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Freiheit kommt

Antje Mayer im Gespräch mit „Bosnien Girl“ Sejla Kamerić

redaktionsbüro: Antje Mayer
Sejla Kamerić:
- Eines Ihrer Projekte ist ein Aufkleber mit einem großen Pfeil und den Worten „SARAJEVO homeSICK“. Seit 2001 kleben Sie den überall hin, wo Sie gerade sind. Haben Sie so oft Heimweh?
- Ich habe einmal einen Kurator getroffen, der mir gestand, er hätte noch nie in seinem Leben das Gefühl von Heimweh verspürt. Ich habe ihm geantwortet: „Demnach hast du dich auch noch nie in deinem Leben irgendwo zu Hause gefühlt.“ Er gab mir recht, das hatte er nicht. Für mich ist Heimat nicht unbedingt mit einem Ort verbunden, sondern ist dort, wo ich mich sicher und gut fühle. Sarajewo, meine Geburtsstadt, ist so ein Ort, aber ich meine das weniger geografisch, sondern vielmehr mental. Als Künstlerin habe ich diese Stadt als Symbol neu konstruiert. Meine Arbeit erinnert an die vielen Menschen, die wegen des Krieges flüchten oder emigrieren mussten und nun mit dieser „Krankheit“ leben lernen müssen. Sie sind gezwungen, sich ihre Heimat, ihr Sarajewo, oder ihr Zuhause neu zu schaffen. Das wollte ich mit „home-SICK“ vermitteln.
- Ist Heimweh nicht auch ein schönes, melancholisches Gefühl? Das deutsche Wort „Heimweh“ drückt das für mich viel besser aus als das englische „homesick“.
- Oh ja, es kann sehr angenehm sein, Heimweh zu verspüren, denn das heißt, es gibt ein Zuhause, nach dem man sich sehnen kann. Aber es kann auch regelrecht krank machen. Wenn man keinen Zugang zu diesem „Heim“ findet oder man kein Heim hat, kann das mit großem Schmerz und Leid verbunden sein.
- Manchmal wenn ich im Ausland war, habe ich mich selbst bemitleidet. Ich kam mir schrecklich amputiert vor, weil ich mich nicht in meinem „Ureigensten“, meiner Muttersprache, unterhalten konnte. Ist Sprache nicht auch Heimat?
- Sprache kann eine Art Heimat sein, aber ich denke nicht, dass wir unser Zuhause in der Sprache einrichten sollten. Wien und Sarajewo sind kleine Städte, in denen das vielleicht relevant ist, aber in großen Metropolen wie New York verliert das große Wort „Muttersprache“ seine Bedeutung, weil dort annähernd jeder Ausländer ist und Englisch für viele eine Fremdsprache darstellt. Die Menschen schaffen sich dort ihre eigenen „Communitys“, in denen sie kommunizieren können.
- Ist das Gefühl des Heimwehs nicht vom Aussterben bedroht in einer Welt, in der man über das Internet an vielen Orten – zumindest virtu-ell – anwesend sein, man sich in Echtzeit – etwa über das Internet-Programm Skype – miteinander unterhalten kann und Flüge für jeden leistbar werden?
- Das macht es einfacher. Aber ist das nicht auch ein großer Supermarkt mit einer Fülle von Angeboten, in denen man sich zu verlieren droht, während man das eine Ding, das Zuhause, nicht findet? Vergessen Sie nicht, dass wir Bosnier keine EU-Bürger sind und unsere Freiheit eine ganz andere ist als die von EU-Bürgern. Ich als bekannte bosnische Künstlerin bin privilegiert und habe ein Schengen-Visum. Aber andere Menschen müssen viel zahlen, einen unglaublichen Papierkram und menschenunwürdige Schikanen auf sich nehmen, um ausreisen zu können. Ein junger bosnischer Student kann nicht einfach seinen Rucksack packen und auf Interrail-Reise gehen, um die Welt zu erkunden. Das ist ein großes Problem für mein Land. Die Jüngeren unter uns haben Bosnien-Herzegowina nie prosperierend, sondern nur im Krieg oder in der Nachkriegszeit erlebt. Wie sollen diese jungen Menschen sehen, dass es auch anders geht? Wie sollen sie Hoffnung schöpfen, etwas in unserem Land ändern und bewegen zu können? Dasselbe gilt für Internet, Billigflüge oder Rundfunk. Nicht alle Menschen haben dieselben Zugangsmöglichkeiten.
- In Ihrer Arbeit „EU/Others“ auf der „Manifesta 3“ in Ljubljana im Jahr 2000 haben Sie wie auf einem Flughafen zwei Durchgänge aufgebaut: den einen für „European Citizens“, den anderen für „Others“. Als Bosnierin verbinden Sie mit den Begriffen „EU“ und „Europa“ sicherlich et-was anderes als ich?
- Für mich ist die EU vorderhand eine politische und ökonomische Gemeinschaft, die damit lockt, dass man sich ohne Grenzen frei bewegen kann. Ich befürchte jedoch, sie wird, je mehr sie wächst, auch zunehmend ausschließen und die Vielfältigkeit einschränken wollen. Wir Bosnier erleben die EU momentan als Ausgestoßene, die an den Rand dieses Imperiums gedrängt wurden. Europa? Meine Familie und ich haben uns immer als Europäer gefühlt. Die europäische Politik angesichts der Belagerung von Sarajewo und des Krieges hat uns in Bosnien-Herzegowina jedoch schmerzlich offenbart, dass wir das offensichtlich nicht sind.

