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Von Bart Lootsma.

Intelligente Regionen

Stadt und Raumplanung im future composé

Über neue Stadt- und Regionalplanung: Die Stadt heute, in ihrer neuen Konstellation als urbane Region in einer globalisierten Welt, stellt eine enorme Herausforderung für alle Akteure dar, besonders für Architekten.


Seit ein paar Jahrzehnten besteht ein neues Interesse an Regionen und Regionalplanung. Dieses Interesse wird von unterschiedlichen Seiten bekundet: von Lokal- und EU-Politikern, Planern, der Wirtschaft, ja selbst von Architekten und Kultureinrichtungen. Die Gründe liegen auf der Hand: Viele Städte haben ihre Grenzen erreicht, sprengen das Format der Metropole und werden zur Megacity. In zahlreichen Gegenden der Welt sind Städte zu neuen, multizentrischen Konstellationen zusammengewachsen. Einige davon gelten mittlerweile als die neuen Zentren des Wohlstands und der wirtschaftlichen Entwicklung, etwa in Asien, besonders in China; andere wieder schrumpfen in ihrer Gesamtheit, beispielsweise in der ehemaligen DDR. Etwas jedoch ist ihnen allen gemein: Sie sind oder waren höchst urbane Metropolregionen.

In Europa hat sich diese Verschiebung von der Stadt hin zur Region aufgrund neuer politischer Linien der Europäischen Union verstärkt. Auf der offiziellen Website der Europäischen Kommission steht unter „Regionalpolitik“ zu lesen: „Bei den heutigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ist die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Regionen und Gebiete ein wesentliches Ziel, damit die Europäische Union folgenden Herausforderungen begegnen kann: wachsende sozioökonomische Disparitäten nach der Erweiterung, Umstrukturierungen im Zuge der Globalisierung, technologische Revolution, Entwicklung der wissensbasierten Wirtschaft und Gesellschaft, Alterung der europäischen Bevölkerung und steigende Zuwanderung.“
In diesem Zusammenhang nehmen Metropolregionen eine Sonderstellung ein. Laut METREX, dem Netzwerk der europäischen Ballungs- und Großräume, sind darunter größere Stadtregionen mit mindestens 500.000 Einwohnern zu verstehen; davon gibt es in Europa um die 120, in denen über 60 Prozent der europäischen Bevölkerung leben und die eine entscheidende Rolle für die Wettbewerbsfähigkeit Europas insgesamt spielen. Die Europäische Union konzentriert sich daher, wenn es um Regionales geht, nicht nur auf die ärmsten Gebiete, sondern auch auf wohlhabendere. Viele der Kernthemen, die auf europäischer Ebene von Belang sind, haben mit wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit zu tun, aber auch Inhalte wie soziale Kohäsion, Identität und nachhaltige Entwicklung sind von maßgeblicher Bedeutung. Eines der Instrumente, die zur Steuerung all dessen dienen können, ist die Raumplanung.

Die Wandlungsprozesse, die unsere Städte erfahren, sind schwer zu erfassen und noch schwieriger zu planen. Einige Veränderungen sind das Ergebnis unaufhaltsamer Individualisierungsprozesse unter Einflüssen von außen (Immigration) und von innen (Lebensstil). Viele Veränderungen sind das Ergebnis der Globalisierung. Städte sind längst nicht mehr geschlossene Gebilde, die man als Experiment in der Petrischale verstehen könnte. Wir leben in einer ‚„Zweiten Moderne“, die durch globale Kommunikationsnetze und Mobilität gekennzeichnet ist. Staatsgrenzen verschwimmen, Städte wachsen zu riesigen Ballungsgebieten zusammen, andere wieder schrumpfen dramatisch, Kapitalismus ist heute das die Welt regierende System, Service- und Erfahrungswirtschaft sind Wachstumsfaktoren, wir sind Zeugen ungeheurer Migrations- und Individualisierungsprozesse und wir fürchten neue Arten kollektiver Gefahren: Umweltgefahren und neue Formen der Kriegführung. Derartige Veränderungen haben natürlich auch Auswirkungen auf Architektur und Urbanismus, und diese dürften ebenso weitreichend sein wie die Veränderungen, die die Erste Moderne der Stadt bescherte, wenn nicht gar noch weitreichender.

Planung, Urbanismus und Stadtgestaltung haben der Architektur immer Platz gewährt. Nun aber, da die Stadt überholt ist, wissen wir auf Rem Koolhaas’ Frage „Was ist eigentlich aus dem Urbanismus geworden?“ noch weniger zu antworten. Stadtgestaltung wird von neuen Public Private Partnerships, großen Unternehmen und einer Vielzahl kleiner privater Organisationen initiiert, finanziert und diktiert. Architektur, zumindest die „große“, ist zu einem völlig ungebundenen, international agierenden Zirkus avanciert, der sich seine eigenen Plätze schaffen will. Ein enormer Wandel im Vergleich zu den 1970ern, als sich Architekten beinahe ausnahmslos mit historischen Stadtzentren befassten, modernistische Erweiterungen im großen Stil ablehnten und alles, was um sie herum geschah, völlig ignorierten. Das war ein schwerer Fehler. Der Perspektivenwechsel von der Stadt hin zur Region ist daher ein erster notwendiger Schritt zu einem besseren Verständnis dessen, was tatsächlich vor sich geht.

