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Irina Denesžkina wurde 1981 in Jekaterinenburg geboren. Sie studiert an der dortigen Universität Journalismus und schreibt für die Studentenzeitung »Studio«. Ihr Erzählband »Komm« wurde 2002 für den russischen »Bestseller Preis« nominiert.
Von Lisa Mayer.

Buchpräsentation 3/ >Komm< v. Irina Denezkina

Inhalt

"Komm", das sind zehn schnelle Geschichten mit langem Nachhall. Ungeschminkt erzählt Irina Denesžkina von der Jugend: Erotischer Tatendrang treibt die Freude von Prty zu Party, von Mund zu Mund. Erste sexuelle Erfahrungen, Konzerte, Musik überhaupt, Alkohol, schnell wechselnde oder paralelle Liebesbeziehungen - man weiß nie genau, wer mit wem und warum. Nur eins zählt: Alles oder Nichts...

Leseprobe

MEINE WUNDERBARE ANN
Über Petersburg hingen gewaltige Regenwolken. Dicke Engel sahen stirnrunzelnd in den Himmel. Trostlos fiel der Regen vom Himmel, die wievielte Woche schon. In der Luft hing ein trüber Schleier. Hase saß in einen Regenmantel gehüllt auf einer Bank. Er war betrunken. Er war noch nie betrunken gewesen. Seine Haare klebten in einem Zöpfchen am Hinterkopf, und Tropfen sickerten in den Kragen. Hase weinte. Er war von seinem Mädchen verlassen worden. Sie hatte zu ihm gesagt: »Hase, ich kann dich nicht gebrauchen.« Als wäre ihm eine Tür vor der Nase zugeschlagen worden. Sie waren auf einer Feier, und es hatte genauso monoton geregnet wie jetzt. Nur war es da noch lustig gewesen und jetzt nicht. Es war gestern, Genka Titow hatte Geburtstag und tanzte mit Hases Mädchen. Dann küssten sie sich in der Küche. Hase sah fern und trank Beerensaft. Alle lachten ihn aus, dass er keinen Wodka trank. Dann ging er in die Küche und sah alles. Und ließ sich voll laufen. Das erste Mal in seinem Leben. Dummkopf. Das Mädchen kam aus der Küche und sagte, dass Hase keinen Spaß verstehe. Hase fragte, wenn das ein Spaß sei, was denn dann echt ist. Das Mädchen antwortete, dass er nicht so verklemmt sein soll. Und machte Schluss mit Hase. Hase verließ den Geburtstag um ein Uhr nachts und ging zu Fuß Richtung Zentrum. Er stolperte über irgendeine Metallstange, fiel in eine Pfütze und schlief ein. Um fünf Uhr morgens wachte er auf und machte sich auf den Rückweg. Und jetzt saß er auf der Bank vor dem Hauseingang des Mädchens. Er dachte, dass er vielleicht nur geträumt hatte, dass sie mit ihm Schluss gemacht hat. Er hoffte es und weinte. Sie hatten sich kennen gelernt, als sie zusammen in einer Gruppe nach Ungarn fuhren. Dann hatte sich herausgestellt, dass sie in dieselbe Schule gingen. Hase war verliebt. Das erste Mal in seinem Leben. Sie gingen in der Stadt spazieren, Hase lud sie ins Mc Donald's ein und führte sie in die Eremitage. Unbegreiflich warum. Doch er wusste nicht, wie man den Mädchen den Hof macht. Dieses Mädchen brachte es ihm bei. Sie sagte: »Hase, ich mache einen tollen Jungen aus dir.« Hase wusste nicht, was das heißt und lächelte verlegen. Er hatte abstehende, durchscheinende Ohren und lange Vorderzähne. Wenn er lächelte, schoben sich seine Ohren auseinander, zwei Grübchen bildeten sich auf seinen Wangen und seine Zähne sprangen hervor. Wie bei einem Kaninchen. Doch das gefiel dem Mädchen. Hases Charakter gefiel ihm nicht. Hase war zu zaghaft, zu naiv und zu ehrlich. Zu sich und anderen. Das Mädchen wollte ihn verändern, doch Hase wollte nur eins: dass sie nirgendwohin verschwand und immer bei ihm war. Er dachte ständig an sie und sagte nichts mehr. Doch er wurde auch nicht sonderlich gefragt. Hase war eben Hase. Jeden Tag kaufte er Eis und wartete vor dem Haus des Mädchens. Wenn sie herauskam, streckte er ihr das Eis entgegen. Doch sie wurde böse. »Warum bist du nur so ein verklemmter Romantiker?«, fragte sie ihn und aß das Eis. Hase zuckte mit den Schultern. Das Mädchen ärgerte sich darüber. Sie ärgerte, wie sich Hase anzog, wie er lachte, dass er manchmal so laut sprach, dass die ganze Straße es hören konnte. Sie ärgerte, dass Hase sie beim Ellbogen fasste, wenn sie aus dem Bus stiegen - das war peinlich. Dass er mager, uninteressant und immer ernst war und keinen Spaß verstand. Sie predigte Hase, dass es so nicht geht, doch er lächelte, und seine durchscheinenden Ohren erröteten. Dafür war Hase treu. Ein wahrer Freund. Sie fragte ihn manchmal: »Und wenn ich dich betrüge?« Hase antwortete: »Dann verlasse ich dich.« Und er meinte es auch so. Genka Titow hingegen war ein Spaßvogel und zwei Jahre älter als Hase. Er war fünfzehn. Hase wickelte sich fester in seinen Regenmantel und sah nach oben. Er wusste, dass er dem Mädchen nie verzeihen wird. Und deswegen weinte er. Er konnte nichts dagegen machen. Er war ein verklemmter Romantiker und ein Mensch mit Prinzipien. Er konnte seine Prinzipien nicht verraten. Das wäre für ihn dasselbe, als würde er freiwillig in einen Misthaufen springen und lächeln. Mit seinen Grübchen. Die Haustür klappte, und Hase erblickte sein Mädchen. Sie kam auf ihn zu, und Hase begann zu lächeln. »Und wo ist das Eis?«, fragte sie. »Gleich«, antwortete Hase und sprang hastig auf. »Warte!« Er rannte zum Laden und verhedderte sich dabei in seinem Regenmantel. Und Genka Titow saß zu Hause auf seinem Bett und sang zur Gitarre: »Und ich dachte, was macht es schon, wo ich war letzte Nacht und mit wem, meine wunderbare Ann . . .« Auf dem Fußboden schliefen seine Freunde.



erschienen im S. Fischer Verlag, ISBN: 3-10-043100-6, 17,90.- Euro
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