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Kommentar von Birgit Langenberger

Leidenschaften des neuen Europa oder die Bekehrung des Papstes zum Multikulturalismus durch Slavoij Zizek?

Zizek bemerkt zur Reaktion des Papstes auf Mel Gibson’s Film Passion Christi: „Tief bewegt hat er ‚Es ist, wie es war‘ gemurmelt – eine Aussage, die von offiziellen Sprechern des Vatikan schnell wieder zurückgezogen wurde.“(S.Zizek, Der Standard, 13/3/04) So hat es der Papst wieder einmal bewiesen ohne es je zuvor bewiesen zu haben. Er ist ein under-cover Multikulturalist. Und wenn es sogar der Papst tut, dann müssen wir es auch tun. Obwohl wir Europäer das doch gar nicht gewohnt sind, obwohl es uns so schwer fällt, obwohl wir ständig faux pas gegen unsere transnationalen Nachbarn verüben. Wir wollen keinen Krieg, weil es dort Tote geben könnte - so wie der gute Multikulturalist Colin Powell. Aber Christus muss leiden und nur leiden und wir müssen ihn leiden sehen wollen und es genießen und keine Hoffnung auf Auferstehung.

Zizek zeigt uns einmal wieder die perverse Kehrseite des politisch korrekten Multikulturalism made in America. Genießen und puritanische Verleugnung des Genusses gehen notwendiger weise einher. Genuss darf keine körperlichen Spuren hinterlassen, darf den Körper nicht verpesten. Die Sehnsucht nach dem Mulitkulturalismus ist laut Zizek wie „Kaffee nur ohne Koffein, Schlagobers nur ohne Fett, Krieg nur ohne Tote“ – vor allem auf der eigenen Seite – zu genießen. Zizek’s Liste ließe sich erweitern auf Religion ohne Glauben, Demokratie ohne nationalistischen Demos, und nicht zuletzt Mel Gibson’s Christus ohne Auferstehung.
Die Ausschlachtung des puren Leiden und das Faktum des Antijudaismus verwandelt den partikularen, kulturell situierten Christus in eine Universalie – ohne Hoffnung auf Erlösung. Damit können sich auch ungläubige Märtyrer anderer Konfessionen/Nichtkonfessionen identifizieren. Aber die perverse Kehrseite des Multikulturalismus ist ja, dass die Toleranz gegenüber Menschen als Menschen genau den Ausschluss derer produziert, die sich als Muslim, als Jude usw. zu identifizieren wagen, so Zizek. Da hört es mit der Toleranz auf. Das kann nicht sein, das darf nicht sein. Ich bin liberal und bestimme wer als Liberaler dazugehört oder nicht. Der Ausschluss jeglichen Fundamentalismus stellt daher das Zentrum des multikulturellen Liberalismus dar. In seliger Privatheit ist alles erlaubt – lass es dort nur schwelen.

Dort drinke ich meinen Kaffee mit Koffein und mit Zucker und mit extra-fettem Schlagobers, und da rauche ich extra-starke Zigaretten - die in der Öffentlichkeit den Tod bringen, die anderen den Tod bringen, die die Öffentlichkeit töten. Endlich nur mehr CO2 angereicherte Luft einatmen, und Daft und andere Duftstoff-, Seifengerüche. Weg mit dem ekeligen Körper und seinen Ausdünstungen. Die Besessenheit mit dem Körper und seiner höchstmöglichen Reinheit ist eine spezifisch U.S. Amerikanische Leidenschaft. Der Nichtbeschränkung von Abgasen von Großverschmutzern geht einher mit einer puritanischen Körperkultur, die auf der Ebene des individuellen Körpers alleine das Seelenheil zu finden versucht.

Ein einzigartiger Zaubertrank wird gemixt. Der heutige Multikulturalismus hat etwas geschafft was Christliche Glaubenskämpfer in ihrer traditionsreichen europäischen und auch außereuropäischen Geschichte nicht geschafft haben, nämlich die Radikalisierung des Islam und des Judaismus qua modernem Antisemitismus und Antislamismus. Ist es so wie viele liberale Multikulturalisten behaupten, dass das Gesetz der Gleichheit für alle ohne Einschränkung gilt, oder ist es nicht vielmehr so, dass es eine intrinische Verbindung zwischen dem Gesetz der post-revolutionären fraternite und der Logik der Segregation gibt? (Lacan, zit. in Zizek) Und welchen Unterschied macht das in Bezug auf neue europäische körperliche Verfasstheiten?