Die Stadt heute, in ihrer neuen Konstellation als urbane Region in einer globalisierten Welt, stellt eine enorme Herausforderung für alle Akteure dar, besonders für Architekten. Die üblichen Steuerungsmethoden funktionieren längst nicht mehr, basierten sie doch zumeist auf dem Paradigma der Stadt als mehr oder weniger geschlossenes, autarkes Gebilde mit souveräner Regierung und Verwaltung. Sie waren für eine Welt entwickelt, die noch aus Nationalstaaten bestand, in der es eine klare Unterscheidung gab zwischen der Stadt, wo die industrielle Fertigung erfolgte, und dem ländlichem Umfeld, das die Stadt wiederum mit landwirtschaftlichen Produkten versorgte.
Diese technokratischen Methoden gerieten ab dem Ende der 1950er immer mehr ins Kreuzfeuer der Kritik: Erstens wegen ihres mangelnden Interesses an kulturellen Aspekten, zweitens wegen ihres Unvermögens, Individualisierungsansprüchen gerecht zu werden. Das Hauptproblem dieser Methoden besteht heute in der Schwierigkeit, mit externen Faktoren umzugehen: Landwirtschaftliche Erzeugnisse können aus jedem Winkel der Erde kommen, und die Industrie produziert zu großen Teilen ebenfalls in fernen Kontinenten. Dies führt zu unzuverlässigen, praktisch kaum brauchbaren Statistiken, da diese weitgehend von Faktoren abhängen, die irgendwo anders festgelegt werden. An die Stelle der Massengesellschaft ist eine individualisierte Gesellschaft getreten, was jede statistische Herangehensweise problematisch macht und die Volksdemokratie in die Krise führt.

Technokratische Planungsmethoden gehören zur Industriellen Revolution, die bestimmend war für die Erste Moderne, und doch stützen wir uns nach wie vor in großem Maße darauf. Wir werden neue Methoden entwickeln müssen, die uns in die Lage versetzen, mit Metropolregionen auf intelligentere Weise umzugehen. Bislang sind derartige Methoden nur fragmentarisch verfügbar. Nicht von ungefähr gründen Architekturbüros derweil auf auf Forschung spezialisierte Spiegel-, Zwillings- oder Schattenorganisationen bzw. integrieren Forschungsabteilungen fix in ihre eigene Organisation. Etliche akademische Institutionen setzen inzwischen mehr auf Stadtforschung denn auf Stadtgestaltung. Kultureinrichtungen veranstalten große Ausstellungen (Mutations, Shrinking Cities, Hiper Catalunya, Territories, ...), die sich alle mit größeren oder kleineren Veränderungen in Metropolregionen beschäftigen. Da viele Faktoren, die unsere Städte beeinflussen, von außen kommen bzw. von der Basis ausgehen, müssen wir erst verstehen, wie diese heute funktionieren, um sodann zu erkennen, wo genau unsere strategischen Eingriffschancen liegen.

Der Prozess weltweiter Differenzierung erzeugt auch ein neues Interesse an der Spezifität von Städten hinsichtlich ihrer Identität und als kollektive „Kunstwerke“. Wie haben Städte mit der Zeit einen spezifischen Charakter entwickelt? Wie ist dieser gewachsen, was bewirkt oder schafft Spezifität? Immer entscheidender für die Ansiedlung verschiedener Industrieformen sind auch Aspekte, die mit Lebensqualität zu tun haben: Klima, Flora und Fauna, Umweltverschmutzung, Kultur, Gesundheit, Freizeiteinrichtungen. Aber wie ist es möglich, dass so unterschiedliche Städte wie Neapel, Hongkong, Paris, San Francisco, St. Petersburg und Casablanca eine derart starke Identität haben, dass allein ihre Namen Bilder in unseren Köpfen auftauchen lassen? Was erzeugt die Baukultur, die diese Städte so unverwechselbar macht, selbst wenn sie verschiedene Entwicklungsphasen durchlebt haben, mitunter explosionsartig wachsen und sich ständig anpassen müssen, um aktuellen Anforderungen und Wünschen gerecht zu werden? Ist ihre Spezifität hauptsächlich durch eine kulturelle Tradition bestimmt oder eine kollektive Mentalität, eine kollektiv „gelebte Kultur“, Gesetze und Vorschriften, oder durch eine Kombination all dessen?

Vertreter aus der Wirtschaft haben ihre Methoden, um Regionen zu analysieren und zu bewerten, deren Stärken und Schwächen aufzuzeigen. Solche Methoden können zur Entwicklung von Maßnahmen verwendet werden. Die große Herausforderung für Architekten besteht heutzutage darin, ebenfalls neue Benchmark-Methoden zu erarbeiten, um die mittlerweile weitgehend versteckten Regeln des bebauten Umfelds zu verstehen und dieses Verständnis schließlich in Vorschläge für Methoden und Maßnahmen einfließen zu lassen, die der Architektur wieder Platz verschaffen könnten. Gerade in diesem Bereich kann eine Architekturtheorie, die die Realität des bebauten Umfelds ernst nimmt, eine wichtige Rolle spielen.

Artikel erschienen in REPORT.Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in Zentral- und Osteuropa, Juni 2005



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