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Kommentar von Marjana Gaponenko

Rodina – Blicke und Gedanken einer jungen Ukrainerin

Angefangen hat es mit der Mülltrennung. Plastik zu Plastik, Papier zu Papier, Restmüll zu Restmüll. Dann kam die Glastrennung dazu. Flaschen werden nach Farben sortiert: Grünglas zu Grünglas, Braun zu Braun, Weiß zu Weiß. Als ich vom Sperrmüll erfuhr, war ich gleichzeitig erschüttert und entzückt. Welche Selbstdisziplin diese Europäer haben müssen und welche Geduld!

Das hält sie alle fit und munter, habe ich mir gedacht. In den GUS-Staaten und in der Ukraine – das Wort „Ukraine“ bedeutet so viel wie „am Rande“ – werden Menschen aus den westeuropäischen Ländern, also außerhalb des „Randes“, als Europäer bezeichnet. Die Teilung in West- und Osteuropäer scheint sich hier sprachlich und mental noch nicht durchgesetzt zu haben. Der Westen ist Europa und die Westeuropäer sind Europäer. Was wir sind, ist trotz aller politischen und geografischen Klarheit unklar. Jede Verallgemeinerung ist ausgeschlossen. „Ehemalige Sowjetunion“ ist zu lang und klingt trist. „Russland“, auch im klassischen Sinne, ist für die denkende Bevölkerung, für ehemalige Gulag-Gefangene und ihre Familienangehörigen unmöglich.

Georgier nennen sich Georgier, Ukrainer nennen sich Ukrainer, Russen nennen sich erstaunlicherweise Russländer, aber erst seitdem sie nur mehr sich selbst haben. Ich frage mich: Wie erklärt ein Moldawier einem kambodschanischen Reisbauern, woher er kommt? Moldawien liegt im Nebel. Wählt er die Worte „im westlichen Süden der Ukraine“, könnte sein Kopf rollen. Europa kann er auch nicht aussprechen, was geografisch völlig korrekt wäre. Also sagt er „Russland“. Der Kambodschaner nickt: Klar, von Russland hat er schon gehört.

Wenn ich an Russland denke, denke ich weder an die Föderative Republik Russland noch an die Sowjetunion noch an das russische Zarenreich. Ich denke an die Weite, die in der Ukraine (am Rande) mündet und in Grenzenlosigkeit übergeht. Ich denke an die Steppe, die sich wie ein staubiger und dennoch goldener Teppich von der Ukraine aus über Eurasien spannt. Russland ist für mich völlig losgelöst von Ethnien, Geschichte und Politik. Es ist nur ein Gedanke und das Gefühl, frei zu sein, so unglaublich das im Kontext mit Putin-Russland klingen mag.

Sooft ich auch als Kind um Wurst, Käse und Brot anstehen musste, sosehr ich in vielerlei Hinsicht eingeengt war – bescheidene Wohnverhältnisse, extrem volle Busse, die Unmöglichkeit, zu reisen –, kam ich mir niemals unfrei vor. Ganz im Gegenteil, die Welt war mein. Das Schwarze Meer lag vor mir und im Rücken begann die Steppe. Auf der Karte wirkte Westeuropa recht klein und krumm, Russland dagegen gigantisch und wohlgeformt.

Ab und zu kamen Schiffe aus fernen Ländern und die Seeleute verkauften am Hafen Bananen, Orangen, echte Schokolade und Kaugummis. Das war Europa. Ein Paradies, wo es alles gibt. Die Vorstellung, alles zu haben, war schön und beunruhigend. Und dann? Was kommt danach? Nicht anstehen zu müssen war undenkbar. Der Kampf um die Wurst im Gastronom Nr. 3 machte das Leben interessant. In vollen Bussen konnte man sich gut unterhalten und die Enge der eigenen vier Wände machte einem nichts aus. Man hatte Bücher, man träumte, man ging ans Meer, man kannte nichts anderes.
Das Bedürfnis des russischen Menschen, sich selbst auszudehnen über den denkbaren Raum der Wünsche und Gefühle, bewirkt ein Sprachphänomen: Die Anwesenheit von Grenzen spielt im russischen Sprachgebrauch kaum eine Rolle. Wenn sie als anwesend empfunden werden, wollen sie überwunden werden. Im Deutschen so geläufige Redewendungen wie „sich zurückziehen“ oder „keine Distanz halten“ scheinen im Russischen keine Entsprechungen zu haben. Man mischt sich ein, man ist mit den anderen, unter den anderen. Das Wort „tolerant“ wirkt dort auch etwas fremd, denn man ist nicht zu Kompromissen fähig. Das alltägliche Benehmen nimmt einen extremen Ausdruck an, jetzt oder nie, Leben oder Tod. „Pathetisch“ ist ebenso ein Fremdwort, obwohl man es durch und durch ist.

