Aktuell *Ost Über Uns Archiv Impressum English




Kommentar von Franz Küberl

„Die Schwächsten zurücklassen, um schneller voranzukommen?“

Ein Kommentar von Franz Küberl, Präsident von Caritas Österreich

Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz hat einmal gesagt: „Wachstum bedeutet nicht automatisch, dass jeder davon einen Vorteil hat. Es ist ja auch nicht korrekt, davon auszugehen, dass alle Boote im Wasser mit der Flut steigen werden. Sehr oft, wenn das Wasser sehr schnell steigt, insbesondere bei schlechtem Wetter, werden die schwächsten Boote auf die Felsen geschleudert und zerschellen.“ Die jüngste Erweiterungsrunde der Europäischen Union hat uns allen vor Augen geführt, welchen enormen Herausforderungen sich die zentraleuropäischen Länder gegenüber sehen.

Zu den wichtigsten Fragen zählen die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der zentraleuropäischen Länder in den kommenden Jahren. Gerade in einer Phase so großer Umbrüche und Entwicklungsschübe, die eine enorme Chance für große Teile der Bevölkerung bedeuten, müssen wir besonders aufmerksam auf die schwächsten und verwundbarsten Mitglieder unserer Gesellschaft achten.

Die Erweiterung der EU stellt die größte Herausforderung an das europäische Sozialmodell seit der Gründung der EU dar. Die Grundwerte von Gleichberechtigung und Integration aller Bürger in die Gesellschaft und die Leitprinzipien von Gerechtigkeit und Solidarität werden einer starken Belastungsprobe ausgesetzt werden. Die Versuchung ist groß, auf einem anstrengenden Weg die Schwächsten zurückzulassen, um schneller voranzukommen.

Doch die Versuchung ist trügerisch. Es ist ja nicht unähnlich dem Bergsteigen. Natürlich ist der Langsamste in der Gruppe immer lästig und bremsend für die Schnelleren, aber auch hier gebietet der Ehrenkodex, niemanden zurückzulassen. Aber selbst wenn man sich entscheiden würde, den Langsamsten zurückzulassen, gäbe es sofort wieder einen neuen Langsamsten und das grausame Spiel würde sich wiederholen, bis zum Schluss nur noch der Schnellste übrig bliebe. – Das ist wohl auch keine sehr lohnende Perspektive. Abgesehen von der offenen Frage: Wer sichert dann beim Abstieg, der ja auch einmal kommt.

Das heißt, die zentrale Frage, vor der wir stehen, ist: Wie können wir möglichst allen Menschen gesellschaftliche Anschlussfähigkeit erhalten? Oder noch dramatischer - und das trifft - ich erinnere an die Frage der Roma - auf einige Beitrittsländer sehr dramatisch zu: Wie können wir ausgegrenzten Gruppen eine Perspektive im Neuen Europa geben? Ich halte diese Frage für alternativenlos. Das oben skizzierte Beispiel zeigt: Beginnen wir mit der Ausgrenzungsspirale, geben wir Personen und Personengruppen auf, gibt es kaum mehr ein Zurück.

Die Gesellschaft wird von den Rändern her brüchig. Die Grenzen, die wohl für niemanden mehr klar auszumachen sind, verschieben sich in Richtung der auch politisch fokussierten Mitte und immer mehr Menschen finden sich „draußen vor der Tür“ wieder, ohne dass sie bemerkt hätten, wann sie den „gesellschaftlichen Raum“ verlassen haben. Die Frage des Drinnen und Draußen spiegelt sich auch in der sozialpolitischen Diskussion wieder: Gut abgesicherten und gut vertretenen Gruppen stehen Gruppen gegenüber, die nur mangelhaft abgesichert sind und die in der politischen Diskussion keine Stimme haben. Flüchtlinge und Migranten, Alleinerzieher, Arbeitslose, Kinder haben im Vergleich zu vollständigen Familien, gewerkschaftlich organisierten Erwerbstätigen und Pensionisten keine starken Lobbys. Wie die Armutsdaten im Sozialbericht zeigen, sind es aber genau jene Gruppen, die die stärksten Lobbys bräuchten, um vom Rand wieder in die Mitte zu kommen.

Es liegt an uns allen, gemeinsam ein Gegenbild zum Europa der sozialen Extreme aufzubauen. Dabei bedarf es nicht nur der Anstrengung von staatlichen Institutionen und Sozialorganisationen wie der Caritas, sondern vermehrt auch der aktiven Unterstützung durch engagierte Unternehmer bzw. Unternehmen. Sie prägen das soziale Klima einer Gesellschaft über ihre unterschiedlichen Rollen z. B. als Arbeitgeber, Produzenten von Waren und Leistungen und politische Akteure im Rahmen der Sozialpartnerschaft. Ein sozial ausgewogenes und stabiles Europa wird nur unter der gemeinsamen Anstrengung von Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft gelingen. Unternehmen werden sich vermehrt dieser Verantwortung stellen müssen, ein reines Beschränken auf kurzfristigen Unternehmensgewinn und Aktienkurs wird nicht mehr ausreichen.

Einige Unternehmen haben die Zeichen der Zeit bereits erkannt und die eigenen Ziele um gesellschaftliche Zielsetzungen erweitert. Sie haben erkannt, dass sie nur dann erfolgreich sein können, wenn möglichst alle Boote mit der Flut steigen. Wenn ihr Wachstum nicht auf Kosten der sozialen Ausgewogenheit und Stabilität der Gesellschaft geht, sondern dieses unterstützt und fördert.



erschienen im "Magazin für Kontakt d. Erste Bank Group", issue3
Magazin, Issue3 - Caritas -