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Kommentar von Dr. Eva Glawischnig, Sabine Breitwieser, Mag. Christian Domany, Helena Koenigsmarková, Konrad Paul Liessmann, Ivan Mečl, Alexander Nikolic

Zehn neue Länder in der EU. Ändert sich etwas?

(1) D r. E v a G l a w i s c h n i g, stellvertretende Bundessprecherin der Grünen Österreich und Stellvertretende Klubobfrau der Grünen im Parlament;

"Eine kulturelle Identität existiert in Europa noch nicht"

Die Erweiterung der EU bietet die Chance zur Überwindung der Spaltung Europas, zur Überwindung des Nationalismus und der Trennung zwischen einem reichen und einem armen Europa. Die EU-Erweiterung sollte den Anstoß zu einer Vertiefung der Europäischen Integration unter voller Beachtung der Demokratie und der Menschenrechte geben. Sie kann aber nur gelingen, wenn sie auch ein soziales Projekt ist und wenn sie auf einem ökologischen Fundament steht. Kunst und Kultur könnten zur Überwindung des Nationalismus beitragen, sie haben aber innerhalb der EU leider noch einen zu geringen Stellenwert. Und auch wenn zumindest die Bürger vereint waren in ihrer Ablehnung des Irakkrieges, so existiert doch noch keine gemeinsame Identität.

Karl-Markus Gauß hat das in der Europäischen Rundschau in seinem Essay „Zwei Europa, vereint im Ressentiment“ richtig erkannt: „Von Osterweiterung könnte rechtens nur gesprochen werden, wenn der Osten die gemeinsame Union mit seiner Vielfalt an regionalen, religiösen, ethnischen Unterschieden, mit seinen widersprüchlichen historischen Erfahrungen, mit seiner unter anderen Verhältnissen ausgebildeten Lebenskunst erweitert und bereichert. Dazu bräuchte es den Willen aus zwei Seiten: im Westen und im Osten.“ (Europäische Rundschau, Nr.32, 1/2004, „Zwei Europa, vereint im Ressentiment“, Karl-Markus Gauß, S. 133–137)

(2) S a b i n e B r e i t w i e s e r, seit 1991 Leiterin der Generali Foundation in Wien, Herausgeberin und Autorin;

„Die in Osteuropa lebenden Menschen sind mobiler und vernetzter geworden“
Die Generali Foundation hat bereits 1999 mit der Ausstellung „Translocation“ die Situation in Zentralosteuropa thematisiert. Für die Kunst dieser Region und ihre ökonomischen Notwendigkeiten ist es erfreulich, mit Künstlern, Kuratoren und Medien aus Westeuropa in Kontakt zu kommen. Gleichzeitig ist es interessant, zu beobachten, dass Kunst aus den osteuropäischen Ländern endlich auch im Westen aufgenommen und ernst genommen wird. Es wäre dabei aber dringend darauf zu achten, nicht einer Art „Exotenbonus“ in der osteuropäischen Kunstrezeption und -produktion aufzusitzen. Ich halte es für eine riskante Angelegenheit, wenn, einer durchaus gängigen Praxis zufolge, westliche Kuratoren mit „westlichem Blick“ in den Osten fahren, um dort „Ostkunst“ zu sammeln und so einer Homogenisierung Vorschub zu leisten. Diese Problematik könnte durch einen verstärkten Austausch mit Künstlern, Kuratoren und Veranstaltern vor Ort und eine nachhaltige Integration umgangen werden. Die in Osteuropa lebenden Menschen und somit deren Produktionen, d. h. auch die Kunst, sind mobiler und vernetzter geworden, der Informationsfluss läuft besser – was auch dringend notwendig ist, da für mich Kunst immer schon global agiert hat.

(3) M a g . C h r i s t i a n D o m a n y, Generalsekretär der Wirtschaftskammer Österreich;

„Mit Optimismus in die Zukunft“

Die am 1. Mai 2004 Realität werdende EU-Erweiterung ist ein historischer Meilenstein in der Geschichte der Europäischen Integration. Sie dokumentiert auf politischer Ebene die endgültige Überwindung der Teilung Europas. Insbesondere die an der bisherigen „toten" Grenze liegenden Staaten Deutschland und Österreich konnten dabei die Handels- und Investitionsbeziehungen besonders intensivieren. Es darf ohne Übertreibung behauptet werden, dass die Wirtschaft als Motor und Brückenfunktion der Europäischen Einigung fungiert hat.

Nie zuvor in der Geschichte der Union wurden mehr als drei Staaten gleichzeitig aufgenommen, in der Erweiterungsrunde 2004 sind es zehn neue Mitglieder. Acht der zehn Staaten gehörten noch vor knapp fünfzehn Jahren einem komplett anderen politischen System an und mussten nach dem Zusammenbruch des Handels mit der Sowjetunion/Russland ihr politisches System, ihre Wirtschaft und den Außenhandel komplett umstrukturieren.

