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Die Revolver-Revolte

Zensur, Wendeschock und zeitgenössische Literaturkritik in Tschechien : ein Gespräch mit Michale Špirit

redaktionsbüro: Antje Mayer
Michale Špirit:
- Die erste Ausgabe der „Revolver Revue“ wurde 1985 in einer Auflage von 50 Stück produziert. Können Sie uns ein bisschen die Atmosphäre damals beschreiben, in der dieses vorerst kleine Underground-Projekt entstand?
- Die ersten vier Ausgaben der späteren „Revolver Revue“ nannten die Gründer – Ivan Lamper, Jáchym Topol und Viktor Karlík – alle um die 20 Jahre alt, „Jednou nohou“ (Mit einem Bein). Eine Anspielung darauf, dass sie mit diesem Projekt praktisch mit einem Bein im Gefängnis standen. Dort saß damals Ivan Jirous ein, eine der wichtigsten Figuren des tschechischen Undergrounds und Manager der Rockgruppe „Plastic People of the Universe“. Ihm widmete man das erste Heft. Seine Gedichte hatte man aus der Haft geschmuggelt und im Blatt publiziert. Heute zeichnet übrigens Terezie Pokorná als Chefredakteurin von „Revolver Revue“ verantwortlich, mit ihr im Kernteam sind noch der Gründer Viktor Karlík und Marek Vajchr aktiv.
- Bestand damals nicht die Gefahr für die jungen Redakteure, dass sie jederzeit ein ähnliches Schicksal wie Jirous ereilen könnte?
- Sie bewegten sich auf einem schmalen Grat. Jirous’ Gedichte aus dem Gefängnis zu schmuggeln, war natürlich strafbar, sie abzudrucken jedoch nicht. Der Vorteil bestand darin, dass diese jungen Leute der „Revolver Revue“ noch unbeschriebene Blätter waren. Den Überwachungsorganen lag noch kein Sündenregister mit deren Namen vor. Ohne Grund konnte man selbst in der Tschechoslowakei keine Redakteure mundtot machen. Die „Revolver Revue“-Macher verstanden es sehr geschickt, der Zensur zu entgehen, indem sie es peinlich vermieden, zu politisch aufzutreten. Sie kommunizierten ihre Themen eher über künstlerische Werke, oft sehr humorvoll: vorderhand über aktuelle Literatur, aber auch durch Grafik, Fotografie und bildende Kunst. Man darf auch nicht vergessen, dass sich damals, Mitte der Achtziger, die politische Situation allmählich lockerte. Ab 1987 war es schon leichter, in den Westen zu reisen.
- Hatte die Gruppe ein Programm für die „Revolver Revue“ formuliert?
- Nein, ausdrücklich nicht. Man wollte keine Dissidenten-Zeitschrift sein, sich auch bewusst von der 68er-Generation absetzen, ohne freilich deren „Helden“ auszuschließen. Im Gegenteil. Vor allem aber wollte man gute und neue Literatur und Kunst, auch aus dem Ausland, veröffentlichen und damit etwas gegen die kulturelle Isolierung der Tschechoslowakei tun. Die „Revolver Revue“-Mannschaft ging – und geht bis heute – mit einem großen Ethos an die Auswahl der jeweiligen Werke, die sie vorstellt und rezensiert.
- Hatte die Gruppe ein Programm für die „Revolver Revue“ formuliert?
