Aktuell *Ost Über Uns Archiv Impressum English




Das Kunsthaus in Graz wurde eröffnet und sämtliche Presseberichte, die nicht über den Besucherandrang und dem volksvereinenden Geschmack des neuen und ersten Gebäudes der Architekten Peter Cook und Colin Founier berichteten, spendeten eine zum Teil vernichtende Kritik an die Architektur: „Der "Alien": aufgetaute Tiefkühlkost. Auf der Verpackung eine Attraktion, aber dann schal.“, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Und selbst die von Arnold Schwarzenegger überbordende Medienpräferenz holt zum Seitenhieb Richtung Kunsthaus aus: „Das gerade eröffnete Kunsthaus könnte man im Übrigen zum Kraftsportzentrum umwidmen und den künstlerischen couch potatoes den Weg nach Sacramento weisen, genau genommen in ein Kaff wie Graz.“ Manuela Hötzl wollte mit verbliebener Distanz und ohne Vorurteile die Höhen und Tiefen des Kunsthauses erklimmen und schickte einen unbefleckten Fan moderner Architektur nach Graz: Nennen wir ihn Theobald Strömer. Von Manuela Hötzl.

Zimmer mit Aussicht

Theobald Strömer ein junger, engagierter Architekturhistoriker mit einem Hang zum Detail und, was nicht unerwähnt bleiben sollte, ein großer Bewunderer der Architektengruppe Archigram. Diese Vorliebe des jungen Historikers, für eine Architektur des vorherigen Jahrhunderts, kann man doch leicht nachvollziehen. Denn auch wenn die Brille von Peter Cook ebenso rundlich hoch auf der englischen Nase des rundlichen Akademikerantlitz sitzt, seine Gedanken kreisten jüngst um etwas Neues. Ja, Menschen verändern sich und warum sollte jemand, der als Lehrer so viele Generationen beeinflusst hat, nicht jetzt auch selbst bauen (wollen). Das Haar ist weiß, die Hände flink des Zeichnens und in der Tat, es wird vieles möglich, wenn die Zeit einfach so vergeht. Doch bleiben wir bei Herrn Strömer, der sitzt mittlerweile vor dem Eingang auf einer Bank der Straßenbahnhaltestelle der Linie 6 und schaut entrückt auf das Gebäude seines Idols. Straßenbahn um Straßenbahn zieht vorbei und Theobald genießt den Augenblick, denn er weiß, bald wird er sich mit den eingeladenen Pressedamen und Herren in das Gebäude schwindeln und den Architekten durch das Kunsthaus folgen. Darauf hat er lange gewartet und die wenigen Minuten, die im seinem Ziel nahe bringen, harrt er gerne aus. Noch kann er die hohe Wölbung des Neuen, verdeckt von dem frischen Grau des Hauses, nur erahnen. Ab und zu blitzt die Reflektion der Sonne, die mit ihrem Strahlen bis tief in das Innere dringt, ihn an und er kneift fast fröhlich die Augen zu. Von seinem Standpunkt aus überblickt er noch nicht das ganze Ausmaß der herbeigeschwörten Moderne und SEINER Zukunft. Fast zaghaft blickt er durch den Eingang in das Innere, das schon mehr verspricht, als er zu hoffen wagte. Strömer beschließt eine Runde um das Gebäude zu machen, als er plötzlich unfreiwillig Zeuge eines Gesprächs einer Grazer Großmutter mit ihrer Enkelin wird. „Oma, was kommt denn da jetzt rein?“ „Kunst, natürlich“, meint die Omama pragmatisch, „ist doch auch ein Kunsthaus!“. „Mir hätte aber ein anderes Gebäude viel besser gefallen – ich habe die anderen nämlich auch gesehen“, sagt das junge Mädchen stolz. Strömer stockt der Atem. „Andere“ und „besser“? Hätte er gewusst, dass sein Idol Cook gewinnen würde, wäre er natürlich schon früher hergekommen, als man alle Projekte im dem damals noch wirklich echten, alten Eisernen Haus ausstellte. „Doch“, denkt er sich jetzt, „eigentlich hätte ich es wissen müssen, dass nur ER hätte gewinnen können.“ Und der Gedanke trifft ihn fast mit Wehmut: „Einmal musste es ja passieren“.
