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Kommentar von Wolfgang Pauser

Architektur für die Öffentlichkeit

Einen öffentlichen Bau würde ein Jurist eng definieren als Bau, der von einer Gebietskörperschaft oder einer sonstigen juristischen Person des öffentlichen Rechts beauftragt wurde und obrigkeitliche Verwaltung beherbergt. Im Blickfeld des Architekten tauchen andere Fragestellungen auf. Wie verschieben sich gegenwärtig unsere Vorstellung und unsere Realität von Öffentlichkeit? Wie kann Architektur als eine der wesentlichen Erscheinungsformen von Öffentlichkeit auf deren Wandel reagieren?

Der öffentliche Begriff von „Öffentlichkeit“ befindet sich in einer Krise: Während internationale Großunternehmen wie IBM zu gewichtigen weltpolitischen Playern aufsteigen, verliert der Nationalstaat mit seinen Institutionen an Gewicht. Je größer ein Unternehmen ist, desto mehr lässt sich seine zentrale Tätigkeit als Verwaltung beschreiben. Umgekehrt versucht der Staat, seine Verwaltung zu privatisieren oder zumindest einem unternehmerischen Kundenservice ähneln zu lassen. Ökonomische Organisationen werden politisch und agieren mittels „Öffentlichkeitsarbeit“, die Politik ökonomisiert sich und will sich „besser verkaufen“. Sie reduziert sich mehr auf Standort-, Wirtschafts- und parteiliche Selbstvermarktungspolitik. Diese Konvergenz bis hin zur Rollenvertauschung der traditionellen Gegenspieler „öffentliche Verwaltung“ und „privates Wirtschaftssubjekt“ tritt umso deutlicher hervor, als die Medien zum eigentlichen Aktions- und Konkurrenzfeld sowohl der Politik als auch der Konzerne geworden sind.
Öffentlichkeit ist heute primär Medienöffentlichkeit. Für politische wie ökonomische Sys-teme haben Medien ihre Tauglichkeit zur Erzeugung jener traditionellen Sorte Öffentlichkeit, die vom Konzept der Demokratie vorausgesetzt wird, verloren. Seit Medien nicht mehr vom Verkauf der Nachrichten, sondern vom Anbieten eines Werbeumfelds leben und nicht vom Konsumenten, sondern von den Inserenten bezahlt werden, müssen sie zur Sicherung ihres Fortbestandes ihren Inhalt nicht mehr an der Funktion einer Herstellung von Öffentlichkeit, sondern an der Veröffentlichung der kommerziellen Funktion ihrer Herstellung ausrichten. Damit ist jene Sorte von Öffentlichkeit, auf die sich der politische und demokratiemoralische und intellektuelle Diskurs immer noch gerne beruft, zunehmend zur Fiktion geworden. Symptomatisch berufen sich auf „die Öffentlichkeit“ nur noch jene Randgruppen, denen mediale Aufmerksamkeit und Anerkennung am allermeisten fehlt; desgleichen Altfunktionäre in Sonntagsreden, um ihren funktionsschwachen Auftritt selbstlegitimistisch zu unterfüttern. Es gibt – dank Pluralisierung – nur noch Teil--Öffentlichkeiten: Die Menschen rezipieren nicht nur verschiedene Medien, sie interpretieren auch deren Inhalte gemäß zunehmend inkompatibler Codes. Nicht miteinander geteilte Information als Grundlage gemeinsamer, rationaler, diskursiv ermittelter Entscheidung über das Gemeinwohl, sondern die Lust am Vorgang des Medienkonsums einerseits und der Inseraten-Gewinn aus der Medienproduktion andererseits sind die Bestimmungsgrößen jenes postmodernen Kommunikationsszenarios, das die gute alte Öffentlichkeit beerbt hat.
Als Substrat der Demokratie hatte die Öffentlichkeit freilich immer schon einen teilweise fiktionalen Charakter. Mit der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in mehr oder weniger geschlossene Teilsysteme ist dieser bloß verstärkt und verdeutlicht worden. Als Diskursfragment, als Anrufungsformel ihrer selbst, als expressive Selbstthematisierungsgeste ihrer Nachfolgekandidaten existiert Öffentlichkeit jedoch fort. Auch existiert sie fort in Rechtsformen und Institutionen nicht zuletzt in Bauten, die von jedermann betrachtet und betreten werden können: Bildungseinrichtungen. Ministerien. Ämter.