- Nein, ausdrücklich nicht. Man wollte keine Dissidenten-Zeitschrift sein, sich auch bewusst von der 68er-Generation absetzen, ohne freilich deren „Helden“ auszuschließen. Im Gegenteil. Vor allem aber wollte man gute und neue Literatur und Kunst, auch aus dem Ausland, veröffentlichen und damit etwas gegen die kulturelle Isolierung der Tschechoslowakei tun. Die „Revolver Revue“-Mannschaft ging – und geht bis heute – mit einem großen Ethos an die Auswahl der jeweiligen Werke, die sie vorstellt und rezensiert.
- Wie produzierte und vertrieb man das Magazin?
- Die „Revolver Revue“ erschien drei- bis viermal im Jahr. Die erste Nummer aus dem Jahr 1985 hatte 66 Seiten, die letzte in der Samisdat-Ära schon 362 Seiten! Man begann wie gesagt mit einer Auflage von 50 Stück, im Jahr 1989 waren es immerhin zehnmal so viele: 500 Exemplare. Heute sind es um die 1.000. Um nicht aufzufliegen, musste die Redaktion sie jedes Mal an einem anderen Ort produzieren. Das Magazin sollte bewusst nicht die gewöhnliche Samisdat-Ästhetik vermitteln, dass heißt nur auf der Schreibmaschine getippt und eventuell noch mit Kartoffeldruck und eingeklebten Bildchen illustriert sein. Die „Revolver Revue“ beziehungsweise die „Jednou nohou“ war drucktechnisch schon großzügiger gemacht: Man hat bereits schrittweise „Zyklostyl“ (eine Vervielfältigungsmaschine, Anm. d. Red.) benutzt. Die Ausgabe Nr. 12 wurde bereits illegal in einer Druckerei produziert. Der Vertrieb war einfach: Man gab sie Freunden, die wiederum Freunde hatten, und so weiter und so fort.
- Wie kam man an Literatur aus dem Westen?
- Literatur aus dem Westen fand oft auf sehr abenteuerlichen Wegen in die Tschechoslowakei, manchmal versah man Bücher mit einem anderen Umschlag, manchmal führte man sie auch auf ganz gewöhnliche Weise ein: per Post oder über Freunde.
- Wie er- und überlebte das Blatt die Wende 1989?
- Einerseits war man unglaublich froh, endlich alles lesen und schreiben zu können, was man wollte, andererseits waren viele in einen unendlichen Raum ohne erkennbare Koordinaten geworfen worden, in dem sie sich erst zurechtfinden mussten. Als die sogenannte „Samtene Revolution“ im Gange war, war gerade die 13. Ausgabe der „Revolver Revue“ herausgekommen. Die nächste Ausgabe Nr. 14 ließ dann ein ganzes Jahr auf sich warten, das ist der längste Zeitraum, während dem das Magazin nicht erschien. Die Zeitung befand sich damals in einer veritablen Krise, weil viele Redakteure es nicht angemessen fanden, über Kunst zu schreiben, angesichts der aktuellen politischen Umbrüche. Jene Journalisten gründeten die politische Wochenzeitschrift „Respekt“ (www.respekt.cz). Ich war damals 25 Jahre alt, ein Durchschnittsstudent, dem allerdings klar war, dass es andere Literatur als die staatliche gab. Dunkel hatte ich von der „Revolver Revue“ gehört, bewegte mich aber nicht in deren Kreisen. Dann befreundete ich mich aber mit den Leuten von der „Revolver Revue“ und begann 1994 für sie zu schreiben.

