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Von Jacques Rupnik.

Populismus in Ostmitteleuropa

Eine Situationsanalyse von Jacques Rupnik.

Die jüngsten Entwicklungen in mehreren der neuen EU-Mitgliedstaaten, genauer gesagt das Aufkommen eines rechten und linken Populismus, haben die Aufmerksamkeit erneut auf Ostmitteleuropa gelenkt. Wie ist der derzeitige Trend populistischer Bewegungen in der Region zu erklären? Und was lässt sich daraus für die Zukunft der Europäischen Union ableiten? Eine Situationsanalyse des Politwissenschafters und Historikers Jacques Rupnik.

Im Februar 1989 hielt ich eine Rede mit dem Titel „Kommunismus – und was dann?” am IWM in Wien. Sie stützte sich auf die Aussage, dass der Zerfall des Kommunismus in Ostmitteleuropa die Aussicht auf demokratischen Wandel mit sich bringe, sein Erfolg aber davon abhängen werde, ob ein Gleichgewicht zwischen dem demokratischen Widerstandsethos gegenüber dem Totalitarismus und dem Sog der politischen Kultur der Region geschaffen werden kann. So wie das Schlagwort „Rückkehr nach Europa“ ambivalent war, so war auch der Begriff der „Rückkehr der Demokratie“ für jeden problematisch, der die präkommunistische Politik Ostmitteleuropas studiert hatte. Polen, dachte ich, könnte dabei zum Testfall werden, und so wagte ich folgende Überlegung: Die in Polen vorherrschende Mischung aus Katholizismus und Nationalismus hatte die Gesellschaft dem Kommunismus gegenüber besonders resistent gemacht (auf jeden Fall wenn man die Situation mit dem egalitären, sozialdemokratischen Ethos eines Masaryk in der tschechoslowakischen Vorkriegszeit vergleicht).

Die Frage stellte sich jedoch, ob diese „Vorteile“ der polnischen politischen Kultur, was die Resistenz betrifft, auch der Entwicklung einer liberalen Demokratie nach dem Zusammenbruch der Diktatur am zuträglichsten sein würden. Diese Frage ließ diesbezüglich einige Zweifel durchblicken. Die Entwicklungen der folgenden zehn Jahre zeigten, dass diese Befürchtungen übertrieben waren und Polen eine bemerkenswerte Kombination aus „katholischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus“ zur Schau stellte. Wenn sich die Katholiken sogar im heutigen Osteuropa mehr wie Protestanten zur Zeit Max Webers benehmen, und wenn die Erfahrung der Unfreiheit und des Widerstands paradoxerweise die Bedingungen für die Neuerfindung einer dem Dissens und der Solidaritätsbewegung nahe stehenden demokratischen Kultur schüfe, dann könnte man die Parallelen mit dem ersten Übergang zur Demokratie in den zwanziger Jahren von der Hand weisen. Ähnliche Argumente ließen sich über den Rest der Region, von den baltischen Staaten bis nach Ungarn, vorbringen. Mit konsolidierten Demokratien, die nunmehr in der Europäischen Union verankert waren, entstand ein neues Ostmitteleuropa (kein „neues Europa“!).

Die jüngsten Entwicklungen in den neuen Mitgliedsstaaten der EU bringen uns möglicherweise dazu, diese Aussage zu überdenken oder zumindest zu nuancieren. Rechtspopulisten in Polen und Linkspopulisten in der Slowakei koalieren in der Regierung mit extrem nationalistischen Parteien. In Budapest ruft die größte Oppositionspartei Fidesz vor dem Parlament zu Demonstrationen für den Rücktritt der Regierung auf, und das am selben Tag, an dem das Parlament das politische Ergebnis der letzten Mai stattfindenden Wahlen in einem Vertrauensvotum bestätigt hat. Dagegen führt in Prag eine rechte Minderheitsregierung, die nach fünfmonatigem Gezänk und der Mobilisierung gegen die „kommunistische Bedrohung“ noch kein Vertrauensvotum im Parlament gewonnen hat, eine weit reichende Säuberungsaktion in den oberen Rängen der öffentlichen Verwaltung durch. Zu guter Letzt wurde Bulgariens Beitritt zur Europäische Union durch ein Präsidentschaftsrennen eingeläutet, in dem ein Ex-Kommunist (der vorgibt, die EU zu mögen) gegen einen Protofaschisten (der behauptet, Türken, Zigeuner und Juden zu hassen) antrat.

