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Kommentar von Bernhard Wolf

Das europäische Unterbewusstsein

Odessa 13. August 2000

Irgendwo habe ich den Gedanken aufgeschnappt, Russland könne man sich am besten als europäisches Unterbewußtsein vorstellen. Dieses Modell war mir immer sehr symphatisch, illustriert es doch schoen die jahrhundertlange eigenartige Anziehung zwischen Westeuropa und Russland...
Irgendwo habe ich den Gedanken aufgeschnappt, Russland könne man sich am besten als europäisches Unterbewußtsein vorstellen. Dieses Modell war mir immer sehr symphatisch, illustriert es doch schoen die jahrhundertlange eigenartige Anziehung zwischen Westeuropa und Russland. Die gesellschaftlichen Fundamente beider Hemissphaeren sind spürbar gemeinsame, die Lebenspraxis driftet jedoch oft bis zur völligen Unverständlichkeit auseinander. Das Bild ist ansprechend: eine kulturelle Persönlichkeit, im westlichen Oberstübchen führt der drastische Einsatz von ratio zu Rekordergebnissen bei den Bruttoinlandsprodukten und zu sauberen Toiletten, während das östliche Unterbewußtsein sich mit Hilfe von Intuition und Improvisation in einem endlos weiten Gebiet mehr oder weniger zurechtfindet, seine Lebenstechnik aus oft diffusen mentalen Konzeptionen und den Einfluessen angrenzender Kulturpotentiale schöpft.
Waehrend das Oberstübchen gut überschaubar bleibt - vielleicht ein wenig überfönt im Gesamtbild, herrscht im Unterstübchen leicht beunruhigende Weite, die aber auch sehr entspannend wirken kann. Offensichtlich herrscht der allgemeine Konsens, dass man einander irgenwie braucht - der Konversationston schwankt zwischen respektabler Bewunderung und groben Misstönen.

Für mich hat sich dieses Bild erstmals vollständig materialisiert, die Stadt dazu heisst Odessa.

Heisser Sommer am Meer, Nacht, leicht angeknackste Bauten im Stil der italienischen Klassik, lange Platanenalleen, ein lauer Wind - so und nicht anders stelle ich mir einen Spaziergang durch das europäische Unterbewußtsein vor.

Das Wichtigste: spärliche Straßenbeleuchtung - man geht gerne, stolpert ein wenig, die im Halbdunkeln verbleibenden Gehsteige werden von vorbeifahrenden Autos kurz ausgeleuchtet, das Gleichgewichtssystem schaltet auf Autopilot, in den Hauseingängen ziehen allegorische Szenen aus dem ganzen Menscheitsfundus vorbei, in den beleuchteten Fixpunkten der Stadt werden rund um die Uhr Spirituosen transzendentaler Gangart angeboten. Den Haupteingang zum Unterbewußtsein haben wir auch gefunden. Er ist anscheinend von David Lynch selbst entworfen und führt zum staatlichen "Lermontov Sanatorium". Was die Discobewegung im Oberstübchen mit unterschiedlichem Erfolg zu erreichen versucht, bietet Odessa während eines Nachtspazierganges ohne große Anstrengung mit links.

Wie sagt man so schön in Odessa : Du bist ja nicht ganz richtig im Oberstübchen. Wir fordern Odessa auf Krankenschein.