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Von Corinna Milborn.

Grenzfälle aus dem Osten

"Rein rechtlich gesehen kann ich mich nur in Luft auflösen.“- Der Großteil der illegalen EU-Einwanderer kommt über die Ostgrenze.

Kenternde Flüchtlingsboote und geschwächte Afrikaner, die aus Nussschalen an die Strände von Teneriffa oder Lampedusa klettern, sind in diesem Sommer zum medialen Alltag geworden. Dabei wird übersehen: Der Großteil der illegalen EU-Einwanderer kommt über die Ostgrenze. Ein Bericht über einen andauernden Ausnahmezustand.

Khushal, ein 21-jähriger Afghane, ist gerade wieder einmal aus der Schubhaft entlassen worden. Hinter ihm liegt eine elfjährige Flüchtlingsgeschichte, vor ihm eventuell die Abschiebung in ein Kriegsland oder das gesellschaftliche Nichts als Illegaler in Europa. Ich treffe ihn in einem Cafe. „Khushal bedeutet Glück“, stellt er sich vor und schiebt die Stirnkappe in den Nacken. Sein breites Lächeln lässt eine perfekte Reihe weißer Zähne zum Vorschein kommen. Khushal befindet sich schon mehr als die Hälfte seines Lebens auf der Flucht: Er musste mit seiner Familie aus Afghanistan fliehen, als er zehn Jahre alt war. Sein Vater war Offizier unter dem kommunistischen Präsidenten Njibullah. 1996 stürmten talibannahe Terroristen das Haus und brachten Khushals Großeltern, seinen Onkel und seinen ältesten Bruder um. Die Familie floh und ließ sich im Niemandsland zwischen Afghanistan und Pakistan nieder. 2002 versuchten der Vater und Khushals älterer Bruder, nach Afghanistan zurückzukehren. Sie verschwanden spurlos. Alle gehen davon aus, dass auch sie umgebracht wurden. Khushal war nun der älteste Sohn. „Ich muss für meine Mutter, drei Schwestern und vier Brüder sorgen“, erklärt er und man kann förmlich die Last auf seinen Schultern spüren. Die Mutter verkaufte das Familienhaus in Afghanistan über einen Mittelsmann. Als Khushal 18 war, gab er den gesamten Erlös einem Schlepper, der ihn nach England bringen sollte: „13.000 Dollar – für afghanische Verhältnisse ist das ein riesiges Vermögen. Damit hätte ich in Afghanistan ein Geschäft aufmachen können. Aber dorthin kann ich nicht gehen und in Pakistan ist es für uns sehr schwierig.“ Khushal nahm in Islamabad ein Flugzeug und landete in Moskau, der Schlepper ließ auf sich warten. Schließlich ging es mit dem Auto bis in die Ukraine weiter. Nach ein paar Tagen war bereits eine kleine Gruppe zusammengekommen. Bei Nacht wurden sie mit einem weiteren Auto in die Slowakei geführt. Dort war erst einmal Endstation – vom versprochenen Ziel England keine Spur. Khushal schaffte es zu Fuß, bei Regen, noch über die Grenze nach Österreich und machte sich dort auf die Suche nach einer Polizeistation.
Am 14. Januar 2004 stellte er einen Asylantrag. Khushals Geschichte ist in vielem typisch für Flüchtlinge, die über die Ost-Grenze in die EU kommen. Ein Blick in seine ehemalige Flüchtlingspension in Kirchberg am Wechsel genügt, um Menschen aus allen möglichen Kriegsgebieten im Osten Europas versammelt zu sehen: Da sind Tschetschenen, geflohen vor einem Krieg, der im Süden Russlands unvermindert – an den Augen der Weltöffentlichkeit vorbei – weitergeht und praktisch jeden Tschetschenen zu einem Verfolgten macht. Da ist eine junge Frau aus Uigurien, einer Region in China, von der bei uns noch kaum jemand gehört hat und in der die chinesische Zentralregierung mit drakonischer Härte Dissidenten verfolgt – wahrscheinlichste Strafen: Zwangsarbeit oder Hinrichtung. Auch Armenier, Bangladeshis, Pakistanis, Iraner: Menschen aus Gebieten, die wir aus den Nachrichten kennen – dann, wenn von Bomben, Krieg, Menschenrechtsverletzungen oder Hungersnöten die Rede ist.
