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Von Jan Tabor.

Über den Megastau der kritikwürdigen Architektur oder Die Wahrhaftigkeit und Barmherzigkeit der österreichischen Architekturkritik

Architekturkritiker Jan Tabor kritisiert gute Architekten und sich als kritisch guten Kritiker.

Was kann ich dafür, dass meine Freunde gute Architekten sind?
(Friedrich Achleitner, Ende der 1970er Jahre)

Über die Freundschaft in der Architekturkritik. Axiom 1: Architekturkritik ist keine Wissenschaft, sondern schöne Literatur. Axiom 2: Über Architektur und Kunst schreibt es sich am leichtesten, wenn man nicht kennt, worüber man schreiben will. Axiom 3: Die bestgeeignete Architektur für Architekturkritiker ist die Architektur ohne Architekten.

„Was kann ich dafür, dass meine alten Freunde gute Architekten geworden sind?“ So ähnlich soll, erzählte man sich in den 1980er Jahren unter den österreichischen Architekturkritikern, der einflussreichste unter uns, Friedrich Achleitner, dem Architekten Harry Glück geantwortet haben. Der warf Achleitner vor, nur über seine Freunde gut zu schreiben, über Holzbauer, Kurrent, Hollein, Spalt, Gsteu oder Peichl. Seine Antwort hat mir zu dieser Zeit überhaupt nicht gefallen. Damals war ich ein junger Kritiker und als solcher ein rigoroser Berufsethiker. Als Kritiker hatte man keine Freunde unter den Kritisierten zu haben. Gegebenenfalls nur Feinde.

Der Ausspruch von Friedrich Achleitner gefällt mir von Jahr zu Jahr besser. Denn auch ich wurde mittlerweile in die glückliche Lage versetzt, viele Freunde zu haben, die gute Architekten (geworden) sind, beziehungsweise viele gute Architekten sind meine Freunde (geworden).

Natürlich muss auch die Eventualität durchgedacht werden, ob sie deshalb gute Architekten geworden seien, weil sie meine Freunde sind. Oder: Sie gelten als gut, weil sie mit einem guten Architekturkritiker befreundet sind. Oder – apodiktisch: Nur jene Architekten sind gut, die mit einem guten Architekturkritiker befreundet sind (einer reicht, gute Kritiker sind rar). Oder umgekehrt: Gute Architekturkritiker sind deshalb gut geworden, weil sie mit guten Architekten befreundet sind. Oder mit guten Architekturkritikern.

Nun könnte man glauben, dies sei ironisch gemeint. Dem ist nicht so. Das Thema ist ernst, die Beziehungen kompliziert. Das kritische Befinden über die Qualität der Werke von Freunden ist nämlich dann besonders qualvoll, wenn die Werke nicht besonders gelungen sind. Man kann dem Dilemma als Architekturkritiker ausweichen, indem man nichts schreibt. Auf diese Weise könnte aber der Freund des Kritikers herausfinden, dass jener dessen Werk für nicht würdig genug halte, um über es zu berichten. Der Kritiker wird dann gewöhnlich direkt gefragt, was er von dem Werk eigentlich halte. Wenn er den Freund nun belügt, könnte der Kritiker aufgefordert werden, über das gute Werk doch zu berichten. Wenn er den Freund nicht belügt, … aber darüber will ich gar nicht nachdenken. Ich habe es einmal gewagt – und seitdem nie mehr.

Außerdem stecke ich in einer Argumentationsklemme: Kann ein Architekt, der mit einem guten Architekturkritiker befreundet ist, überhaupt ein schlechter sein? Falls dem so ist, dann gilt: Lieber nichts schreiben. Ausreden gibt es genug. Zum Beispiel, dass man als Kritiker keinen Platz in der Zeitung, für die man schreibt, bekommt.

Das hat den Nachteil, dass der Kritiker in den Augen seines Freundes offensichtlich wenig Gewicht hat, wenn er sich in seiner Zeitung nicht durchsetzen kann. Darauf kann nichts Gravitätisches erwidert werden, weil es stimmt.

Von einer anderen Art ist das Dilemma des Kritikers, wenn es sich um das Werk eines Freundes handelt, das gut ist, sehr gut sogar. Dann kann der Eindruck entstehen, der Kritiker bewertet das Werk nur deshalb so gut, weil dieses von einem Freund ist. Das kann sogar von dem Freund selbst so ausgelegt werden.

Dem kann man ausweichen, indem man noch viel lobender schreibt, als beabsichtigt oder gerecht wäre. Dann denkt sich der Freund-Architekt: Wenn mein Freund-Kritiker so begeistert ist, dann muss das, was ich gemacht habe, tatsächlich sehr gut sein. Und auch ich muss gut sein, weil mein Freund ein hervorragender Kritiker ist. Da fällt mir ein, was ein berühmter Schauspieler einmal über seine Kritiker gesagt hat: „Ich liebe die Kritiker, die mich lieben.“



Jan Tabor (geb. 1944 in Podebrady/CZ) studierte an der TU Wien und ist heute als Architekturtheoretiker, Kulturpublizist (Kurier, Falter) und Ausstellungsmacher tätig. Er lehrt an verschiedenen Hochschulen (Universität für angewandte Kunst, Institut für Entwerfen, Zaha M. Hadid, Akademie der bildenden und angewandten Künste, Bratislava, und Architektur Fakultät, Brünn) und war Kurator bei diversen Ausstellungen wie Den Fuß in der Tür: Manifeste des Wohnens (2000) und mega: manifeste der anmaßung (2002), beide im Künstlerhaus, Wien. 1994 gab er den Katalog zur Ausstellung "Kunst und Diktatur / Architektur, Bildhauerei, Malerei in Österreich, Deutschland, Italien und Sowjetunion 1922–1956" heraus. Weitere Publikationen: "Otto Wagner. Die Österreichische Postsparkasse" / The Austrian Postal Savings Bank, Falter Verlag; "Architektur und Industrie. Betriebs- und Bürobauten in Österreich 1950–1991", Brandstätter Verlag.

Text erschienen in:

Einfach! Architektur aus Österreich. Just! Architecture from Austria

ISBN 3-901174-61-3
978-3-901174-61-2
Verlag Haus der Architektur Graz
2006/148 Seiten/pages
Verkaufspreis/price: € 28,9
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