- Sie sind während der 43-monatigen Belagerung von Sarajewo in der Stadt geblieben. Als der Horror begann, waren Sie 16, als er endete, knapp 20 Jahre alt. Vieler Ihrer Altersgenossen waren damals aus der Stadt geflohen. Es gab dazu durchaus Möglichkeiten. Warum haben Sie sich das angetan?
- Vor dem Krieg hatten meine Eltern, meine Schwester und ich gemeinsam darüber diskutiert, ob wir flüchten sollen, wir haben aber beschlossen zu bleiben. Wenn Sie jemand zwingt, Ihr Zuhause zu verlassen, weil er behauptet, das sei nicht Ihre angestammte Heimat, werden Sie in dieser Entscheidung nur noch bestärkt. Nachdem mein Vater getötet worden war, fühlte ich mich nur noch stärker davon überzeugt. Ich glaube fest daran, dass Sarajewo aus meiner Anwesenheit als Künstlerin Nutzen davongetragen hat.
- Sie haben sich durch diese Entscheidung Ihre innere Freiheit bewahrt, auch wenn die äußerliche durch die serbischen Belagerer auf brutalste Art und Weise eingeschränkt war?
- Ja, genau. In meiner Arbeit „FRAI“ aus dem Jahr 2004 thematisiere ich das Thema „Freiheit“. Ich habe einen Stempelabdruck mit dem Schriftzug „Frei“ angefertigt. Mit der Zeit verwischte das Wort und verschwand schließlich ganz. Freiheit, wollte ich damit ausdrücken, ist etwas Relatives und nichts Absolutes. Es ist kein permanentes Gefühl, sondern es kommt und geht.
- Haben Sie den Eindruck, dass ich als EU-Bürgerin freier bin als Sie?
- Nein, ich besitze zwar nicht die Freiheit, mich ohne Einschränkungen zu bewegen und zu konsumieren, was landläufig als Freiheit definiert wird, aber ich habe dafür andere Freiheiten. Es gibt unzählig viele Gefühle von Freiheit. Als ich in Wien lebte, empfand ich es als Unfreiheit, spätabends nicht duschen zu können, weil sich die Nachbarn sonst beschwert hätten. Nach dem Krieg sagte ein Freund zu mir: „Wenn wir den Krieg nicht überlebt hätten, würden wir nicht wissen, was es heißt, frei und glücklich zu sein.“ So hatte der Krieg perverserweise auch etwas Positives. Man wurde auf andere Art reicher und weiser. Freiheit hat so viele Facetten.
- Welche Freiheit verspüren Sie gerade?
- Ich bin im Augenblick eher frustriert, dass man als Einzelne immer weniger in dieser Welt verändern kann. Es können Millionen von Menschen gegen den Krieg auf die Straße gehen und keine Regierung schert sich darum. Als der Krieg in Israel und Libanon ausbrach, war ich gerade dort …
- Ausgerechnet! Was haben Sie in diesem Moment empfunden?
- Mir war klar, dass ich in Israel in diesem Moment nicht in akuter Gefahr war, aber ich spürte wirklich große, große Angst hochsteigen. Ich fühlte auch eine große Wut in mir, dass ich nichts tun konnte, um diese Gewalt zu verhindern. Es kam alles wieder hoch, mein Kriegstrauma, alles. Ich wollte nur eines: weglaufen!
Sejla Kamerić wurde 1976 in Sarajewo (Bosnien-Herzegowina) geboren. Sie studierte an der Akademie für Bildende Kunst am Institut für Grafikdesign und arbeitete als Artdirektorin im Kreativteam der „FABRIKA“ in Sarajewo. Als Künstlerin feierte sie ihr Debüt 1997 mit der öffentlichen Installation „Copy-Paste“, die im Rahmen der ersten Jahresausstellung des SCCA (Sarajevo Centre for Contemporary Art) „Meeting Point“ gezeigt wurde. Interventionen im öffentlichen Raum, diverse Kunst-Aktionen und ortsbezogene Installationen gehören zu den wichtigsten Aspekten ihres Schaffens („EU/Others“, „Fortune Teller“). Darüber hinaus bedient sie sich der Medien Fotografie und Vi-deo, um den eindeutigen sozialen Kontext intimen Perspektiven gegenüberzustellen („Basics“, „Bos-nian Girl“, „Dreamhouse“). Zu ihren letzten Soloa-usstellungen zählen, neben zahlreichen Gruppen-ausstellungen im In- und Ausland, „Sorrow“ in der Kosovo Art Gallery (Museum Priötina) und EXIT Gal-lery (Kosovo, 2006) sowie „The Final Sale“ in der Buchhandlung Karver (Podgorica, Montenegro). Im Jahr 2005 fand die Ausstellung „äejla Kamerić (Another Expo – Beyond the Nation-States)“ in der SOAP Gallery in Kitakyushu (Japan) statt. Die Künstlerin lebt und arbeitet in Sarajewo.

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Oktober 2006
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