Die Situationen und politischen Zusammenhänge sind offensichtlich äußerst vielfältig, es lassen sich nach dem EU-Beitritt jedoch auch gewisse Gemeinsamkeiten und Trends feststellen, die für die Stellung der Demokratie und die Zukunft der europäischen Integration wichtige Auswirkungen haben. Die erste ist offensichtlich die politische Instabilität und das unberechenbare Verhalten der politischen Akteure in der Region, obwohl im vergangenen Jahr in allen Visegrad-Ländern eben erst Wahlen stattgefunden haben. Noch beunruhigender ist der Verlust des Vertrauens in demokratische Institutionen. Einer vor Kurzem durchgeführten Studie von Gallup International zufolge, sind die Ostmitteleuropäer der Demokratie gegenüber am skeptischsten (nur rund ein Drittel vertrauen dem demokratischen Prozess). Im Gegensatz zu einer Mehrheit der Westeuropäer, halten Osteuropäer ihre Wahlen nicht für frei und gerecht. Auf die Frage „Glauben Sie, dass Ihre Stimme zählt?“ gaben nur etwa 22% eine positive Antwort. Die moderne Demokratie hat keine Rivalen, verliert aber an Unterstützung. Diese Ambivalenz und Unzufriedenheit spielt teilweise populistischen Bewegungen in die Hände.

Das führt uns zum zweiten Merkmal des derzeitigen Trends populistischer Bewegungen. Sie sind nicht antidemokratisch (sie behaupten sogar, „die wahre Stimme des Volkes“ zu sein und fordern immer wieder neue Wahlen oder Volksabstimmungen) aber antiliberal. Wenn Demokratie Legitimation durch das Volk und Konstitutionalismus (Gewaltentrennung) bedeutet, dann akzeptieren Populisten ersteres und lehnen letzteres ab (d.h. die Vorstellung, dass konstitutionelle Normen und repräsentative Demokratie Vorrang vor Werten und „legitimen“ Beschwerden des Volkes haben). Die „Wertepolitik“ polnischer Art beruht natürlich auf der Annahme, dass die in der Religion begründete „moralische Ordnung“ den von einem toleranten Liberalismus garantierten Freiheiten bei Themen wie Abtreibung, Homosexuellenrechten oder Todesstrafe vorzuziehen ist. Zu seinem Vorhaben, den Darwinismus aus den Lehrplänen zu verbannen, befragt, antwortete der polnische Unterrichtsminister: „Wir sind lange genug ohne Toleranz ausgekommen. Und wir werden auch jetzt ohne sie auskommen.“ In der Slowakei betrifft die antiliberale Reaktion auch den Umgang mit nationalen Minderheiten. Auch wenn in der Praxis (bisher noch?) keine bedeutenden Veränderungen stattgefunden haben, hat sich jedoch der Diskurs gewandelt: Jan Slota, Vorsitzender der slowakischen Nationalpartei, soll einmal gesagt haben, dass er die Tschechen darum beneide, die Deutschen vertrieben zu haben, und dass er nichts dagegen hätte, Bugar, den Parteichef der ungarischen Minderheitspartei, „ohne Rückfahrkarte“ auf den Mars zu schicken. Die Legitimierung der Fremdenfeindlichkeit ist ein wichtiges Merkmal des Angriffs auf den politischen Liberalismus.

In allen Ländern der Visegrad-Gruppe wird heftig polarisiert, und gerade hier wird die Prägung der kommunistischen politischen Kultur am offensichtlichsten: man steht keinem politischen Gegner gegenüber, mit dem man diskutiert oder verhandelt, sondern einem Feind, den man zerstören muss.

Ein weiterer Aspekt der antiliberalen Bewegung betrifft die Wirtschaft. Nach 15 Jahren entschlossener Politik der freien Marktwirtschaft fordern die Populisten aus Warschau, Bratislava und Budapest die Rückkehr des Staates. In Wirklichkeit leiten sie die Rückkehr der sozialen Frage ein. Die Verlierer der Transformation können sich nicht wirklich für die Vorzüge der Einheitssteuer oder die selbstdienliche Rhetorik über die „neuen Tatra-Tiger“ (ein beliebter Slogan der ehemaligen slowakischen Regierung) begeistern. Da seit 15 Jahren selbst sozialistische Parteien eine liberale Wirtschaftspolitik vorangetrieben haben, überrascht es nicht, dass die soziale Frage im rechten Lager (Kaczyinski und Orban) mit nationalistischen und protektionistischen Zwischentönen wieder auftaucht. Die Populisten haben den Mythos des liberalen „neuen Europas“ zerstört (und stellen den Niedergang und Stillstand des „alten“ dadurch in Frage).

