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Kommentar von Antje Mayer

Weltwunder auf der EXPO

Die österreichische Künstlergruppe Gelatin

Die auf die EXPO pilgernde Masse fehlt noch. Alle warten auf das Wunder: 150 000 Besucher täglich, wenigstens funktionstüchtige Drehkreuze und bestenfalls positive Mundpropaganda. Indes: kein Wunder in Sicht. Zum Trost ein anderes ist schon da: das Weltwunder. Und wenn es so etwas wie Menschenauflauf auf der EXPO überhaupt zur Zeit gibt, dann angeblich dort: Von außen sieht es gänzlich unspektakulär aus, das Weltwunder: ein Loch, ein einfaches, vulgäres Wasserloch.

Seiner Kleider entledigt kann der Besucher dort fünf Meter tief hineintauchen. Unten wartet nicht der Hades, sondern eine Kammer zum Atmen. Erbauer des Weltwunders ist die junge, österreichische Künstlergruppe Gelatin, die im Rahmen des EXPO- Kunstprojektes „In Between“ vom Kurator Kasper König und Manager Martin Fritz nach Hannover eingeladen wurde. International bekannt wurden die Vier, Ali Janka, Wolfgang Gantner, Florian Reither und Tobias Urban, nicht etwa in der Heimat, sondern erst so richtig in den USA. Ihr Markenzeichen, diese amüsante Mischung aus Performance, Kunst am Bau und Erlebnispark wurde jenseits des Atlantiks unbefangener aufgenommen als hierzulande, wo künstlerische Leichtigkeit nach wie vor mit Oberflächlichkeit gleichgesetzt wird. Den Namen „Boygroup der Kunst“ brachten ihnen solche spektakulären Aktionen wie der „Human Elevator“ in Los Angeles ein. Ein menschlicher Aufzug aus bodygestylten Kraftpaketen hievte die Gäste ausschließlich mit Muskelkraft in nur wenigen Sekunden einen mehrere Meter hohen Turm hoch. Zur Zeit baut das Künstlerteam im niederösterreichischen Staatz einen „Schlürfbrunnen“ am Dorfplatz. Um ein glucksendes Wasserloch sollen die parkenden Autos wie eine Kuhherde beim Trinken stehen. Und im Sprengel Museum Hannover wird der Besucher bei der Ausstellung „Aller Anfang ist Merz“ (20. August bis 5. November 2000) durch eine Selbstschuß-Golfball-Anlage das Fürchten gelehrt.

„Unsere Arbeiten sind immer Ergebnis unserer eigenen Sehnsüchte," so Wolfgang Gantner, einer der vier Gelatiner. “Als wir hier in Hannover das EXPO-Gelände gesehen haben und den ganzen Trubel, der veranstaltet wird, war es da, das Verlangen ‘abzutauchen’.“ Was unten in der geheimnisvollen Lufthol-Grotte des Weltwunders zu sehen sei, will die Gruppe Gelatin nicht verraten. Weltwunder seien eben durch mündliche Überlieferung des Erlebten erst zu Wundern geworden. Beim Wasserloch sei man sozusagen kurz davor. Ein Fernsehteam des NDR wäre schon mit einer eigenen Tauchertruppe angereist. Man vermutete das Walross Antje jenseits der Wasseroberfläche. Ein Familienvater sei mutig vor seinen Kindern in die Fluten gehüpft. Wieder an der Oberfläche angelangt, habe er sich bitterlich beschwert: jeder Showeffekt fehle und es zahle sich nicht im mindesten aus.

Wie auch immer: während oben die EXPO mit multimedialem Firlefanz um die Aufmerksamkeit der Besucher buhlt, wird das Wasserloch mit einem einfachen Trick zum Weltwunder: durch Mysterium. Wasser, tiefes, so kann man schon bei C. G. Jung nachlesen sind Archetypen unserer Angst. Wolfgang Ganter von Gelatin will das nicht hören: „Nein, wir spielen nicht mit Urängsten, sondern mit Sehnsüchten. Unsere Sachen sind angenehm. Deswegen wurde uns am Anfang immer vorgeworfen, wir würden Spaßkultur produzieren. Für uns ist das aber immer eine ernste Sache.“



erschienen in Kunstzeitung 09/00,S.14