Aktuell *Ost Über Uns Archiv Impressum English




Kommentar von Drago Jančar

Anleitung für einen Besucher

Wenn Sie der Weg einmal an die Küste Istriens führt, genauer: in das alte Städtchen Piran, noch genauer: an die steinerne Spitze der Stadt, die weit ins Meer hinausragt, dann seien Sie zur Abendstunde aufmerksam, verlieren Sie sich nicht an das Blendwerk der Farben, die von der im Meer versinkenden Sonne unter die Wolken gespritzt werden.
Strengen Sie die Augen an, vielleicht werden Sie in dem schmalen Spalt zwischen Wasser und Wolken Schatten wahrnehmen, die hin und herhuschen, die über der hellen Meeresfläche, dem glühenden Himmel zu Ihnen herfliegen, über Ihren Kopf hinweg und ins Innere des Landes, in seine Alpentäler und zur anderen Seite hinunter bis in die Ebenen Pannoniens.

Das sind die melancholischen Teufel. Sie brauchen sie nicht zu kennen, Sie können sich mit den Fremdenverkehrsprospekten zufriedengeben, die Sie glauben machen wollen, Sie befänden sich „auf der Sonnenseite der Alpen“, in einem alten europäischen Land, in einem Land europäischer Prosperität, des Barock, guten Weines und freundlicher und fröhlicher Menschen. Falls Sie sie aber sehen, die Schatten, die über den Himmel fliegen und geschickt den dicht gesäten Kirchtürmen auf Hügeln, Bergen und in den Ebenen ausweichen, dann sollten Sie wissen, dass die eigentliche Heimat der melancholischen Teufel dort ist. Dort in den Alpenbecken sind sie daheim, morgens fliegen sie hinab zum Meer, und abends kehren sie ins Oberland zurück, sie leben in Baumkronen und Felsgebirgen, in Dorfgasthäusern und auf den sonntäglichen Straßen leerer Städte.
So sonntäglich leer, dass der Dichter Tomaž Šalamun von ihnen schreibt, in ihnen und in der Landschaft gebe es nichts, das habe seine Großmutter zu ihm gesagt, als der Dichter noch ein Kind war und in Wien den Zug bestieg, seine Großmutter habe zu ihm gesagt, dazwischen ist nichts, schlaft bis Triest, Kinder, denn zwischen Wien und Triest ist nichts. Oder nur etwas sehr Kleines, wie Milan Kundera sagt, Slowenien ist so klein, schreibt er, dass alle Flüsse nur ein Ufer haben. Wen sollte diese Gegend wohl auch interessieren, wo die Menschen so gern dulden, wo sie Dulder sind ihrer melancholischen Teufel und ihrer selbst, wo sie von frühester Kindheit an bis zu ihrem letzten Tag dulden, und das still und mit einer boshaften Schadenfreude gegenüber dem eigenen und dem fremden Dulden, wo weder Gläser zerschlagen noch Jazz gespielt wird, da das Dulden keine besondere Freude ist und auch keine besondere Trauer, sondern etwas, mit dem man leben muss, weil es Bestimmung ist.

Obwohl die Landschaft schön ist, die Berge hoch, die Hügel grün, der Wein süß, das Meer blau. Aber wer Augen hat zu sehen, der weiß sehr wohl, dass auch das bloß Blendwerk der melancholischen Teufel ist. Es stimmt, dass die Menschen hier schon immer zu Gott um Hilfe gebetet haben, auf jedem Hügel haben sie, treue Söhne und Töchter der katholischen Kirche, sich ein barockes Kirchlein gebaut und zu ihm gebetet, er möge sie von den Türken, den Deutschen und den Italienern befreien, auch von den Protestanten, die sie nach Deutschland vertrieben, obwohl ihnen die slowenischen Prediger die ersten schriftlichen Texte in der eigenen Sprache, die Bibel, die kurz nach der lutherschen erschien, Druckereien, eine Vielzahl an Büchern beschert hatten, sie vertrieben sie und verbrannten ihre Bücher öffentlich. Sie vertrieben sie, und dann feierten sie sie, wie sie auch immer ihre toten Dichter gefeiert haben, immer nur die toten, die lebenden mochten sie nie. Sie priesen Gott und feierten ihre Toten, Gott vor allem deshalb, weil er ihnen die schöne Landschaft geschenkt hat. Damals, als er die Welt erschuf, erzählt eine berühmte Legende, damals hatte Gott die Schönheit sorgfältig auf alle Länder der Welt verteilt, sparsam und vorsichtig, aber am Schluss war ihm noch eine ganze Handvoll zurückgeblieben, und die streute er über jenes Land aus, das heute Slowenien heißt, diese Geschichte erzählen sich die Leute dort seit jeher gern.

