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Von Jan Tabor.

Der Sieg über die Gravitation

Architektur: Lautner und Kirisits

Er baute für seine Gemahlin den so genannten Hängenden Garten Eden, denn sie geriet in diese flache Landschaft aus Medie und sehnte sich sehr nach den Bergen.
(Josephus Flavius, 1. Jahrhundert n. Chr.)

Semiramis hieß die schöne Bergsüchtige aus Medie. Neuerdings gibt es in Wien mindestens drei neue Wohnhausanlagen, denen die viel versprechende Produktbenennung zu den höheren Ehren der iranischen Prinzessin Semiramis umgehängt wurde: die Hängenden Gärten in der Wiedner Hauptstraße, errichtet 2003 von Rüdiger Lainer, die Hängenden Gärten von Wien von Günter Lautner und Nicolaj Kirisits, errichtet 2004 auf dem Wienerberg, und die Hängenden Gärten von Favoriten, Alxingergasse, von Kenyaeh und Markus Geiswinkler (Fertigstellung 2005). Wenn man noch die 2004 von Michael Schluder errichtete Wohnanlage in Wien-Simmering mit den echten Schrebergärten am Dach dazunimmt, sind es sogar vier. Auch Schluder hätte wohl den schönen Namen angehängt, wäre der nicht bereits mehrmals besetzt gewesen. Der verwandte Begriff „Schwebende Schrebergärten“ stünde noch zur Verfügung.

„Hängende Gärten“ dienen nicht zu höheren Ehren der Semiramis allein, sondern auch zu jenen des Wiener Wohnbauerneuerers Harry Glück und des österreichischen Eiferers gegen die Gottlosigkeit des rechten Winkels und der geraden Linie Friedensreich Hundertwasser. Die Verbindung von Wohnung und Grün ist ohne Frage ein Werbegag, aber sie ist auch Programm, spätestens seit der Gartenstadtbewegung sozial-ästhetische Maxime vieler Architekten und Urbanisten.

Entfernt erinnert die blumige Etikette an den Wohnpark Alterlaa des Architekten Glück. Der „Wohnpark“ ist eine Gruppe von Terrassenhochhäusern, die, so sein Erfinder Harry Glück, aus „gestapelten Einfamilienhäusern“ bestehen. In einigen Büchern, in denen Glück sein Konzept der durchgegrünten Stapelung erläutert und verteidigt hat, verwendet er Bilder aus der Geschichte der Terrassenhäuser, darunter das Bild einer der zahlreichen zeichnerischen Rekonstruktionen der Hängenden Gärten der Semiramis, den berühmten Stich von Pater Athanasius Kircher aus dem 17. Jahrhundert. Von Kircher zu Le Corbusier und Harry Glück: das flache Dach als Wohn- und Lebensraum, so alt ist die klassische Moderne. Auf einem der vier Terrassendächer der Hängenden Gärten der Semiramis zeichnete der geniale Jesuit ein riesiges Wasserbecken.

Schwimmen auf dem Dach. Wohnen im Park. Wohnen in Gärten, die noch dazu hängen. Wundervoll. Pure Fantasie. Pure Poesie. Der Duft der Jugend. Jules Verne. Der Sieg über die Gravitation. Schwimmende Insel. Fliegende Häuser. Schwebende Städte. Das sind jene geglückten Wortpaarungen, welche die Einbildungskraft der jungen Männer meiner Generation im Übergangsalter zwischen Kindheit und Adoleszenz uferlos zu beflügeln vermochten. Die Hängenden Gärten habe ich mir damals als wirklich hängend vorgestellt – an dicken, aus Kokospalmenfäden geflochtenen Tauen. Auf Haken? Im Himmel? Wo sonst! Wie enttäuscht war ich, als ich in einem populärwissenschaftlichen Buch über die sieben Weltwunder auf ein Bild stieß, das eine der zahlreichen Rekonstruktionen darstellte. Vielleicht war es der Stich von Kircher. Demnach hingen die Hängenden Gärten der Semiramis nicht, sie standen. Es sind Terrassen. Möglicherweise handelt es sich ohnehin um einen Übersetzungsfehler.


Anti-urbane Ideale des Wohnens

Die neuen „Hängenden Gärten“ in Wien, der Wohnpark Alterlaa inbegriffen, stellen verschiedene Versuche dar, das Wohnen mit der Natur zu verknüpfen. Es handelt sich um alte und unverwüstliche, im Prinzip anti-urbane Ideale des Wohnens und des Bodenbesitzes und um die ur-urbane Sehnsucht nach dem Sieg über die Natur: die Gartenstadt, das Haus im Grünen, die Dachwohnung mit Dachterrasse, das Penthouse, das Haus mit Wintergarten, die Sommerhütte auf Stelzen usw., sozusagen den Ausblick zum Kurfürstendamm auf der einen, auf die Alpen auf der anderen Seite der Wohnung, wie es in einem Gedicht von Kurt Tucholsky heißt.

Auf eine wunderbare Weise ist es Hundertwasser gelungen, die Essenz vieler derartiger Vorstellungen in einem einzigen kommunalen Wohnhaus zu verwirklichen – und die Menschen von nah und fern können sich daran nicht sattwundern. Der Erfolg dieses bewohnten Großblumentopfes in der Löwengasse im dritten Wiener Bezirk veranschaulicht, wie exorbitant die Sehnsucht der Menschen nach begrünten Hügeln ist.