Ohne Schlepper geht nichts Für sie führt nur ein einziger Weg zum politischen Asyl in der EU: der illegale Grenzübertritt. Asyl kann man nicht in einer Botschaft oder an der Grenze beantragen – man muss dazu mit beiden Beinen auf europäischem Boden stehen. Und legale Möglichkeiten, in die EU dauerhaft einzureisen, gibt es derzeit nicht. Selbst Touristenvisa sind schwer zu bekommen. Das Schließen der Grenzen bringt damit automatisch einen ungeliebten Berufszweig zum Blühen: Ohne Schlepper kommt man nicht in die EU, jeder Flüchtling ist gezwungen, sich einer Mafia anzuvertrauen. Besonders um über Ungarn oder die Slowakei hinaus zu kommen, müssen die Schlepper gut sein – und fallen dementsprechend teuer aus. Und Ungarn und die Slowakei zu überwinden, kann lebensrettend sein: Mangels eines einheitlichen Asylverfahrens in der EU kann ein Flüchtling nicht davon ausgehen, dass er sich nach dem EU-Grenzübertritt in Sicherheit befindet: Tschetschenen etwa bekommen in der Slowakei grundsätzlich kein Asyl. In Österreich hingegen werden über 99 Prozent als Flüchtlinge anerkannt. Viele Schlepper arbeiten mit korrupten Grenzbeamten zusammen, andere kennen Wege über die grüne Grenze. Alle aber müssen ihre Kunden verstecken, um sie nach Europa zu bringen, und das kann lebensgefährlich sein. Die Zahl jener, die an der EU-Außengrenze im Osten sterben, ist unbekannt, dürfte aber sehr hoch sein. In die Nachrichten kommen nur die „kleinen“ täglichen Tragödien: So wurden beispielsweise vor einiger Zeit Chinesen gefunden, die in Lautsprecherboxen normaler Größe versteckt waren, als menschliche Pakete verschickt und fast erstickt, als sie die Polizei fand. Erst vor Kurzem wurde – schon fast Alltag an der Grenze – ein Wohnmobil gestoppt, in dem 16 Moldawier unter einem doppelten Boden um Luft rangen. Die Todesopfer, die das Grenzregime fordert, erregen im Mittelmeer, wenn Leichen an Badestränden angeschwemmt werden, mehr Aufsehen, doch im Osten sind die Fluchtrouten lang und die Gefahren ebenfalls groß. Jene, die über Land aus Afghanistan, Indien, Bangladesh, Pakistan kommen, schlagen sich oft durch das Grenzgebiet zwischen dem Iran, dem Irak und der Türkei, wo seit Jahrzehnten professionelle Schlepper Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten über die Berge bringen – eine beschwerliche und gefährliche Route, zu Fuß durch vermintes Gebiet, an den Stellungen der kurdischen PKK-Guerilla vorbei, die von den Flüchtlingen „Maut“ verlangt. Von dort aus geht es weiter durch die Türkei ans Mittelmeer, wo die Geflohenen in kleinen Booten nach Zypern oder auf griechische Inseln übersetzen oder nach Norden weiterfahren, um über die Ukraine in die EU zu kommen. Viele fliegen auch bis Moskau und versuchen von dort, über die grüne Grenze nach Europa zu kommen.