Wenn die Demokratie zumindest den Glauben an die Existenz von Öffentlichkeit zu ihrer fortwährenden Legitimation benötigt und die Medien zur Aufrechterhaltung dieser handlungsleitenden Fiktion immer weniger beitragen können, wächst dann der Architektur als deren Manifestantin und Sichtbarmacherin und Konkretisiererin eine höhere Aufgabe und stärkere Beanspruchung zu? Kann und soll die Gestaltung öffentlicher Bauten die Krise des Konzepts „Öffentlichkeit“ kompensieren oder darstellen, und wenn ja, wie?
Kaum stellt man eine solche Frage, stößt man auch schon auf das Problem, dass der architektonische Typus „öffentlicher Bau“ in einer mindestens ebenso drastischen historischen Krise steckt wie andere Medien von Öffentlichkeit. Nicht nur, wie ein öffentlicher Bau konzipiert wird, sondern auch, wie er ex post interpretiert wird, steht in extremer Abhängigkeit vom Wandel der politischen Formationen und (Selbst-)Auslegungen. Schon eine mittelalterliche Burg sah für Leibeigene eher finster und bedrohlich nach Herrschaftsarchitektur im übelsten Sinne aus, während Ritter und Romantiker sie in freundlicheren Interpretationsrahmen wahrnehmen konnten.
Um die zentrale Bedeutung, die dem Gestaltwandel öffentlicher Bauten in der Geschichte der Gesellschaftsformen zukommt, zu ermessen, muss man sich nur kurz deren Bruchstellen in Erinnerung rufen. So zeigten etwa der Übergang von der Burg zum Schloss und die damit verbundene Entwicklung der Fassade eine neue Herrschaftstechnik nicht nur an, sondern induzierten diese zugleich. Die höfische Fassade war nicht nur Ausdrucksform, sondern auch der Ausgangspunkt der Ersetzung von Gewalt durch Macht. Aus Kriegsarchitektur wurde Überzeugungsarchitektur, der Herrschaftsbau drohte nicht mehr, sondern verführte zur Identifika-tion. Macht, verstanden als aufgeschobene, verstreute, subtilisierte, verdeckte und ästhetisierte Gewalt, konnte durch diese Verschiebung ins Imaginäre an Effektivität gewinnen und „bis in die hintersten Winkel des Reiches“ wirken, ohne ständiger Aktualisierung durch Gewaltakte zu bedürfen. Wie groß der Beitrag des Mediums Architektur zur Herausbildung jenes modernen Subjekts war, das die Herrschaft als vernünftige Selbstbeherrschung verinnerlicht hat, kann man bei Norbert Elias und Michel Foucault nachlesen. Der öffentliche Bau ist – damals wie heute –
Spiegel und Agent kollektiver Selbstauslegung in einer Figur.
Beim Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Öffentlichkeit blieb die Fassade erst einmal erhalten, doch wurde ihr ein ziviler Code eingeschrieben: Die Erfindung der „Nation“ als Konstrukt kollektiver Selbstregierung und Selbstpräsentation geht einher mit der Nutzung der Fassade für die Darstellung von Geschichte. Historismus heißt jener Stil, dessen Formen nicht auf einen Herrscher, sondern auf das Kollektivsubjekt „Volk“ als Träger, Erbe und Produzent seiner eigenen Kultur und Geschichte verweisen.
Man kann den Historismus als Übergangsstufe zwischen der genuin aristokratischen Fassadenarchitektur und jener „Abschaffung der Fassade“ verstehen, die als verspäteter revolutionärer Impuls des Bürgertums dessen demokratische Staatsauffassung mit hoher Deutlichkeit zur Darstellung brachte. Gegen das „Blendwerk“ wurde in der Moderne ein Ethos der Produktion, Funktion, Transparenz und Ersparnis im Medium Bau in Szene gesetzt. Im strengen Rationalismus sollte erscheinen, dass nichts an ihm „bloße“ Erscheinung ist – dies war seine eigene programmatische Verblendung.