Diese Legende haben sie gern, weniger gern haben sie eine andere, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts der Schriftsteller Ivan Cankar für sie notiert hat, die Geschichte vom Besuch des Heilands: Da wandert unser Heiland über die Landstraße und sieht auf einem Randstein einen Mann sitzen, und der Mann weint untröstlich. Was ist mit dir, Mensch, fragt unser Heiland, den der Mann in der Tiefe seines Herzens dauert, warum weinst du? Ich bin dein Heiland, ich kann dir helfen. Der Mann hebt die tränennassen Augen und sagt: Ich bin Slowene. Der Heiland sieht ihn an, dann setzt er sich zu ihm und fängt ebenfalls bitterlich an zu weinen. Wenn es so ist, sagt unser Heiland, kann auch ich dir nicht helfen. Und auch ihr schönes Land kann ihnen nicht helfen, denn seine Schönheit ist ein Blendwerk für die Reisenden. Je mehr sie selbst, die Bewohner dieser Landschaft, auf dieses Blendwerk starren, je mehr sie die hohen Berge besteigen und die gelben Felder betrachten, desto mehr kommen sie sich und anderen, sich mehr noch als den anderen, hässlich und böse vor, und wenn sie es nicht genug sind, wenn sie noch nicht hässlich und böse genug sind, dann fügen sie sich und anderen Schaden zu, damit sie es sind. Schreibende Menschen und allerlei Künstler sprechen mit besonderer Frömmigkeit das Wort „Sehnsucht“ aus und erklären einer dem anderen voller Stolz, dieses Wort verstehe niemand, dieses Wort verstehe niemand bis in seine Tiefe, und dieses Wort lasse sich in keine andere Sprache übersetzen, dieses Wort sei magisch und auf unsagbare Weise nur den Bewohnern dieser Landschaft verständlich.

Natürlich haben die Menschen hier seit jeher dafür gesorgt, anderen und sich selbst, sich selbst und anderen Verletzungen und Schaden zuzufügen, sie haben sich auch Gesellschaftsordnungen gewählt, die ihrer grundsätzlichen Lebenseinstellung, ihren auf tiefer melancholischer Boshaftigkeit beruhenden gegenseitigen Beziehungen am besten entsprachen. Hier haben opressive Systeme die beste Wirkung entfaltet, hier konnte die gerissene und hinterhältige Gewalt des Klerikalismus wuchern, der sich bei erster Gelegenheit zu dem brutalen Verbrechertum eines ganz originären, verrohten Kommunismus auswuchs. Hier erreichten die politischen Polizeien verblüffend gute Resultate, deckten sie sich doch mit dem Wesenskern der Menschen, die sich in ihrer natürlichsten, tief in der Geschichte, tief in der Natur begründeten Verfassung nur dann befinden, wenn sie sich selbst und anderen, anderen und sich selbst Schaden oder langsame Qualen zufügen können. Warum sollte sich jemand für ein solches Land interessieren, auch wenn die Durchreisenden lobend hervorheben, dass auf den Plätzen ihrer Städte keine Reiter mit erhobenem Säbel stehen, sondern überall nur Dichter, Grammatiker und Bibliothekare, warum sollte jemand die Literatur dieses Landes lesen, die all die böse Melancholie darzustellen versucht, die es die ganze Zeit auch verspottet, weil sie glaubt, sie könne es auf diese Weise herausreißen, warum sollte überhaupt jemand von der Unrast lesen, von der blinden Unrast der Geschichte, die das verrückte zwanzigste Jahrhundert mit seinen Heilsideen, seinen Armeen und Polizeien, Proklamationen und Ovationen unter den slowenischen Menschen gesät hat?

Wer aus dieser blinden Unrast heraus schreibt, wer mit fröhlichem Spott für sich und andere von den Menschen und Teufeln dieser Landschaft erzählt, wer sie mit seinen Sätzen und Geschichten provoziert, die Teufel und die Menschen, der fragt sich nicht, warum er irgendwem die Geheimnisse dieses Landes erklären soll, wo sich dessen Bewohner doch am liebsten so rasch wie möglich all dessen entledigen würden, ihrer Geheimnisse, ihres Gedächtnisses, ihrer hinter Jauchzern versteckten dunklen Melancholie, auch ihrer Sprache. Um so rasch wie möglich freien Handel zu treiben und zu feilschen, um in allem so zu sein wie die anderen, alle anderen, beliebig andere, nur nicht so, wie sie selbst sind, mit all den Schatten, die um die Dorfkirchtürme und durch die Gassen der sonntäglich leeren Städte fliegen, Schatten, die fast possenreißerisch auf die Meeresfläche hinausjagen und die du, Reisender, an manchen Abenden auch wahrnehmen kannst, in jenem hellen Riss am Horizont, in dem roten Glühen zwischen der Wasserfläche und den Wolken, wenn du in dem Moment zufällig an der Spitze stehst, am Bug der steinernen Stadt, die wie ein steinernes Schiff aussieht, das schon lange darauf wartet, irgendwohin auszulaufen.



Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof

Drago Jancar, geboren 1948 in Maribor/Marburg (Slowenien), lebt als Schriftsteller, Essayist und Dramatiker in Ljubljana/Laibach. Er ist einer der profiliertesten Autoren der zeitgenössischen slowenischen Literatur. Seit 1971 hat er ein umfangreiches, vielseitiges Werk vorgelegt, das acht Romane, etliche Novellen und Essaybände sowie zahlreiche Theaterstücke umfasst. Er ist Träger der bedeutendsten Literaturauszeichnungen seines Landes. 2007 erhält er den Jean-Améry-Preis für Essayistik.


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Februar 2008

REPORT online - Wieser Verlag -