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Europa hat sich verschätzt

Ein Gespräch mit dem russischen Polit- Journalisten Fjodor Lukjanow

redaktionsbüro: Eduard Steiner
Fjodor Lukjanow:
- Wenn die Briten verlangen, Russland solle seine Verfassung ändern, um den Mörder des Ex-KGB-Agenten Litwinenko ausliefern zu können, benimmt sich England so autoritär gegenüber Russland wie Russland gegenüber Georgien. Ist also eine Westerweiterung östlicher Muster und Stile zu bemerken anstatt einer Osterweiterung europäischer Standards?
- Wir erleben mit dem Eintritt der zentral- und osteuropäischen Länder einen sehr interessanten Moment in der Geschichte Europas, der das politische Klima stark verändert hat. Die Kopenhagener Kriterien wurden von den Beitrittsländern zwar mehr oder weniger erfüllt, aber die mentale Bereitschaft der politischen Elite in diesen Ländern entspricht nicht jenen Zugängen und Prinzipien, die in Europa üblich sind. Jenseits des alten homogenen mentalen Raumes und des einheitlichen Koordinatensystems sind mit Osteuropa Länder, die in einer anderen historischen Zeit leben, dazugekommen.
- Was ist „üblich“ in Europa?
- Zum Wesen der EU gehört, dass man die entsetzliche Geschichte mit ihren Konflikten hinter sich lassen will und diese nicht mehr für die moderne Politik instrumentalisiert. Auch wenn mich niemand überzeugen kann, dass Frankreich und Deutschland wirklich so sehr versöhnt sind, aber an den Grundkonsens halten sie sich.
- Sie spielen auf die aktuelle politische Lage in Polen an?
- Wenn die Brüder Kaczyński erklären, dass ohne den Zweiten Weltkrieg heute 66 Millionen Menschen in Polen leben würden, kehren sie genau das hervor, was Europa immer hinter sich lassen wollte. Es ist schwer, die neuen Mitglieder dafür zu verurteilen, denn sie gehen ihren Weg und haben ihre eigene Geschichte. Andererseits haben die neuen Staaten in die EU ein neues Verständnis von Solidarität eingebracht. Europäische Solidarität bedeutet, dass alle Mitglieder aus dem Verständnis der Notwendigkeit einer Vorwärtsbewegung heraus eine gewisse Selbstbeschränkung auf sich nehmen. Das Solidaritätsverständnis der Balten und Polen aber versteht sich so: Wenn irgendein Mitgliedsland in Konflikt mit einer äußeren Kraft – nämlich Russland – kommt, muss die EU dieses Land unterstützen. Indem Europa Polens Fleischstreit mit Russland zu einer EU-Angelegenheit gemacht hat, wurde der Idee der europäischen Solidarität ein neuer Sinn -gegeben.
- Russland hat mit seinem Benehmen aber auch schon den einen oder anderen Anlass geliefert.
- Sicher, aber das Verhalten der EU erzeugt bei den Ländern Osteuropas und des Baltikums eine große Verlockung, Solidarität als Mittel einzusetzen. Das Paradoxeste ist, dass Polen zwar die Solidarität der anderen EU-Länder im Auftreten gegen Russland erlangte, selbst aber nicht daran denkt, Solidarität innerhalb der EU an den Tag zu legen.
Die neuen Mitgliedstaaten haben die allgemeine Atmosphäre in der EU verändert, sie ziehen Russland in diese europäische Politik hinein, weil sie mit Russland immer irgendeinen -Dialog, meist in Konfrontation, führen. Und die Involvierung Russlands bedeutet, dass dieses historische Moment immer nur verstärkt wird. Denn Russland lebt in einer anderen Epoche und versteht die Prinzipien der modernen europäischen Kultur überhaupt nicht: Kompromissfähigkeit, endlose Koordination und Harmonisierung, Vermeidung von Konflikten – für Russland ist das absurd.
- Würden Sie sagen, dass Russland und Europa, wenn sie von Werten sprechen, dasselbe darunter verstehen?