Weil ein Baukunstwerk stets auch Stellungnahme zum architekturgeschichtlichen Bestand ist, muss man sich in Erinnerung rufen, dass es neben dem Furor des Fassadenabschlagens (wie auch immer missverständlich und mythologisch mit dem Namen Adolf Loos verbunden) auch einen zweiten Geburtsmythos der modernen Architektur gibt: Für die frühen Expressionisten ging es nicht um die Abschaffung des Ornaments, im Gegenteil: um dessen Totalisierung. Im Zeichen des „Kristalls“ waren Geometrisierung, Glätte, serielle Regelmäßigkeit und proportionale Strukturiertheit Verkünder einer im Kern ästhetischen Sozialutopie.
Die gegenwärtige Repräsentationsarchitektur bedient sich im Bereich öffentlicher Bauten wie Headquarters der gleichen formalen Mittel, die dem frühen Bauhaus meist näher sind als dem späten. Gerade mit der Größe stadtbildprägender Bauwerke wechselt deren geometrische Gestalt vom Register des Funktionalen in das des großen Kristalls als skulpturale Verkörperung eines mathematisch Allgemeinen, das nach allgemeiner Anerkennung heischt. Geometrisierung zielt heute auf das totalisierte Ornament, Mathematik wird Rationalisierung für die bedeutungsschwere Geste des Anspruchs auf Größe schlechthin, auf Erhabenheit im antik-kosmischen Sinne.
Verschieden sind jedoch die Materialien, die dabei im Vordergrund stehen, und die geometrischen Ansätze der Formbildung. Voll verglaste Kuben sind die häufigste und damit auch konventionellste Lösung, Funktionsarchitektur in Riesenkristalle zu transformieren. Als kultureller Gegenspieler des Glases gilt der Stein: Max Dudler beispielsweise hat sich ganz diesem Material verschrieben und weiß es beim Zürcher IBM-Gebäude ebenso zum majestätischen Monolithen zu türmen wie im Falle des Berliner Verkehrsministeriums. Mit dem Gegensatz und der Verknüpfung von Glas und Stein spielt Erick van Egeraat beim ING & NNH-Bürogebäude in Budapest.
Auf ganz andere Weise erinnern die aus dem Dekonstruktivismus entwickelten Bauformen an das „kristalline“ frühe Bauhaus und die „Gläserne Kette“ – wenn etwa Dominique Perrault in Sankt Petersburg das Mariinski-Theater in eine facettierte Hülle packt oder Erick van Ege-raat das ING-Hauptquartier in Budapest wie eine organisch gewachsene Schichtung formt, die näher bei Finsterlin angesiedelt ist und eine Geometrie des Wucherns in Szene setzt. Allen gemeinsam jedoch ist der Rückgriff auf „die große Form“ als formale Gesetzmäßigkeit, die dem Bau Gestalt und Struktur gibt, mal fest gefügt, mal im Sinnbild einer Entwicklungsdynamik.
Ob in Glas oder Stein, was dank Raster und Geometrie auf den ersten Blick wie ein rationalistischer „Zweckbau“ aussieht, verwirrt sogleich durch die evozierten Gefühle von Pracht, Erhabenheit, Größe, Skulpturalität und Schaulust. In Deutschland waren solche Gefühle – und überhaupt Gefühle – in Verbindung mit staatstragender Architektur lange und aus historischen Gründen tabu. Vernünftige Verwaltung musste sich im Mangel jedweden ästhetischen Überschusses präsentieren, um nicht in den Verdacht zu geraten, zu repräsentieren. Freilich ist auch ein „rein rational“ konzipierter Bau nichts anderes als die Verkörperung einer Utopie. Denn es ist eine Utopie, dass man das Imaginäre einfach abschaffen könnte. Man kann es nur dementieren.
Kommen wir auf das Beispiel Max Dudler zurück: So sehr beeindrucken seine öffentlichen Bauten durch ihre ästhetischen Qualitäten, durch ihr Hervorkehren von Form, dass sie sich immer wieder öffentlichen Debatten und Verdächtigungen ausgesetzt sehen, als Wiederbeleber einer Repräsentationsarchitektur zu fungieren. Doch was könnten sie repräsentieren? Was könnte man sehen, wenn man „hinter die Fassaden“ blicken würde, was wäre das Imaginäre, was die Identität jener Öffentlichkeit, die in ihnen zur öffentlichen Erscheinung kommt?