Die Überwindung der Grenzen beginnt im Kopf und setzt sich im Benehmen fort: Mein und dein verschmelzen schon in der Grundschule. Diese Buntstifte gefallen mir so sehr, dass ich sie mitnehme. Hinsichtlich der Begriffe „stehlen“ und „mitnehmen“ sind die Grenzen auch sehr verwischt. Es werden Blumen im Park gepflückt und Tannenbäume in der Silvesternacht gefällt, ohne große Gewissensbisse. Wird man erwischt, stellt man sich betrunken. Der Betrunkene hat den Status eines Kranken und wird mit mehr Nachsicht behandelt als ein Normalbürger in der ähnlichen Situation. „Privatsphäre“ klingt für das russische Ohr genauso merkwürdig wie „Privateigentum“. Nicht, dass man diese Begriffe nicht kennt; es fällt einem nur schwer, sie anzuerkennen. Die Grenze ist eine Herausforderung, ihre Überschreitung bewegt die Seele, weckt geistige Kräfte und bedeutet Ausdehnung, Fortschritt, Schritt in die Weite, zum Absoluten. Solange der russische Mensch nicht lernt, seine geistigen Kräfte auf eine andere Weise zu stimulieren als durch das Überschreiten von Grenzen und das oftmals damit verbundene Übertreten von Verboten, wird die Idee des Rechts und der Gesetzlichkeit bei ihm nicht ankommen und sinnlos bleiben.

Ähnlich ist es mit dem Absurden. Nichts mutet komisch an, was sein muss. Mülltrennung muss nicht sein, genauso wie die Glastrennung. Darum erscheint mir das absurd. Bei uns finden diese Prozesse auf natürliche Weise statt, direkt vor Ort und innerhalb weniger Stunden. Katzen, Hunde und Menschen leben davon. Leere Flaschen stehen vor den Müllcontainern, damit sie von Obdachlosen oder Armen in Geld umgewandelt werden. Fisch- und Fleischreste werden behutsam auf Zeitungspapier in den Schatten der Müllcontainer gelegt, genauso wie altes Brot. Sperrmüll landet ohne Voranmeldung auf der Straße – es gibt niemanden, dem er gemeldet werden könnte – und wird mit Dankbarkeit von Mitbürgern entgegengenommen. Das ist in unseren Augen natürlich. Unnatürlich ist es, Pappe zu zerkleinern, bevor man sie in die Papiertonne wirft. Was tun, wenn man zu schwache Arme besitzt? Was machen einsame ältere Damen in Westeuropa mit großen Kartonkisten? Springen sie auf die Kiste, um sie flachzudrücken? Und die Glastrennung? Wer kann schon im Alter erkennen, ob die Piccoloflasche vom „Söhnlein“-Sekt grün oder braun ist? Wenn ich in meiner Heimat von der Müll- und Glastrennung erzähle, hört es sich wie ein Witz an. Genauso absurd wirkt auf Westeuropäer meine Geschichte von Kaviarschulbroten. Sie ist aber für Menschen meiner Generation nichts Außergewöhnliches. Kaviarschulbrot war Ende der achtziger Jahre etwas, das man hinnahm, denn damals gab es eine kurze Zeit lang in den Lebensmittelgeschäften nichts außer Kaviar und Wodka.

So genau und logisch wie die deutsche Sprache ist auch das deutsche Lebenssystem. Alles verläuft ordentlich und nach Plan. „Ich weiß, daß der Zug um Punkt sieben ankommt.“ So soll es sein und so ist es. Man kann hier nichts verschieben, sonst ist es falsch. Im Russischen kann sich jedes der Wörter im Nebensatz frei bewegen. Und der Zug kommt niemals pünktlich an, das ist so sicher wie das scheinbare Chaos, das den russischen Alltag prägt. Man ist froh, dass der Zug überhaupt fährt und irgendwann ankommt. Man freut sich, dass die Züge fahren und anhalten. Wenn sie nicht anhalten, ist etwas passiert, man macht sich Sorgen. Niemand schimpft, niemand verklagt die Bahn. Man steigt irgendwo aus und man fährt ein paar Stationen zurück. Die Zeit fließt langsamer im Osten, Menschen flanieren mehr, als sie laufen. Wer rennt, ist entweder verrückt oder sein Schicksal entscheidet sich in den nächsten Stunden. Wer den Bus verpasst, wartet ein paar Stunden auf den nächsten, oder man nimmt ein Taxi, indem man mit erhobener Hand ein Auto anhält. Man sitzt neben dem Fahrer und führt gewöhnlich ein Gespräch über seinen alten Lada, über seine Vergangenheit als Opernsänger, seine Jugend bei der Flotte, man erfährt, wie das Wetter sein wird, wie der Dollarkurs steht. Hinten kann man gar nicht sitzen, weil der Rücksitz meistens deutliche Spuren von Vieh- oder Gemüsetransporten aufweist. Niemand schnallt sich an, der Sicherheitsgurt ist nicht da oder er ist so staubig, dass man lieber riskiert umzukommen als sich das schöne Kleid zu ruinieren. Wenn das Auto seltsame Geräusche von sich gibt, schaut man auf das Gesicht des Fahrers. Rollt er die Augen, wird er rot, fängt man an zu beten. Wirkt er ruhig, kann man sich entspannen.