- Man muss von einem konzeptionellen Rahmen ausgehen, einem gemeinsamen Begriffsapparat, ohne den man auch keine Interessen diskutieren kann. Innerhalb der EU haben Finnen und Griechen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, ein einheitliches Verständnis davon, wie moderne Politik und ein Rechtsstaat funktionieren. Wenn man in Russland über Werte redet, schweift man sofort weit ab und redet von einem christlich-orthodoxen Erbe, einem speziellen russischen Weg. Andererseits fühlt man sich seit 300 Jahren von Europa angezogen – und weicht dann wieder zurück. Dieser Zwiespalt ist nicht einfach zu lösen.

- Wie steht es denn mit Europa aus russischer Sicht?
- Die Sicht ist generell vom Geist einer historischen Konfrontation geprägt. Als die Verhandlungen über den EU-Beitritt der Türkei begannen, habe ich in der österreichischen Presse von der Türkenbelagerung gelesen. Nach dem erfolgreichen 50-jährigen Experiment des Verfolgens einer völlig neuen Politik ist Europa heute bezüglich seiner weiteren Entwicklung ratlos. Dabei war noch vor sieben Jahren das europäische Modell – auch in Amerika – ein Muster für die künftige Welt. Stattdessen nehmen wir eine Remilitarisierung wahr, ebenso wie den eskalierenden Wettstreit um die Energie, die geopolitische Zuspitzung, Widersprüche zwischen den Religionen, das Auftauchen neuer großer Mächte wie China als auch Russland, Iran und Kasachstan. Neue Theorien über die Erfolgsaussichten eines autoritären Kapitalismus werden aufgestellt. Europa will und kann an diesem Spiel nicht teilnehmen, denn mit Ausnahme der Briten und Polen ist niemand bereit, im Nahen oder vielleicht einmal im Fernen Osten zu kämpfen. Bleibt also die Frage: Ist Europa immer noch ein Modell der Zukunft oder eine Oase für ein historisches Experiment, das zwar förderlich, aber in der Welt absolut nicht anwendbar ist? Im Unterschied zu vielen Skeptikern glaube ich, dass Europa durchaus überleben kann, denn es ist ein ziemlich widerstandsfähiges Modell.
- Ist die EU vielleicht nicht das einzige und ausreichende Modell für eine europäische Integration?
- Das Modell steht nicht in Frage, es hat nur sein Potenzial erschöpft. Neue Länder können das Modell einstweilen nicht annehmen. Und -Europa kann nicht alle, die wollen, aufnehmen. Die Ukraine hat gigantische Anstrengungen unternommen, um sich der russischen Einflusssphäre zu entziehen. Die „Orange Revolution“ passierte unter der Losung der europäischen Wahl. Und als die Demokratie gewann, machte Europa die Tür zu. So begann in der Ukraine das Problem. Sie weiß jetzt nicht, wo sie hinsoll.
- Sehen Sie darin die Annäherung der benachbarten und neuen EU-Länder an die USA begründet?
- Was Polen und die Balten betrifft, ist die Sache nicht in den Schwierigkeiten mit der EU begründet, sondern darin, dass diese Länder aus Angst vor Russland maximal auf das Sicherheitsproblem fixiert sind. Sie sind völlig überzeugt, dass ihnen nur die USA Sicherheit gewährleisten. Sie trauen den Europäern nicht, weil sie sich immer von ihnen verraten fühlten und einfach auch den militärischen Zustand der EU sehen. Auch glauben sie nicht an die NATO, die ohne die USA nichts vermag. Daher werden sie die USA mit allen Mitteln in die europäische Politik hineinziehen.
- Sie sagen, die Elite der neuen EU-Länder unterscheidet sich mental von den alten. Haben Letztere übersehen, sich darauf vorzubereiten?