Zieht man neuere Theorien zum Thema Öffentlichkeitswandel zu Rate, beschreiben diese die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in geschlossene autopoetische Teilsysteme, die füreinander Umwelt sind. Politik, Wissenschaft, Medien, Kunst sind Beispiele für derartige Systeme, die ihre jeweils eigenen Regeln ausbilden. Für das System Kunst etwa ist die Anzahl der zustimmenden Personen nicht relevant, für das System Politik ist in Demokratien diese Anzahl höchst relevant. Über diesen Teilsystemen gibt es kein wie immer geartetes höheres, größeres Ganzes, keinen Weltgeist (schon gar keine guten), keine progressiv anwachsende Vernunft, keine evolutive Bestimmung. Kein Heil außer im Detail. Alles entzaubert, doch die Teilsysteme halten sich durch interne Bezauberung: Die Diskurse, in denen sie über sich selbst kommunizieren, müssen für die Teilnehmer daran verbindlich bedeutend erscheinen.
In diesen gegenwärtigen Szenarien von Öffentlichkeit könnte Architektur nicht einmal, wenn sie wollte, den Sitz der Macht repräsentieren – der Platz des Steuermanns ist leer; weder Götter, Helden, Volksgeister noch Vernunftankündigungen lassen sich an seiner Stelle ausmachen. Wollte Architektur eine Konzeption von Öffentlichkeit ausdrücken, wäre sie auf Kandidaten angewiesen, die längst in der Mottenkiste der politischen Ideengeschichte abgelegt sind.
Derlei Nostalgie gegenüber den abgedankten und deshalb umso permanenter und penetranter beschworenen Öffentlichkeitsfiktionen weicht Dudler ebenso geschickt aus wie jene seiner Kollegen, die mit dem Sinnüberschuss großvolumiger Geometrisierung Kapital oder Macht im Urbanen zur Schau stellen. Solche öffentlichen Bauten re-präsentieren nichts und niemanden, sie präsentieren: Architektur. Architektur, der es um Architektur geht. Wenn geometrisierende Architektur sich selbst das Wichtigste ist, demonstriert sie mit dieser Geste zugleich jene Wahrheit über die gegenwärtige Verfasstheit von Öffentlichkeit, die in der funktionalen Ausdifferenzierung ihrer Teilsysteme besteht (oder zumindest sich selbst so versteht und sich entsprechend verhält).
Die markantesten unter den heutigen öffentlichen Bauten sind nicht Bauten, die von -Öffentlichkeit erzählen, sondern sie erzählen öffentlich über das Thema Bau. Die Figur der Selbstreferenz, der Selbstthematisierung zeigen sie, indem sie ihr Gebautsein, Geformtsein, Gewolltsein in den Vordergrund rücken. Fraktal sich selbst eingeschrieben sind nicht nur die Raster den Rastern, die Formen den Formen: Was in diesen Architekturen forciert wird, ist das Architektonische schlechthin. Stein. Block. Struktur. Glas. Volumen. Grenze. Bestimmung. Form. Form. Form. Eine archaische Tektonik, ein Monolith in Explosionszeichnung, bewohnt von Geist-Luft und Licht-Helle, Geometrie und Ruhe.
Die Bauten zitieren oft den Funktionalismus, transferieren jedoch seine Formen ins Ornamentale und Skulpturale. Umgekehrt wirken sie rein ästhetisch, als nahezu sakrale Selbstdarsteller, ohne dabei in ihrer realen Funktionalität den geringsten Schaden zu nehmen.
Die öffentlichen Bauten der Gegenwart, ob Konzernzentralen oder Ministerien, sind oftmals gleichsam Tempelarchitekturen der Vernunft, in denen das Reale und das Imaginäre von Öffentlichkeit gut zusammenleben können, weil sie in ihrer Differenz stets kenntlich bleiben. Die großen Geometrisierungen zeigen pointiert ihre Gebautheit und verweisen damit auf das Bezugssystem Architektur. Verwaltung von Geld oder Macht waltet darin ihres Amtes, sonst nichts. Der Geist der Verwaltung muss nicht mehr die Architektur prägen und die Architektur muss nicht mehr die Verwaltung mystifizieren. Fortschritt besteht schließlich nicht in einer Zunahme von Identifizierung, sondern von Differenz.



Wolfgang Pauser, geboren 1964 in Wien, studierte Philosophie, Kunstgeschichte und, Rechtswissenschaft. Seit 1992 ist er freiberuflicher Essayist mit den Themenschwerpunkten Konsum- und Alltagskultur sowie bildende Kunst, Design und Architektur.

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,November 2008
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