Im Unterschied zu den westlichen Ländern wird im Osten nicht über den Tod gesprochen. Ich würde meine Großmutter mit der Frage, ob sie nach ihrem Tod verbrannt oder beerdigt werden möchte, zutiefst beleidigen. Was kommt, das kommt. Hier im Westen ist es ähnlich wie mit den Zügen. „Ich weiß, dass der Zug um Punkt sieben ankommt.“ So selbstverständlich wie der Tod ist das Bedürfnis nach einem Testament und einer Lebensversicherung. Testamente werden schon in der ersten Lebenshälfte verfasst, mit Abständen, wie Liebesbriefe. Bei uns unvorstellbar, hier ein Teil vom Leben. Auch nach dem Tod wird das Chaos vermieden, alles muss nach Plan laufen …
„Meinen letzten Willen“ jetzt zu schreiben ist mir physisch unmöglich. Über den Tod zu reden bedeutet im russischen Kulturkreis so viel wie den Tod herbeizurufen, den Tod anzuziehen. Der Aberglaube ist allgegenwärtig. Wenn ich ein Kleid anhabe, an dem ich schnell einen Knopf annähen muss, halte ich einen Faden im Mund, damit „die Seele nicht zugenäht wird“. Wenn ich einen bösen Blick auf mir spüre, kreuze ich instinktiv die Finger in der Tasche. Wenn ich jemanden von der Ehrlichkeit meiner Worte überzeugen will, schwöre ich, indem ich mich bekreuzige und sage „Ich schwöre bei Gott“. Da zeigt sich dann der häufig verleugnete westeuropäische Aberglaube. Mir wird streng und ernst erwidert: „Schwöre nicht, missbrauche den Namen Gottes nicht!“
Darin gibt sich das romantische und rührende Gesicht des Westens zu erkennen. Das ist in meinen Augen der Faden, der uns verbindet. So unterschiedlich die Menschen auch sind, durch jahrhundertelange Geschichte, landschaftliche und sprachliche Pole, so ähnlich sind sie sich doch in diesem einen Punkt: in ihrer undefinierbaren Sehnsucht. Im Osten wird sie offen gelebt und zum Ausdruck gebracht. Im Westen wird sie aus verschiedenen Gründen missverstanden, verborgen oder verleugnet. Aber sie ist da.

Wenn ich jetzt vor die Tür gehe, trete ich in eine perfekt erscheinende Welt hinaus. Die Rasen sind gemäht, die Hecken zu schönen, hohen Zäunen geschnitten. An manchen Gartentoren bleibe ich stehen und lese „Hier wache ich!“ oder „Ich brauche fünf Sekunden bis zur Tür … und du?“. Wenn ich auf dem regennassen Asphalt ausrutsche, bleibt meine Kleidung relativ sauber, weil die Straßen mit Kehrmaschinen gefegt werden. Hundebesitzer gehen mit ihren Hunden im Park spazieren, eine Tüte in der Tasche für den sicheren und unvermeidbaren Fall. Ältere Damen tragen kurze Haare und Hosen. Schlichte Eleganz oder sportlicher Look. Ich versuche, mir meine Großmutter mit Turnschuhen und Nordic-Walking-Stöcken vorzustellen, in einer weißen Hose und einem Poloshirt. Ich kann es nicht. Die Großmutter trägt Blumenröcke und zuckt nicht zusammen, wenn sie von fremden Kindern mit „Oma“ angeredet wird. Babuschka, ein zärtliches Wort. So zärtlich wird es auch gemeint. Und so soll es bleiben …



Marjana Gaponenko, geboren 1981 in Odessa (Ukraine), studierte Germanistik an der Universität ihrer Heimatstadt und ist seit 1996 als Autorin tätig. Nach Aufenthalten in Krakau und Dublin lebt sie derzeit in Frankfurt am Main. Sie schreibt in deutscher Sprache und hat zahlreiche Beiträge für Literaturzeitschriften und Anthologien verfasst. Zu ihren veröffentlichten Büchern zählen unter anderen „Nachtflug. Gedichte“ (Polonius Verlag, Frankfurt am Main, 2007), „Reise in die Ferne“ (Majak, Odessa, 2003) und „Freund“ (Majak, Odessa, 2002).

Rodina: russisches Wort für Heimat, Vaterland
Babuschka: russisches Wort für Großmutter

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,August 2007
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