Dass die Beitrittsländer in kultureller, politischer und sozialer Hinsicht zur „europäischen Familie" gehören, ist unbestritten. Man denke beispielsweise nur an Komponisten wie Liszt, Bartók, Smetana, Dvoøák, die das europäische Musikerbe bereichert haben, man schaue sich die nun wieder größtenteils renovierten Städte an, nicht zu reden vom literarischen Vermächtnis der vergangenen Jahrhunderte. Unter diesem Gesichtspunkt war die Ära des Kommunismus eine vorübergehende Episode, die allerdings wirtschaftlich diesem Teil des Kontinents sehr geschadet hat. Dementsprechend hoch ist der Preis des Aufholprozesses – nicht nur im Umwelt-, Infrastruktur- und Energiebereich, sondern vor allem im gesellschaftlichen und sozialen Sinne. Arbeitslosenraten, die teilweise im zweistelligen Bereich liegen, sowie wachsende Inflationsraten belasten nicht nur das soziale Klima in diesen Staaten.

Es ist aber gerade die Integration dieser Staaten in die EU sowie im sicherheitspolitischen Bereich in die NATO, die eine neue Aufbruchsstimmung bewirkt hat. Die Menschen sehen nicht nur durch die Investitionstätigkeit ausländischer Firmen, durch die EU-Förderungen und andere Anpassungsprozesse wieder „ein Licht am Ende des Tunnels", ja, teilweise herrschen sogar überzogene Erwartungen, die nicht erfüllbar sind. Dennoch darf mit Optimismus in die Zukunft geblickt werden – ich wünsche den neuen Beitrittsländern jene Dynamik und Schwung im Aufholprozess, wie sie z. B. Irland als Mitglied entwickelt hat.

(4) H e l e n a K o e n i g s m a r k o v á, Direktorin des Museums für Angewandte Kunst in Prag;

„Wir werden uns ins eigene Gesicht schauen“

Durch den Beitritt zur EU wird sich die Identität der Tschechischen Republik nicht verändern, vielmehr können wir nun unseren Beitrag zu Europa leisten und das nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern vor allem auch über die Kultur. Für mich persönlich ist der 1. Mai ein Freudentag, gerade weil ich im alten und im neuen System gelebt und gearbeitet habe. Dennoch gibt es in unserem Land immer noch „Menschen des alten Regimes“, auch aus meiner Generation, die lieber mit den alten Grenzen leben würden. An ihnen konnten sie sich kulturell und politisch orientieren, die waren sie gewohnt, nun fällt dieses Leitsystem weg. Der Schock des Umbruchs hängt heute noch mehr Menschen in den Knochen als man denkt.
Für die jüngere Generation von tschechischen Künstlern ist die EU-Erweiterung eine große Chance, international zu reüssieren und ihre Arbeiten endlich auch zu verkaufen. Das entzieht die heimische Politik nicht der Verantwortung, ein Bekenntnis zur Kunst und Kultur zu formulieren. Ein solches ist in Tschechien, zur großen Enttäuschung vieler Kulturschaffenden, bisher nicht erfolgt, genauso wenig wie eine qualitativ hochwertige Auseinandersetzung mit unserer eigenen Geschichte. Dahin gehend rechne ich nach dem Beitritt mit neuen Impulsen. Die Anderen lassen dich für gewöhnlich dich selbst erkennen. Wir werden lernen, „uns ins eigene Gesicht zu schauen“. Ganz pragmatisch hoffe ich, dass sich mit dem Beitritt die Zollformalitäten für den Transport von Kunstwerken leichter abwickeln lassen werden. Indes: Ich habe nicht viel Hoffnung. Wir werden nicht weniger, sondern nur andere Papiere ausfüllen müssen.

(5) K o n r a d P a u l L i e s s m a n n, Professor am Insitut für Philosophie der Universität Wien, seit 1996 wissenschaftlicher Leiter des „Philosophicum Lech“;