Endstation Ukraine Die Ukraine hat sich so zum Tor Europas im Osten entwickelt. Früher nur Durchzugsland, bleiben nun, da die EU die Grenze immer dichter schließt, mehr und mehr Flüchtlinge hier vor der EU-Grenze hängen. „Heuer ist die Zahl der Flüchtlinge hier um etwa 20 Prozent gestiegen“, erzählt Eduard Trampusch, der für die Caritas …sterreich in ukrainischen Flüchtlingslagern arbeitet. Die meisten davon kommen aus ehemaligen Sowjetrepubliken: Tschetschenen, Georgier, Moldawier, Transnistrier. Diese werden nach zehn Tagen in einem Auffanglager sofort abgeschoben, da die Ukraine sie als Bürger Russlands oder Moldawiens ansieht – und mit diesen Ländern bestehen Rücknahmeabkommen. Bei anderen ist das nicht so einfach: Flüchtlinge aus China, dem Vietnam, Iran, Irak, den zentralasiatischen Krisenherden mit dem „-stan“ im Namen und auch erstaunlich viele Palästinenser, die auf ihrer Route in die EU hier aufgegriffen werden, kommen in eines von zwei Auffanglagern, wo sie bis zu sechs Monate lang festgehalten werden können. Ebenso landen dort alle, die in der Slowakei und in Ungarn aufgegriffen werden: Diese beiden Staaten haben mit der Ukraine ein Rücknahmeabkommen über jene Menschen abgeschlossen, die über die Ukraine eingereist sind – also alle. Die Ukraine muss sie zurücknehmen und verwahrt sie ebenfalls in Lagern. Das erste davon liegt direkt an der Grenze zur Slowakei und Ungarn und heißt Chop. Die Caritas Österreich hat dort den Frauen- und Kindertrakt erneuert, sorgt für Rechtsberatung und soziale Betreuung und versucht, das Leben im Lager erträglicher zu machen. Eine schwierige Aufgabe: „ Im heurigen Sommer sind dort in Chop im Schnitt um die 200 Personen untergebracht gewesen. Ausgestattet ist das Lager aber für maximal 70 Personen“, erzählt Projektleiter Eduard Trampusch. Nicht besser sieht es im zweiten Lager aus, das in Pavshino isoliert in einem kleinen Waldstück liegt: Dort sind derzeit 400 Männer interniert, die maximale Kapazität des Lagers umfasst jedoch nur 200 Plätze. „Die Lager sind hoffnungslos überbelegt“, sagt Trampusch. Kommen genug Flüchtlinge aus einem Land zusammen, werden sie nach Kiew gebracht und von dort mit Charterfliegern in ihr Heimatland gebracht. Ist dies innerhalb von sechs Monaten nicht möglich, müssen sie nach ukrainischer Rechtslage freigelassen werden – und sie probieren von Neuem, in die EU einzureisen.
Ausgelagert Nur unter zehn Prozent der Durchreisenden, schätzen Experten, werden in der Ukraine aufgegriffen. Etwa 2.000 Personen sind das im Jahr. An die 20.000 schaffen diesen Schätzungen zufolge also jährlich allein in der Ukraine den Grenzübertritt und suchen in Westeuropa um Asyl an oder tauchen auf dem illegalen Arbeitsmarkt unter – als Kindermädchen, Pflegekräfte, Bau- und Erntearbeiter. Obwohl diese Leute offenkundig gebraucht werden, will die EU die Grenzen weiter schließen: 2005 nahm die Grenzschutzagentur „Frontex“ mit Sitz in Warschau ihre Arbeit auf. Das EU-Programm ARGO finanziert Grenzschutzmaßnahmen an den Außengrenzen; 60 bis 80 Prozent des Geldes kommen aus Brüssel. Das Schengen-Informationssystem SIS sammelt alle Daten über illegale Grenzübertritte und aufgegriffene Personen, die europaweit vernetzt werden. Für jene, die es durch das enger werdende Netz nicht nach Europa schaffen, haben sich die Mitgliedstaaten während der EU-Präsidentschaft Österreichs Gedanken gemacht: In zwei Innenministerkonferenzen im Jänner und im Mai 2006 wurde ein Programm ausgearbeitet, das die Verantwortung für die Flüchtlinge, die an der Grenze scheitern, außerhalb von Europa ansiedelt. Im Falle der Ostgrenze ist hier wieder die Ukraine das Schlüsselland. Dort soll, geht es nach EU-Willen, die erste „regionale Schutzzone“ entstehen: Menschen, die