- Westeuropa hat das Ausmaß des Einflusses unterschätzt, den die Erweiterung auf Europa ausüben wird. Im Jahr 2003 dachte man: Welchen Anspruch können solche Länder schon erheben, wenn sie ökonomisch so schwach sind, dass sie insgesamt die Wirtschaftsleistung Hollands erbringen? Europa hat sich verschätzt, indem es alles in der Größe des Bruttoinlandsproduktes zu messen versucht hat. Es gibt Dinge, die weitaus beständiger sind und nicht von der Lebensqualität abhängen. Polen verkörpert natürlich das Schlüsselland, weil es relativ groß ist und die Psychologie einer ehemaligen Großmacht aufweist.
- Europa hat sich in emotionaler und Russland in pragmatischer Hinsicht verschätzt?
- Mir scheint, ja. Mehr noch: Natürlich ist Russland ein Schlüsselland. Hätten sich die Beziehungen zwischen der EU und Russland anders entwickelt, würde es auch nicht solche Probleme mit Polen und Balten geben. Und da kommen wir zu einer prinzipiellen Frage, nämlich der Politik des Westens nach dem Fall der Sowjetunion. Eigentlich hätte es zwei Modelle gegeben: erstens, grob gesagt, einen zweiten Marshallplan mit richtig teurer und großflächiger Finanzierung der Reformen. Das andere Modell wäre gewesen, sich nicht einzumischen. Gewählt hat man ein Zwischenmodell mit einer stark beworbenen Finanzhilfe und mit endloser Hinzuziehung von Beratern und Spezialisten. Die Folge davon war, dass die Hilfe ein viel zu geringes Ausmaß aufwies, um ernsthaft Einfluss zu nehmen. Aber sie war zu groß, als das man sie einfach abtun könnte.
- Was bedeutet der Westen für den heutigen Russen?
- Er stellt ein Gemisch aus Gefühlen dar. Die Generation, die schon in der neuen Zeit herangewachsen ist, sieht den Westen anders – was nicht besser heißen muss – als die Sowjetgeneration. Die Jungen denken westlicher, aber so wie vor 300 Jahren. Hierbei handelt es sich um einen harten Rationalismus und Merkantilismus mit Aggressivität, Rücksichtslosigkeit, Individualismus, Gewinndenken und gesellschaftlicher Atomisierung, im Alltag ebenso wie in der Außenpolitik. Ich halte die russische Politik nicht für postimperialistisch, sondern für präimperialistisch: Nach dem Verlust beginnen wir jetzt von Neuem – keine politische, sondern eine ökonomische Expansion. Die russische Politik will aktiv in der Weltpolitik mitmischen, dabei aber keine Verantwortung auf sich nehmen. Russland will Teil der Weltökonomie sein, sich aber nicht an gewisse Regeln binden.
Ich habe das Gefühl, wir leben zwar physisch in einem Land Anfang des 21. Jahrhunderts, weisen aber die Mentalität des 16. Jahrhunderts und ein strategisches Denken wie im 19. Jahrhundert auf, was etwa Geopolitik, Machtallianzen, Multipolarität und Zusammenschlüsse auf Zeit betrifft.
- Und die Ideologie wird von der Religion bestimmt?
- Wovon sonst? Die sozialen Doktrinen bei uns funktionieren nicht. Es gibt sie nicht. Mit dem Zerfall des Kommunismus verschwand die Idee der sozialen Gerechtigkeit. Moderne Ideen der Gesellschaftsordnung – so weit sind wir noch nicht gereift. Die Religion und der Traditionalismus kehren nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt in verschiedenen Formen zurück. Das ist eine Reaktion auf die Globalisierung. Nach Pragmatismus und Marktterminologie kommt nun die Moralisierung hinzu.

- Bleibt der Westen für Russen attraktiv?
- Ja, als Standard eines Lebensniveaus und als Muster einer im Allgemeinen richtigen und effizienten Staatsordnung und eines sozialen Modells. Was das westliche Modell wirklich bedeutet, verstehen nur ganz wenige, denn wir gehen leider wieder zu einer traditionellen Matrix des Paternalismus über. Und wie der westliche Lebensstil aussieht, wissen die meisten nicht, weil sie gar keinen Reisepass fürs Ausland haben. Es herrscht die traditionelle russische Vorstellung, dass im Westen alles besser ist. Die Traditionalisten meinten, dass wir das nicht imitieren, weil wir es ohnehin nicht schaffen. Doch nun überwiegt das Gefühl, dass wir uns selbst genug sind, alles wissen und können und nichts brauchen.
