen der üblichen Verdächtigen finanziert: dem Goethe-Institut und gelegentlich auch noch von der Soros-Stiftung. In der jüngsten Zeit gab es auch Kooperationen mit dem ZKM in Karlsruhe und der „Ars Electronica“.
Erst seit zwei Jahren agieren die beiden unter dem Label „Media Art Lab“, kooperieren aber im Grunde schon zehn Jahre miteinander. Noch zu „Soros-Zeiten“ initiierten sie das „KIMAF Festival für Medienkunst“. Das Duo findet immer wieder neue Wege, um ukrainischen Künstlern eine Plattform für ihre Medienkunst zu bieten. Die Projekte weisen immer einen stark ortsbezogenen Charakter auf und finden an den ungewöhnlichsten Locations statt wie etwa im Fußballstadion, in einen der vielen Kiewer Casinos oder sogar in der Börse. Anfang September 2007 werden sie das „Animation Film Festival“ co-kuratieren, das zeitgleich in Kiew und Linz stattfinden wird.

Die Situation in der Ukraine schafft derzeit ein eigenartiges kreatives Umfeld ...,
das sich mit soziokulturellen Praktiken genauso auseinandersetzt wie mit der Dynamik einer sich im Wandel befindenden nationalen Identitätsfindung. Als die Revolution in ihrer ersten Welle ursprünglich noch politisch war, stellte sich eine Gruppe von etwa 20 jungen Künstlerinnen und Künstlern Seite an Seite mit ihren Landsleuten in die vordersten Protestreihen, die sie als Plattform für ihre künstlerische Aktionen nützten.
Die Gruppe, die sich „Revolutionärer Experimenteller Raum“ oder „R.E.P.“ nannte und heute auf einen Kern von sechs Mitgliedern geschmolzen ist (auf Ksenija Gnilizka, Mikita Kadan, Schanna Kadirowa, Olessja Chomenko, Wolodimir Kusnezow, Lada Nakonetschna), nutzte die „Orange Revolution“ als Medium für ein brennendes Anliegen, nämlich gegen die „Trägheit von Kunst und Kultur“ aufzubegehren. Ihre Aktionen, die oberflächlich betrachtet als Pseudoaktivismus von ein paar Enfants terribles wahrgenommen werden könnten, reagieren somit direkt auf die ortsspezifische Situation der Kunst. Das Ziel: eine neue Sprache für die zeitgenössische Kunst zu formulieren, die nicht im hybriden Ost-West-Dialekt stottert, sondern etwas echt Ukrainisches ist, geeignet, lokale Eigenheiten mit einem kritischen Ansatz zu dechiffrieren. Ihre institutionelle Kritik zielt auf unbeteiligte Passanten ebenso ab wie auf die scheinoffiziellen Infrastrukturen der Kunst oder das Bildungssystem im Land.

Bei vielen der kommerziellen Galerien in Kiew ist kaum erkennbar ...,
ob sie sich auf Kunst oder Kunsthandwerk spezialisiert haben. Die Werke, die sie verkaufen, haben mit bildender Kunst landläufig wenig zu tun. Immerhin: Einige arbeiten daran, das zu ändern: In der Galerie „Zech“, die in einem unscheinbaren Hinterhof ihr Lokal hat, schmückte eine Reihe von ikonografisch extravaganten Werken die rohen Ziegelwände. Der Künstler Rustam Mirsojew dekonstruiert in jenen Gemälden die Codes des ukrainischen Alltags, indem er sie über eine dichte Serie von in Blau gehaltenen Milieustudien legte. R.E.P.-Mitglied Lada Nakonetschna eröffnete die Galerie kürzlich mit einer Einzelausstellung. Ihr Video „Fashion Ukraine“ zeigte Menschen, die im Schneckentempo und zu einem hypnotisierenden Beat einen Kiewer Markt verlassen. Bei dieser Interpretation des Alltags als eine Art Laufsteg muss der Betrachter unwillkürlich schmunzeln.
In einem anderen Teil der Ausstellung zeigte Nakonetschna Schnappschüsse von Leuten, die sich an ihre unmittelbare Umgebung auf seltsame Weise anzupassen scheinen. Die Künstlerin spürt wie eine Jägerin oder Stadtzoologin mit der Präzision eines Fotografen Menschen auf, die annähernd die gleichen Farben wie die Wand, die Tür oder das Auto tragen, an denen sie gerade vorbeigehen.
Die „Fine Art Gallery“ stellte die neuen Arbeiten von Ksenija Gnilizka aus. Anders als bei früheren Projekten füllte die junge, aber durchaus bereits arrivierte Künstlerin – ebenfalls Mitglied von R.E.P. und Tochter des Malers Oleksandr Gnilizkij – Leinwände mit Simulationen von Stoffdesigns aus aller Welt, die sie aufrastert, vermischt und zu effektvollen visuellen Harmonien komponiert.

Die „EIDOS Foundation“ unterstützt durch Vorträge, Konferenzen und kürzlich auch durch einen Kunstwettbewerb ukrainische und osteuropäische Künstlerinnen und Künstler dabei, sich in Kiew eine Existenz aufzubauen.
Am Abend der Präsentation der Wettbewerbsteilnehmer im Arsenalgebäude war richtig viel Szene auf den Beinen. Helen Fawkes, Korrespondentin für BBC Kiew, und Jock Mendoza-Wilson von System Capital Management, dem Co-Sponsor der Ausstellung, waren sich einig, dass sie, seit sie in Kiew arbeiten, noch keinen vergleichbaren Auflauf von Schickeria bei einem Kunstprojekt erlebt hätten.
Während die Ausstellung ein wenig wie eine Kunstmesse aufgemacht war – auch qualitativ entsprechend kunterbunt gemischt –, stellte sie einen ernst gemeinten Versuch dar, die kulturelle Landschaft im Land zu verändern. Pro Pavillon wurden ein oder zwei Projekte vorgestellt, die beim Wettbewerb teilgenommen hatten, Ideen für ein Museum zeitgenössischer Kunst für Kiew zu entwickeln. Als poetisch und ironisch zugleich erwies sich ein Wettbewerbsbeitrag von Yu Krutschak: ein Video, in dem ein junges, blindes Mädchen vorsichtig mit den Fingern über ein Architekturmodell des noch nicht realisierten Museums strich. Da es in Kiew im Grunde bloß das „Pinchuk Art Center“ und das mittlerweile reichlich angeschlagene „Soros Center“ gibt, lässt sich dieser Museumswettbewerb eher als Hilferuf an das Kulturministerium beschreiben.
Es ist schwer abzuschätzen, wie nachhaltig all diese neuen Engagements für zeitgenössische Kunst und Kultur sind, nicht zuletzt, weil die meisten Aktivitäten letztlich alle privat finanziert sind.



Aaron Moulton war von 2005 bis 2007 Redakteur des Kunstmagazins „Flash Art International“. Derzeit ist er als freier Kurator und Kritiker in Berlin tätig, wo er im Oktober eine kommerzielle Galerie namens „Feinkost“ eröffnen wird.

Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Rapp, redaktionell überarbeitet und im Deutschen gekürzt von Antje Mayer.


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,August 2007
> Links: Animation Film Festival 2007 > Link:Pinchuk Art Centre- > Link: Soros Center for Contemporary Art- > Link:REPORTonline-