Diese Sehnsucht kann die von Lautner und Kirisits errichtete Wohnanlage ihren meisten Bewohnern bereits allein durch die Lage erfüllen. Die Architekten haben das Glück gehabt, in der 1999 geplanten Mustersiedlung auf dem Wienerberg eine Bauparzelle am Rand des Geländes und der topografischen Kante zu bekommen. Angeblich wurden die Baugründe an verschiedene gemeinnützige Gesellschaften verlost, die dann mit den von ihnen gewählten Architekten an einem Wettbewerb teilnahmen. Lauter namhafte Architekten: Coop Himmelb(l)au, Delugan-Meissl, Albert Wimmer usw.

Die neue Siedlung an den einstigen Betriebsgründen des Ziegelkonzerns Wienerberger ist meiner Meinung nach eines der fragwürdigsten urbanistischen Großvorhaben, die in Wien je verwirklicht wurden. Ein Musterbeispiel für einen miserablen Masterplan. Verwirklicht mit Wohnanlagen, die zum Teil hohe architektonische Qualität haben. Der wohl größte von den zahlreichen städtebaulichen Fehlern ist die unbegründbare Situierung der einzelnen Wohnhausanlagen, die dazu führt, dass der hier vorhandene einzigartige Ausblick auf die Berge des Wienerwaldes und die Weiten des Wiener Beckens für einen wesentlichen Teil der Wohnungen versperrt wurde. Die an den Rand der Geländekante und damit der parkartigen Hanglandschaft gestellten Häuser bilden eine Art Chinesische Mauer. Die einmalige Gunst des Standortes wurde fahrlässig vergeudet. Dass dies von den teilnehmenden Architekten nicht erkannt oder nicht beanstandet wurde, stellt eine ernste berufliche Verfehlung dar.

Den Vorwurf der urbanistischen Fahrlässigkeit muss man auch dem Architekten Günter Lautner machen – das wäre aber der einzige. Sonst hat er die ihm zugewiesene außerordentliche landschaftliche Gunst der Lage perfekt genutzt. Das gilt auch für das nicht optimal zugeschnittene Baugrundstück. Nur die schmale Seite des Vierecks ist direkt zur freien Landschaft hin orientiert.

Mehr als optimal, also bereits innovativ, ist das Konzept der von ihm entworfenen Wohnanlage mit 101 Wohnungen und der schönen Bezeichnung „Hängende Gärten von Wien“. Es ist kein Terrassenhaus. Bis auf einige Teile stellt es einen gewöhnlichen Block dar, viereckig, an allen vier Seiten geschlossen, mit einem Innenhof, der geräumig und mit Arkaden versehen ist. Bei den Gärten, die also nicht hängen, sondern liegen, handelt es sich um einen Park, einen Flachdachpark, um eine 2.600 Quadratmeter große, allen Bewohnern des Hauses zugängliche, begrünte, mit Sitzbänken, Springbrunnen, Kinderspielplatz und Kunst im öffentlichen Raum (von dem amerikanischen Künstler Matt Mullican) ausgestattete Terrasse.

Die glücklichen Bewohner der Lautner’schen Hängenden Gärten können kommen, ihre Sehnsüchte nach Im-Grünen-Sitzen oder nach den Bergen – bis zu den Alpen sieht man hier auf der einen und fast bis zum Stephansdom auf der anderen Seite – stillen, in der Sonne oder im Schatten sitzen oder dies und das tun, auch wenn es regnet. Denn über den Dachpark hat Lautner auf hohen, schlanken Stelzen sechs zweigeschossige Pent-Reihenhäuser aufgetürmt, ohne die vermutlich der Dachgarten nicht funktionieren würde, weil es hier sonst zu windig, auf jeden Fall zu heiß wäre. Die aufgestelzten Häuser bilden eine Art Super-Dachpergola, einen riesigen Altan, wie die hölzernen Tribünen auf den Hausdächern von Venedig heißen.

Die eine Seite des Wohnblocks, die östliche, die teilweise noch in die weite Landschaft orientiert ist, ist mit aquariumartigen Glaskasten- Loggien ausgestattet, die als kleine Wintergärten verwendet werden können. Sie ermöglichen einen noch immer passablen freien Ausblick in die Landschaft und damit das Gefühl, im Grünen zu wohnen.

Falls jemandem auffallen sollte, dass ich mit dem Begriff „Hängende Gärten“ allzu redundant umgegangen bin, betone ich, dass dies eine architekturkritische Absicht ist. Durch die penetrante Wiederholung des Begriffes hoffe ich zu erreichen, dass es bei den drei Nennungen in Wien vorerst bleibt.



Jan Tabor (geb. 1944 in Podebrady/CZ) studierte an der TU Wien und ist heute als Architekturtheoretiker, Kulturpublizist (Kurier, Falter) und Ausstellungsmacher tätig. Er lehrt an verschiedenen Hochschulen (Universität für angewandte Kunst, Institut für Entwerfen, Zaha M. Hadid, Akademie der bildenden und angewandten Künste, Bratislava, und Architektur Fakultät, Brünn) und war Kurator bei diversen Ausstellungen wie Den Fuß in der Tür: Manifeste des Wohnens (2000) und mega: manifeste der anmaßung (2002), beide im Künstlerhaus, Wien. 1994 gab er den Katalog zur Ausstellung "Kunst und Diktatur / Architektur, Bildhauerei, Malerei in Österreich, Deutschland, Italien und Sowjetunion 1922–1956" heraus. Weitere Publikationen: "Otto Wagner. Die Österreichische Postsparkasse" / The Austrian Postal Savings Bank, Falter Verlag; "Architektur und Industrie. Betriebs- und Bürobauten in Österreich 1950–1991", Brandstätter Verlag.

Text erschienen in:
Einfach! Architektur aus Österreich. Just! Architecture from Austria

ISBN 3-901174-61-3
978-3-901174-61-2
Verlag Haus der Architektur Graz
2006/148 Seiten/pages
Verkaufspreis/price: € 28,9

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