Strömer verlässt, von seinen eigenen Gedanken hochgeschreckt, den gläsernen Unterstand und versäumt die folgenden Gesprächsfetzen über die Eröffnung des Hauses und die neuen Ladenöffnungszeiten, er hört nichts mehr, hält seinen Blick starr auf den Eingang gerichtet und geht, dem Rhythmus der Fassade folgend, Richtung Südtirolerplatz. Ein freudiges Schauern läuft über seinen Rücken als er zum ersten Mal die glänzende Hülle erspäht, die weit in die enge Gasse ragt und ihn, mit seiner gesamten Begeisterung, von unten aufnimmt.
So klein und unwichtig kommt er sich plötzlich vor. Wie kann das nur möglich sein? All die vielen kleinen Glasteile, die sich individuell und ein wenig unordentlich an die zügig dynamische Fassade heften. „Menschen sprechen immer ihren Computern ein Eigenleben zu“, denkt Strömer, „aber dieses Gebäude lebt wirklich!“ Gerne würde er es interviewen oder einfach nur mit ihm oder ihr plaudern. „Wahrscheinlich ist es sehr schüchtern“, vermutet Strömer, als er sieht, wie die Hülle von den anderen Gebäuden wegrückt und mit Respektabstand mehr sich selbst folgt als eine Annäherung vorzutäuschen. Vor ihm passiert ein kleiner Unfall, bei dem ein Fahrradfahrer, der seinen Blick nach oben wandte, in eine Fußgängerin fuhr. Doch diesen Zwischenfall bemerkte Strömer nur am Rande. Wie ein Archäologe versuchte er gerade jedes Detail an dem Gebäude zu verstehen und aufzuspüren und leiser Zweifel kriecht in ihm hoch. Vor dem Lastenlift, in der engen Schlucht, mit der riesigen Blase über ihm, fühlt er sich plötzlich gar nicht mehr so wohl in seiner Haut. Hier wird noch gearbeitet und die Atmosphäre der Baustelle entspricht nicht seiner euphorischen Stimmung. Über ein paar Kisten, abgesperrten Bereichen gelangt er nun an die Front des Gebäudes. Viele Menschen hatten sich dort schon angesammelt und er flüchtete an die kaum frequentierte Bar an der nur ein rothaariger, bulliger Mann mit Wikingerbart und ein paar anderen Männern stand. „Das Gebäude ist doch Scheiße, findet ihr nicht auch!“, rief der Mann, schon etwas angeheitert. Er holte sich einen wartenden Farbigen als Gesprächspartner heran, der wohl oder übel auf die äußerst rhetorisch gestellte Frage antworten musste. „Schön finde ich es nicht“, sagte der Mann vorsichtig. „Gut, wie heißt du denn?“. „Simba Gan!“. „Echt?, und weißt du auch, mein Freund mit dem schönen Namen, warum dieses Haus nicht so gut ist, wie alle behaupten?“ „Wissen Sie ich habe Architektur studiert, in Ghana, und jetzt habe ich ein Afrikanisches Restaurant in der Innenstadt“. Der Wikinger immer erstaunter:„Und warum machst du nicht mehr Architektur?“ Simba: „Weil ich solche Dinge wie hier nicht bauen will.“
Strömer ist verblüfft. Er erträgt diese Unterhaltung nicht mehr und als der Wikinger sich ihm zuwendet, sucht er schnell das Weite. Er steht an der Mur und nicht nur der Fluss, auch die riesige Menschenmenge rauscht hinter ihm. Die Pressekonferenz ist längst im Gange und er beschließt endlich doch in das Innere einzudringen. Endlich im Foyer fühlt er sich wieder besser, aber nicht so modern und selbstbewusst, wie er von sich dachte. Die Unbehaglichkeit verstärkt sich. Überall ist Glas und er bewegt sich auf den Weg nach oben. Ein langes Laufband streckt sich ihm entgegen und als einen Fuß hinaufstellt, wird er schon nach oben gezogen. Laut ist es dort und ungemütlich. Das müsste eigentlich die Tiefgarage sein, fühlt er intuitiv. Neonröhren an der Decke bestrahlen ihn und hüllen ihn in ein helles, ungemütliches Licht. Keine Fenster und eigentlich auch keine Wände. Strömer legt