- Sie und Ihre Kollegen wurden aber zunehmend unzufriedener?
- Wir wollten mehr Raum für Kritik haben, der in den damals gängigen Medien kaum bis überhaupt kein Platz eingeräumt wurde, aber auch nicht in der „Revolver Revue“. Die Situation auf dem Medienmarkt hat sich bis heute in Tschechien übrigens nicht groß geändert. Kulturkritik findet bestenfalls über Besprechungen von Hollywood-Filmen, Musicals und Popmusik statt. Magazine wie die „Revolver Revue“ können nur durch Kulturstiftungen und mit Hilfe öffentlicher Gelder überleben.
Aber zurück zum Jahr 1995, in dem wir die „Kritická Příloha RR“ („Kritische Beilage der Revolver Revue“) gründeten. Sie funktionierte als physisch eigenständiges Medium, das aber unter dem Label „Revolver Revue“ agierte, weil es von den gleichen Redakteuren produziert wurde. Sie erschien bis 2004 dreimal im Jahr und umfasste immerhin fast 200 Seiten. Heute ist die „Kritická Příloha“ wieder in die „Revolver Revue“ integriert. Von den 250 Seiten sind etwa 50 Teil der Beilage, für die ich immer noch schreibe.

Warum gibt es in Tschechien keine „Kultur der Kulturkritik“? Ein Phänomen, das man in vielen ehemals sozialistischen Ländern beobachten kann?
Die Geschwindigkeit, mit der in Tschechien Journalismus betrieben wird, ist enorm und übertrifft meiner Meinung nach jene in Österreich, Deutschland und in Frankreich um einiges. Eine Kultur oder Tradition im Journalismus, wie man sie etwa in Großbritannien vorfindet, existiert bei uns nicht. Die neuen Medien werden bei uns im Grunde von 20- bis 30-Jährigen produziert, die nur unklare Vorstellungen davon haben, was etwa die „Charta ’77“ war.

- Welchen Stand hat die Literatur in Tschechien?
- Im Kommunismus genoss die Literatur vor allem aus politischen Gründen ein hohes Ansehen bei den Menschen. Sie thematisierte die Lebenssituation in der Totalität, die man miteinander teilte. Heute herrscht Chaos auf dem tschechischen Büchermarkt. Es existiert keinerlei Hierarchie der Qualitätsniveaus, weil eben keine populäre Literaturkritik wie in Deutschland angeboten wird.
- Letzte Frage: Lesen die Jüngeren noch die Bücher der älteren Autorengeneration?
- Die Verlage lechzen nach jungen Nachwuchsautoren und vergessen dabei, dass ein 50 bis 60 Jahre alter Schriftsteller genauso gut schreiben kann und seine Arbeiten es genauso wert wären, in eine Fremdsprache übersetzt zu werden. Die zum ersten Mal publizierten „Gesammelten Werke“ von Jaroslav Seifert, immerhin unser einziger Nobelpreisträger für Literatur, dessen Gedichte im Kommunismus mit 10.000 Buchexemplaren publiziert wurden, werden heute in der niedrigen Auflage von knapp 500 Stück produziert und selbst die bekommt der Verleger nicht los. Stellen Sie sich das vor! Da stimmt dann für mich das Verhältnis nicht mehr.
Lesen Sie bitte auch den Artikel in der „Neuen Zürcher Zeitung“ über die „Revolver Revue“
Link: www.nzz.ch/2006/06/01/fe/articleDJ9V4.htm

Michael Špirit (1965 in Prag geboren) studierte Bohemistik und Geschichte an der Karls-Universität in Prag und promovierte im Fach „Tschechische Literatur“. Von 1995 bis 2001 war er Redakteur der „Revolver Revue“ und der „Kritická Příloha RR“ („Kritische Beilage der Revolver Revue“). Tschechisch lehrt er seit 2001 am Slavischen Institut der Universität Heidelberg. Ab Herbst 2006 wird er wieder an der Karls-Universität in Prag als Dozent am Institut für tschechische Literatur und Literaturwissenschaft tätig sein. Michael Špirit gab unter anderen Schriften von Jan Hanč, Václav Havel, F. X. Šalda und Josef Škvorecký in den „Kritischen Editionen“ heraus. Seit 2003 publiziert er zusammen mit Urs Heftrich die in den Sprachen Deutsch und Tschechisch kommentierte Ausgabe der „Gesammelten Werke Vladimír Holans“. In Rahmen seiner journalistischen Tätigkeit veröffentlichte er unzählige Schriftstellergespräche, Rezensionen, Essays und Aufsätze zu tschechischer Literatur.
Eine ausführliche Biografie und Publikationsliste finden Sie unter
www.uni-heidelberg.de/institute/fak9/slav/spiritPubl.html#edi"

Kontakt:
Slavisches Institut der Universität Heidelberg
Schulgasse 6
D-69117 Heidelberg
T: +49 (0)62 21/54 25 82
E-Mail: michael.spirit@urz.uni-heidelberg.de>

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,August 2006