Ich bin von dem politischen Großexperiment „Europa“ fasziniert. In historischen Dimensionen betrachtet, steht uns ein weiterer Schritt in der Verwirklichung einer Utopie bevor, die seit dem 17. Jahrhundert immer wieder angedacht wurde: die Einheit Europas. Allerdings: Während man sich auf ökonomischer Ebene relativ rasch einigen konnte – freier Waren- und Kapital-, mit Verzögerungen auch freier Personenverkehr –, wird meiner Ansicht nach die politische, soziale und historische Dimension in den offiziellen Stellungnahmen noch weitgehend ausgeklammert. Eine Art Staatenbund ist sicher vorstellbar, hingegen bleiben die „Vereinigten Staaten von Europa“ wohl weiterhin Illusion.
Ich sehe auf politischer Ebene definitiv Handlungsbedarf, eine gemeinsame politische Willensbildung halte ich für schwach ausgeprägt. Von der politischen Integrationskraft der Völker Europas wird es aber abhängen, ob aus der EU mehr wird als ein ökonomisches Schönwetterprojekt. Natürlich ist die Grundstimmung gegenwärtig euphorisch, darüber darf man aber die Fragen und Konfliktpotenziale nicht vergessen, die das größere Europa für uns bereithalten wird. Schließlich haben wir es mit höchst unterschiedlichen politischen Entwicklungen, höchst differenten historischen Erfahrungen und einer Vielfalt von Kulturen, Religionen und Sprachen zu tun.
Und man darf nicht vergessen, dass nach dem Ende des Kommunismus in Ostmitteleuropa nicht nur der Kapitalismus, sondern auch der Nationalismus triumphierten. Wichtig wird auch sein, ob wir unsere bislang eindeutige kulturelle Westorientierung lockern können und etwa die Literaturlandschaften die neuen Mitgliedsländer nicht nur in der Stunde des Beitritts, sondern langfristig als entscheidendes Moment einer europäischen Kultur entdecken. Was die politische Dimension betrifft, muss uns klar sein, dass mit der größeren Union ein prosperierender Wirtschafts- und Lebensraum mit mehr als 400 Millionen Menschen entsteht, in diessen Sog sich natürlich die Macht- und Verteilungsfragen neu stellen werden. Europa wird, ob es will oder nicht, zu einem internationalen Machtfaktor werden, noch dazu zu einem, der über Atomwaffen verfügt. Zentral werden sich in naher Zukunft daraus vielleicht zwei politische Fragen stellen: Wie sehr gelingt es, in der Binnenpolitik den Nationalismus und die Interessen der Nationalstaaten zu domestizieren? Und: Wo liegen mittelfristig die Außengrenzen der Union und wie sollen wir sie gestalten?

(6) I v a n M e č l, Kurator und Herausgeber des tschechischen Kunstmagazins Umělec, Prag;

„Für mich ist die EU eine Phrase“

Es wird sich durch den Beitritt nichts für die Kunstszenen der neuen EU-Länder ändern. Nur eines möglicherweise: Man kommt nun leichter an Subventionen und Stipendien heran. Der Kunstmarkt liegt in Tschechien, wie im Übrigen in den anderen Beitrittsländern des ehemaligen Ostblocks auch, seit Jahren quasi brach, weil es keine privaten Sammler und Käufer gibt. Das wird sich auch nach dem Beitritt zur EU nicht merklich ändern. Genauso wenig, wie der künstlerische Austausch der Beitrittsländer untereinander wesentlich reger werden wird. Auch hier fehlt schlichtweg das Geld. So bleibt uns nichts anderes übrig, als weiterhin Richtung Westen zu schielen. Nicht, dass das die Kulturschaffenden anstreben würden. Das ist reine Überlebensstrategie. Für mich ist die EU eine Phrase. Letztlich sind wir, sprechen wir es aus, doch gezwungen, sie zu akzeptieren. Ein politisches, vor allem aber wirtschaftlich, also pragmatisch orientiertes Konstrukt, das gerade dadurch die Gefahr in sich birgt, sich rüde, sprich: unsensibel zu entwickeln. Wir Tschechen haben schon lange vor der EU die Idee Europas gelebt, zwischendrin zu Zeiten des Nationalsozialismus und des Kommunismus zugegebenermaßen etwas gestresst. Aber für uns ist der Beitritt nun keine große neue kulturelle Erfahrung.

(7) A l e x a n d e r N i k o l i c, Künstler und Kurator, lebt und arbeitet in Wien und Belgrad;

„Lieber kurz ineinander als ewig nebeneinander“

Für mich ist die Europäische Union ein Konstrukt, das durch große Schlagwörter geprägt und definiert ist. Ein Glaubensbekenntnis zum gemeinsamen Euro und zu einer vereinten Konsumentenidentität. Der Idealismus reicht bis in jedes persönliche Geldbörsel hinein. Von daher kulturell und sozial ein weit reichendes, folgenschweres Konzept. Ich genieße es zwar, mich in Europa frei bewegen zu können, sehe aber auch die andere Seite der Medaille: Die Idee einer Union beinhaltet implizit auch ein „Draußen“, das wir ausschließen. Die nationalen Grenzen existieren zwar nicht mehr, werden jedoch letztlich durch neue ersetzt. Machen wir uns nichts vor: Es gibt, trotz EU-Erweiterung, nach wie vor ein „Drinnen“ und ein „Draußen“, aber kein „Gleich“.
Die Grenzen meines ganz persönlichen gelebten Europas enden übrigens an der Schwelle der Haustüre meines Elternhauses. Draußen spricht man Deutsch, drinnen Serbokroatisch. Das sind die realen kulturellen Grenzen heute, die auch die neuen politischen und wirtschaftlichen so schnell nicht beeinflussen werden können. Und da ich im Übrigen finde, dass es der Europäischen Union viel zu sehr an Sinnlichkeit fehlt, habe ich, sozusagen als Gegenkonzept, meine eigene EU, die „L´union eurotique“, gegründet. Sie kommt ohne Grenzen, Militär und Euro aus. Ihr Motto: Lieber kurz ineinander als ewig nebeneinander.