die Hände auf das metallene Gitter, das das Innere umkleidet. Auch hier: Kein Stück gleicht dem anderen. „Echte Maßarbeit“, denkt Strömer. Die Geräusche kommen von weiter oben und er will doch endlich die Guckröhren („Nozzles“) sehen. Jetzt bin ich also im Inneren eines „Blob“, denkt Strömer erfürchtig. Die Lichter befinden sich hier spiralförmig in den Aussichtstrichtern und Strömer fühlt sich wie der erste Astronaut im Weltall. So etwas hat er noch nicht gesehen. Jeder Inhalt, selbst Menschen, wirken in dem Raum deplaziert. Alles ist zu groß, zu unförmig, zu dunkel oder zu hell und vor allem: zu grau. Für Menschen ist es ja nicht gebaut, tröstet Strömer sich und seine Naivität hält seine Euphorie immer noch ungebrochen. Über die Treppe gelangt er in einen mit schwarzem Teppich ausgekleideten Raum und ist verwirrt. „Eine schwarze Spielwiese für Kinder?“, rätselt er und freut sich ein wenig hämisch über die schöne Abgeschlossenheit des Kindergeschreis. Wieder nach oben, ist er endlich auf dem langen, gläsernen Gang („Needle“) und schaut von dort nicht nur auf die Stadt Graz, sondern auch auf eine beeindruckend luxuriös wirkende Dachterrasse auf der, und ihm werden alle Knie weich, Peter Cook selbst steht. Da muss er hin und das kann er nur heute, dass ist ihm wohl bewusst, da dieser Bereich nur dem Museumsdirektor vorbehalten ist. Bei Cook angekommen, schaut er auf seine starren Le Corbusier-Brillen und seine beweglichen Hände. Er versteht kein Wort Englisch, aber Strömer verfolgt die architektonische Gebärdensprache seines Idols nur zu gut. Eigentlich ist er am Ziel: die lang ersehnte Dachhaut im starken Blau hinter sich, Peter Cook vor sich und die Stadt Graz unter sich: ein höchst elitäres Ambiente, das er sich niemals erträumt hätte. Irgendwann findet er sich im Inneren wieder, alle gratulieren, grölen und küssen sich – doch Strömer hört nichts mehr. Er weiß nicht, ob es an der Akustik oder an seiner Benommenheit liegt – aber er klammert sich an die Brüstung des Laufbandes („Pin“ Anmerkung der Redaktion), das mittig den Raum dominiert und fühlt sich geborgen. Plötzlich hört er jemanden neben sich flüstern: „Ich habe den Zentralschlüssel. Wollen Sie noch eine Besichtigung?“. Strömer schaut erstaunt auf und spürt, dass großes auf ihn wartet. Ohne zu zögern ergreift er die Chance und geht entschlossen hinter dem Feuerwehrmann hinterdrein. Sie kommen in Depots, einem riesigen Technikraum, dahinter ein weiterer, viele Lagerräume und Strömer fühlt sich wie Pinnoccio im Bauch des Wals. Alle Eingeweiden seines Musterstücks offenbaren sich vor ihm und er verliert die Orientierung. Doch plötzlich hat er wieder Blickkontakt nach außen. Irgendwie sind sie in einem Raum gelandet, der völlig verglast, den Blick auf die hinteren Gassen freigibt. Strömer sieht eine kleine Küche und möchte bleiben. Dieser Raum ist perfekt auf ihn zugeschnitten. Scheinbar ohne Weg nach draußen, ungefähr 15 Quadratmeter groß, das Kunsthaus im Rücken und der Blickkontakt nach draußen. So möchte er für immer die Sicht auf die Welt behalten. Der Fatalismus des Gebäudes und seine technoide Eleganz hat sich vollkommen auf Strömer übertragen. Er fühlt sich eins mit dem Gebäude. Unter halb vorgetäuschter Melancholie schickt er den schon etwas nervösen Feuerwehrmann zurück und setzt sich auf den grauen Teppichboden. Bisher hat ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen.

Die handelnde Person ist frei erfunden. Die Geschichte basiert allerdings auf tatsächlich Erlebtem und Gehörtem.



erschienen in Architektur&Bauforum Nr.19/ Okt.03
> Kunsthaus Graz