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Kommentar von Stefan Grissemann

Lokalanästhesie!

Zur Situation des Kinos in Europas neuen Ländern

Unter all den Problemen, die sich Europas neuen Mitgliedsländern gegenwärtig stellen, spielt die Kunst ja eine eher, sagen wir mal: nachrangige Rolle. Aber erstens ist das bloß eine Mutmaßung – und zweitens kann man natürlich trotzdem über alles reden. Das Kino als Kunst-Subkategorie ist zudem, schon weil es ebenso populär wie kostspielig ist, besonders problematisch und vergleichsweise exponiert also in allen Debatten, in denen es gerade nicht um Verfassungsquerelen, Wirtschaftskrise, Arbeitsmarktflaute oder Zuwanderungsangst geht.

Das osteuropäische Kino ist, in durchaus markantem Unterschied etwa zur Literatur oder zur bildenden Kunst, im Neuen Europa kaum präsent, schlimmer noch: kaum existent. Die Übermacht Hollywoods lässt offensichtlich nicht einmal mehr Nischen für Gegenentwürfe. Dabei gilt: Je kleiner das Land, desto weniger Spielraum für Alternativen. Wie sehr auch die Filmbranche längst globalisiert ist, zeigt ein Blick aufs Kinoprogramm in, nur zum Beispiel, Tallinn, Estland – Stichprobe: 11. Oktober 2004. Im Coca-Cola-Plaza laufen auf 11 Leinwänden „Shrek 2“, „Raising Helen“, Spielbergs „The Terminal“, „Garfield“ und „Dodgeball“. Im nahe gelegenen Kosmos-Kino zeigt man „Catwoman“, „The Stepford Wives“, das Remake der „Ladykillers“ und „King Arthur“. Das Ekraan, das dritte (und letzte) Mainstream-Kino der Stadt, bietet im Wesentlichen dasselbe, nur auf weniger Leinwänden; eine einsame estnische Produktion ist dort zu sehen: der Kinderfilm „Veepomm paksule koutsile“. Das einzige Programmkino Tallinns, Kinomaja, zeigt nur unregelmäßig Filme: dokumentarische, essayistische Arbeiten und kleine, institutionell geförderte Retrospektiven dann und wann.

Ein Problem stellt das Kino nicht nur in den zehn neuen Ländern dar. In allen 25 EU-Staaten musste man in den vergangenen paar Jahren stark rückläufige Besucherzahlen hinnehmen, nur ein Filmmarkt wächst trotz allem unaufhaltsam: der Markt für amerikanisches Kino. Europäische Kinoerfolge bleiben in fast allen Fällen regional beschränkt, nicht exportierbar (Frankreich natürlich ausgenommen, dessen Filmindustrie nach wie vor Weltgeltung besitzt): Europa leidet unter kinokultureller Lokalanästhesie.

Auch Österreichs Art-House-Kinos bleiben, dieser Logik folgend, weitgehend frei von Produktionen aus den zehn neuen Unionsmitgliedsländern. Dabei ist es nicht so, dass es da nichts gäbe, das der Rede und eines zweiten Blicks wert wäre. Estland etwa verfügt, ähnlich wie Lettland, über eine vitale Trickfilmszene, deren Mastermind der estnische Animationsvirtuose Priit Pärn ist; in Polen setzt der Naturalist Robert Glinski den Arbeiten konservativer Kunstkino-Veteranen wie Andrzej Wajda und Papst-Kulturberater Krzysztof Zanussi filmisch komplexe Gegenvorschläge entgegen. Die Slowakei verfügt immerhin über den magischen Realisten Martin Šulík, Tschechien dagegen über einen im besten Sinn absurden Filmemacher wie Petr Želenka sowie beispielsweise über den einzelgängerischen Surrealisten Jan Švankmajer – und über erstaunliche 15 Filme, die man dort jährlich produziert. In Ungarn, wo auch noch etwa neun Filme im Jahr gedreht werden, ist nicht nur der international respektierte Kino-Hermetiker Béla Tarr am Werk, man weiß dort auch mit sonderbaren Filmen wie „Hukkle“ (2002, Regie: György Pálfi) zu überraschen.

Man sieht schon: An kunstsinnigen, kunstproduktiven Individuen mangelt es den meist winzigen Kinoszenen dieser Länder nicht, nur sind die Arbeitsmöglichkeiten dieser Personen beschränkt. In Frankreich werden rund 200 Filme im Jahr hergestellt. In Zypern, Malta und Litauen produziert man, genau wie in der Slowakei und Estland, zwischen null und drei Kinoarbeiten im Jahr. Man muss kein Schwarzmaler sein, um diese Regionen kinematografisches Entwicklungsgebiet zu nennen. Dazu kommt die schnelle kulturelle Verwahrlosung: Die völlig unterfinanzierte Kinoszene Litauens, in den neunziger Jahren noch durch eigensinnige Künstlerpersönlichkeiten wie Sarunas Bartas oder Audrius Stonys und eine starke dokumentarisch-poetische Tradition geprägt, scheint seit Jahren keine relevanten Arbeiten mehr zuwege zu bringen. Heute dreht Hollywood dort, der schönen Landschaften wegen, und benutzt Vilnius als Ersatz-Jerusalem.

Kinoländer sind die neuen Mitglieder, abgesehen vielleicht von Polen, Tschechien und Ungarn, die sich in Sachen filmischer Tradition mit Westeuropa messen können, nicht: Sie stehen am Anfang. Für Koproduktionen fehlt sowieso schlicht das Geld. Die digitale Revolution wird, als einzig probates Mittel gegen die international explodierenden Produktionskosten, dabei behilflich sein, einen wendigen Autorenfilm zu gewährleisten. Er wird nötig sein, um die überall in diesen Ländern klaffende Lücke zwischen dem alten Gute-Laune-Konsenskino und den neueren, ästhetisch genauso festgefahrenen radikalpessimistischen Filmen zu schließen: Die Ratlosigkeit des postkommunistischen Kinos, das den Sozialistischen Realismus von einst durch den Sozialen Realismus von heute ersetzt hat, ist in den Filmen selbst, auch und gerade in den ambitionierten, zu spüren.

„Als Marke“, sagt etwa Christine Dollhofer, Direktorin eines schönen, im Vorjahr erstmals abgewickelten Festivals zum europäischen Gegenwartskino in Linz, als Marke existiere Europas Kino nicht – dessen Qualitäten seien vielmehr in regionalen Besonderheiten und Erzähltraditionen zu finden. Dollhofers „Crossing-Europe“-Festival zeigt Einzelgänger wie Pärn, Švankmajer und Želenka – und führt vor, dass es das gibt: eine formal kompromisslose, dabei nicht bloß kulturpessimistische Kinokunst. Man darf also weiter darauf hoffen, dass das Kino der neuen Europäer dem der alten demnächst nicht nur staatstragend bei-, sondern in aller Respektlosigkeit auch zu nahe treten wird.



Stefan Grissemann, geboren 1964 in Österreich, ist Filmkritiker und Kulturjournalist. Veröffentlichungen u. a. in „Berliner Zeitung“, „Film Comment“ und „Süddeutsche Zeitung“. Publikationen: „Haneke / Jelinek: Die Klavierspielerin (2001)“, „Mann im Schatten: Der Filmemacher Edgar G. Ulmer“ (2003) und „frank films: the film and video work of robert frank“ (2003). In Arbeit: eine Untersuchung des filmischen Werks von Ulrich Seidl. Leiter des Kulturressorts des Wochenmagazins „profil“.
erschienen im "Magazin für Kontakt d. Erste Bank Group", issue4
Magazin, Issue4 -