weder vor- noch zurückkönnen, sollen hier in extraterritorialen Lagern, gezahlt aus EU-Budget, untergebracht werden. Damit haben die Österreicher eine Idee aufgewärmt, für die schon Tony Blair und Otto Schily – damals deutscher Innenminister – vor einigen Jahren hart kritisiert wurden. Nun scheint die Zeit reif: Ähnliche Lager sind in Nordafrika geplant. In Libyen sind schon seit 2003 drei Lager in Betrieb, die von der italienischen Regierung finanziert werden, in Mauretanien zahlt die EU bei Auffanglagern für Flüchtlinge mit, die auf die Kanaren wollten und auf der Reise aufgegriffen wurden, ebenso sollen in Marokko, Tunesien und Algerien Lager entstehen. Das Pilotprojekt jedoch soll an der Ostgrenze angesiedelt sein. Die Grundidee: Menschen, die nach Europa wollen, sollen auf jeden Fall draußen bleiben. Und da die Staaten wenig Interesse daran haben, sich mit dem EU-Flüchtlingsproblem zu belasten, soll das Geld aus der EU kommen. Die Abwicklung bliebe allerdings natürlich bei der Ukraine – und hier haben Menschenrechtsbeobachter schwere Bedenken: Das Land ist laut Transparency International das korrupteste in ganz Europa und von einem voll entwickelten Rechtsstaat noch weit entfernt. Es entspreche daher nicht dem Grundgedanken der Flüchtlingskonvention, Verfolgten Schutz zu bieten, wenn man diese Verantwortung einfach an ein Land auslagert, das schlicht nicht in der Lage ist, Flüchtlinge adäquat aufzunehmen. Beweise für diese These gibt es genug: Denn nicht wenige der Gestrandeten suchen in der Ukraine um Asyl an. Allein: Im vergangenen Jahr hat das Land keinen einzigen Flüchtling anerkannt. Doch auch nicht alle, die über die Grenze kommen, haben es geschafft: Khushal zum Beispiel, der junge Afghane, von dem am Anfang dieses Artikels die Rede war. Sein Asylantrag in Österreich wurde abgewiesen, ebenso wie die Berufung. Khushal versuchte noch einmal, nach England zu kommen, ein anderes Mal nach Belgien, aber seine Fingerabdrücke sagen: Österreich ist zuständig. Zweimal wurde er wieder zurückgeschoben und landete erneut in Traiskirchen. Im Oktober 2005 wurde er wegen illegalen Aufenthalts verhaftet und kam für vier Wochen in Schubhaft – doch nach Afghanistan kann er nicht abgeschoben werden, das Land gilt als zu unsicher. Also kam er wieder frei, doch in die Grundversorgung für Asylwerber wurde er nicht mehr aufgenommen. Nun lebt er als erzwungener Illegaler bei seiner ehemaligen Deutschlehrerin in Kirchberg am Wechsel in einem rechtlichen Vakuum. „Ich darf hier nicht bleiben, ich darf hier nicht arbeiten. Wenn ich woanders hinfahre, schieben sie mich wieder hierher zurück, und nach Afghanistan kann ich erst recht nicht. Rein rechtlich gesehen kann ich mich nur in Luft auflösen.“



<Spenden: Caritas 7 700 004, PSK, BLZ 60.000, Kennwort: Flüchtlingslager Ukraine

Corinna Milborn, geboren 1972, ist Politikwissenschafterin und Journalistin in Wien. Als Chefredakteurin der Menschenrechtszeitschrift „liga“ und als Politik-Redakteurin beim Nachrichtenmagazin „Format“ setzt sie sich seit Jahren mit den Themen Migration, Integration, Globalisierung und Menschenrechte auseinander.

Corinna Milborn „Gestürmte Festung Europa – Einwanderung zwischen Stacheldraht und Ghetto. Das Schwarz-buch“, Styria Verlag, Wien 2006
www.festungeuropa.com


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Oktober 2006
> Link: festungeuropa.com > Link:REPORT online-