Das dritte Merkmal der osteuropäischen Populismusbewegung ist der Angriff auf den seit 1990 vorherrschenden Elitekonsens. Regierungen kommen und gehen, aber sie haben, im Großen und Ganzen, eine sehr ähnliche marktorientierte Politik im eigenen Land und eine an der NATO/EU orientierte Auslandspolitik verfolgt. Die populistische Kampfansage an die modernisierenden politischen und technokratischen Eliten, die in den neunziger Jahren vorherrschten, hat zweierlei Gestalt: die Korruptionsbekämpfung auf der einen Seite und die „Entkommunisierung“ auf der anderen. Eine interessante Kombination der beiden findet sich in Polen in der Verurteilung der „Erbsünde“ – der Kompromisslösung von 1989 zwischen gemäßigten Dissidenteneliten und gemäßigten kommunistischen Eliten, die ein gewaltloses Ende des Kommunismus ermöglicht hatte. Dieser moralische und politische Fehler hat es den Exkommunisten angeblich erlaubt, ihre politische Macht in wirtschaftliche Macht umzuwandeln und der ausgedehnten Korruption Vorschub zu leisten, die den Privatisierungsprozess begleitet hat. Daher bedarf es eines Angriffs von zwei Seiten: Korruptionsbekämpfung und Entkommunisierung, ein Leitmotiv der Kaczynski-Brüder, Orbans und, zu einem gewissen Grad, auch der derzeit in Prag regierenden Rechtspartei (ODS).

Das vierte Merkmal der jüngsten Populismusbewegung in Ostmitteleuropa ist die Abneigung beziehungsweise der offene Widerstand gegen die europäische Integration. Die pro-europäischen Koalitionen waren nach dem EU-Beitritt erschöpft und haben sich aufgelöst. Bezeichnenderweise legten die Premierminister Polens, Tschechiens und Ungarns innerhalb weniger Tage oder Wochen nach Erfüllung der „historischen“ Aufgabe, „nach Europa zurückgekehrt zu sein“, ihre Ämter nieder. Populistische Nationalisten präsentieren sich als die einzigen Verteidiger nationaler Identität und nationaler Souveränität gegen „Bedrohungen von außen“, wie es Kaczynski formulierte. Er lässt sich auch nie eine Gelegenheit entgehen zu betonen, dass Polen nur in der EU ist, um seine rechtmäßigen Interessen zu schützen. Die EU stellt ein perfektes Ziel dar, da sie als liberales, elitäres und supranationales Projekt eine Kombination aus den meisten der oben erwähnten Beschwerden repräsentiert. So scheint die Annahme, dass der Beitritt zur EU das politische System der neuen Demokratien stabilisiert, in der Phase vor dem Beitritt am besten zu funktionieren. Nach dem EU-Beitritt scheint die Einstellung vorzuherrschen, „ihnen jetzt zeigen zu können, wer wir wirklich sind“. In manchen Fällen ist eine eigenartige Genugtuung zu spüren, sich durch den Beitritt zu Europa jenen entgegenstellen zu können, die es ein halbes Jahrhundert lang ohne uns aufgebaut haben, von Europa (oder im Interesse Europas) gesprochen haben, ohne uns zu berücksichtigen. Da sie die Rolle des Schülers in Europa leid sind, scheinen sich die populistischen Nationalisten danach gesehnt zu haben, endlich jenes Europa erkennen zu lassen, das sie im Sinne haben (ein „Europa der souveränen Nationalstaaten“, ein „christliches Europa“ im Gegensatz zum materialistischen, dekadenten, toleranten, supranationalen Europa).