- Achtet man Amerika mehr, weil es entschlussfreudiger ist und mit dem Kopf durch die Wand geht, während Europa diskutiert?
- Natürlich. Wir und Amerika leben in einem ähnlichen System von Vorstellungen. Amerika ist auch ein Land, das vor allem auf Macht und Stärke aus ist – im weiteren Sinn, nicht nur militärisch. Amerika stellt mit seinem Militärbudget von 700 Milliarden Dollar den größten Motor der Militarisierung in der Welt dar. Das verstehen wir. Im Gegensatz dazu verstehen wir all diese europäischen Feinheiten und Details nicht. Amerika, China, Russland – das sind Länder, die in der Welt der wirklichen Realpolitik leben. Wir Russen verstehen, dass wir viel schwächer als Amerika sind, aber wir versuchen das zu kompensieren. Wir wollen handeln wie die Amerikaner und uns auch nur an die Verträge halten, die vorteilhaft sind.
- Die EU-Außengrenze verläuft im Groben an der Trennungslinie zwischen Orthodoxie und Katholizismus.
- Jetzt mit Griechenland und Bulgarien schon weniger. Das Problem der Expansion bildet aber nicht die Orthodoxie, sondern der Islam. Und die EU-Ostgrenze umgibt nicht ein religiöses, sondern ein geopolitisches Problem. Die baltischen Gebiete wollen selbst unsere Revanchisten nicht zurückholen, aber die Ukraine und Weißrussland gelten bei uns als unsere Länder. Wo diese in 50 Jahren stehen werden, kann ich ehrlich gesagt nicht beantworten. Vor zwei Jahren hätte ich gesagt, dass Russlands Grenzen feststehen. Jetzt scheint mir wieder alles möglich, und zwar nicht, weil Russland so stark geworden wäre, sondern weil ich sehe, dass andere Mächte diese Länder nicht aufnehmen können. In Zentralasien haben wir eine andere Situation, denn da spielen natürlich China und der Islam eine wichtige Rolle. Aber nehmen wir Moldawien: Kann durchaus sein, dass es verschwindet, wenn Rumänien jetzt schon in alle Richtungen seine Pässe verteilt. Zur Beibehaltung der Staatlichkeit muss Moldawien mit allen Kräften versuchen, das wirtschaftlich stärkere Transnistrien einzubinden. Wie auch immer, alles geht sehr seltsam und unerwartet vor sich. Ich kann aber nicht völlig ausschließen, dass die europäische Landkarte in 50 Jahren noch so aussehen wird wie jetzt.
Fjodor Lukjanow (40) ist seit 2002 Chefredakteur des in Russisch (zweimonatlich) und Englisch (vierteljährlich) erscheinenden politischen Magazins "Russia in Global Affairs“. Der studierte Germanist und Dolmetscher arbeitete Anfang der 90er Jahre fur den internationalen Moskauer Radiosender "Die Stimme Russlands“. Danach war er Korrespondent fur das internationale Ressort der Zeitungen "Segodnja“ und "Wremja MN“ und stellvertretender Chefredakteur der Zeitung "Wremja Nowostej“. Lukjanow spricht Deutsch, Schwedisch und Englisch.
Das Journal "Russia in Global Affairs“ ist eine Gemeinschaftsgründung des Rates fur Außen- und Verteidigungspolitik, der russischen Industriellen- und Unternehmervereinigung und der Tageszeitung "Izvestija“.

Eduard Steiner arbeitet als Russland-Korrespondent fur die österreichische Tageszeitung "Der Standard“ in Moskau.


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,November 2007
Link:REPORT online - Link:Russia in Global Affairs - Link:der Standard -