Dies wirft eine Reihe von Fragen bezüglich des Einflusses der populistischen Gegenbewegung auf die EU selbst auf. Die erste und offensichtlichste Auswirkung ist, dass diese Situation wenig dazu beitragen wird, die weitere Erweiterung der EU, die derzeit besonders unter den Gründungsmitgliedern nicht unbedingt populär ist, zu fördern. Man kann die EU nicht tagein, tagaus als Bedrohung bezeichnen (so wie dies Kaczynski oder Klaus tun) und gleichzeitig fordern, dass die Vorzüge einer Mitgliedschaft nach Osten hin um eine lange Liste von Kandidaten, beginnend mit der Ukraine, erweitert werden. Man kann nicht, wie dies der rumänische Präsident getan hat, erklären, dass die oberste Priorität der „strategischen Achse“ Washington-London-Bukarest gilt und (noch vor dem EU-Beitritt) verlangen, dass Moldawien und die Länder des Schwarzen Meers Mitglieder werden müssen.

Die zweite Auswirkung ist nicht die Gefahr einer Auflösung sondern die stetige Abnahme des politischen Zusammenhalts innerhalb der EU. Was die osteuropäischen Populisten nicht wirklich einsehen, ist die Tatsache, dass die großen Vorteile, von denen ihre Länder durch die Mitgliedschaft profitieren (und aufgrund des neuen Budgets für 2007-2013 profitieren werden) von der Existenz eines politischen Zusammenhalts abhängen. Wenn Populisten, die von der alleinigen Verteidigung „nationaler Interessen“ besessen sind, die Oberhand behalten, werden sie vermutlich den Willen, eine gemeinsame Politik zu entwickeln, schwächen und eine Renationalisierung fördern, die eben nicht im „nationalen Interesse“ der neuen Mitgliedstaaten wäre.

Es gibt zumindest zwei wichtige Gründe, warum die Situation vielleicht “verzweifelt aber nicht bedrohlich“ ist, d.h. warum die EU lernen könnte, mit den Populisten zu leben. Ein Grund liegt darin, dass sich der Populismus in Zyklen bewegt. Populisten kommen im Zuge einer Antikorruptionsbewegung an die Macht, um das System „aufzuräumen“, aber wenn man erst Teil des Systems ist, wird man möglicherweise mit jenen Praktiken identifiziert, die man einst verurteilt hat. Die regierenden Parteien fallen üblicherweise wieder auf Klientelismus und die Korruption staatlicher Organe durch Unternehmen zurück (wie am Beispiel Polens zu sehen ist), anstatt eine Radikalisierung zu verfolgen.

Dem Euro-Konsens der letzten zehn Jahre wurde oft vorgeworfen, den politischen Wettbewerb in den Beitrittsländern seiner Substanz zu berauben und so zur populistischen Gegenbewegung, die Europa als Sündenbock benützt, beizutragen. Aber die EU kann den Populismus auch beschränken. Diese Erfahrung machte man zumindest mit dem Populismus innerhalb der EU vor der Osterweiterung. Österreich war seit 2000 der wichtigste Testfall: die Ausgrenzung stieß auf ihre Grenzen, die Aufnahme erwies sich als wirksamer. Schließlich waren populistische Nationalisten an den Regierungskoalitionen in Italien, Holland und Dänemark beteiligt (und haben diese seither wieder verlassen). Die Lektion für Neuankömmlinge könnte lauten, dass der Populismus dank der EU-Beschränkung untergraben oder aufgelöst werden kann. Anders gesagt, ist der nationalistische Populismus ein gesamteuropäisches Phänomen, sieht sich jedoch, anders als in den dreißiger Jahren, nicht als Alternative zur Demokratie und agiert im Rahmen der Europäischen Union. Die voreilige Krise der demokratischen Repräsentation in den neuen Mitgliedstaaten wird durch ihre Banalisierung und die Beschränkungen des europäischen Rahmenwerks entschärft. Der Populismus ist der eigentliche Test für die viel diskutierte „Aufnahmekapazität“ der EU.



Jacques Rupnik Der Politwissenschafter und Historiker ist Forschungsdirektor am Centre d’Etudes et de Recherches Internationales (CERI) in Paris und Gastprofessor am Europakolleg in Brügge. Zu seinen Publikationen zählen “Die Dilemmata der Europäischen Union. Anatomie einer Krise”, in: Transit – Europäische Revue (2006); International Perspectives on the Balkans (2003); The Road to the European Union: The Czech and the Slovak Republik (Hg., 2003); Kosovo Report: Conflict, International Response, Lessons Learned (2000).

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,März 2007
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