Denn was sagen wir denjenigen die behaupten, dass der Papst nie ein Multikulturalist war und es nimmer sein wird, dass er nie mehr als nur ein Wolf im Schafspelz sein kann? Dass, mit anderen Worten, der schnelle Wechsel von seiner ursprünglichen Begeisterung für Mel Gison’s Jesus Leiden „so wie es wirklich war“, der aus Gründen der Konzession an multikulturelle Toleranz in eine gemäßigte, nicht leidenschaftliche Wortwahl übergeführt wurde, nie ein wirklicher Wechsel war. Aber warum müsste der Papst so Rücksicht üben? In Fragen der Begeisterung gegen Kondomverteilung in der Dritten Welt, gegen Abtreibung, gegen Frauen als Priesterinnen, gegen Heirat gleichgeschlechtlicher Partner, gegen die Befeiungstheologie Lateinamerikas war er ja auch nicht zimperlich. Warum sollte er also in diesem Falle Mäßigung üben? Weil er nicht als öffentlich praktizierender Antisemit dastehen will?

So leicht ist die Sache nicht. Zizek’s Pointe ist ja gerade, dass die Trennung selbst zwischen den Fundamentalisten und den Multikulturalisten keine neutrale ist, sondern eine politische. Entgegen der Ansicht eines mainstream Liberalismus, der dem Fundamentalismus und Radikalismus ihre Plätze in einem gesellschaftlichen, angeblich nicht-politischem Außen zuweist, ist die Mitbeteilung an der Produktion dieses Anderen konstitutiv für den Liberalismus. So etwa ist die Konsequenz des Verbots in Frankreich an öffentlichen Schulen muslimische Kopftücher zu tragen, so Zizek, nur eine Aufforderung „verbannt aus dem öffentlichen Raum“ sich zu „fundamentalistischen Gemeinschaften zusammenzuschließen, die nicht integriert sind“. Deswegen ist die eine Seite nicht nur eine notwendige Kehrseite der anderen, sondern selbst der Gestus der Verleugnung wird in die Arbeit der Ideologie einbezogen. Die Leidenschaft des Papstes ist daher genuin trotz und wegen eines multikulturellen Liberalismus der Fundamentalismus miterzeugt.

Gibson‘s Film ist von der Perspektive eines liberalen Multikulturalisten politisch nicht korrekt, da es die Juden für den Tod und das grausame Leiden Jesu verantwortlich macht. Dabei würde nur ein altes antisemitisches Vorurteil wiederholt, das durch historische Analyse längst widerlegt ist – da die Römer und nicht die Juden zu dieser Zeit die Verantwortung für die Vollstreckung von Todesurteilen hatten. Folglich könne der historisch inkorrekte Versuch Juden als Jesusmörder hinzustellen nur aus antisemitischen und antijudaistischen Motiven erfolgen und nur Anstachelung von Ressentiments zum Ziel haben.
Die historisch und politisch korrekte Analyse aber beruht auf einer Unterscheidung zwischen einem realen historischen Ereignis und dessen Niederschrift etwa 40-60 Jahre später in den Evangelien. Das heißt aber auch auf der Unterscheidung zwischen einem historisch gesehen unwesentlichen Ereignis - außerdem, selbst wenn Juden die Verantwortung/Erlaubnis zur Tötung eines Mitjuden gehabt hätten, was ginge dies Christen und andere Gois an - und der durch eine christliche Sekte mediatisierten Version, die historisch gesehen die versuchte Abgrenzung gegen ihre eigenen jüdischen Wurzeln darstellt.

Im Unterschied dazu versucht Zizek die Ebene der Mediatisierung, der Materialität des Mediums selbst so ernst zu nehmen wie es sich selbst nimmt. Es gibt keinen Zugang zum Ereignis, zu der Sache es sei denn über Vermittlung. Wir befinden uns schon immer im Feld des Symbolischen, das ist unhintergehbar. Dieses verlangt eine Reflexion auf einen genuineren Mangel, der das Feld des Diskurses überhaupt erst organisiert. Was das Christentum nie verwinden konnte ist genau der jüdische Ursprung des angeblichen Erlösers aller Menschen, ein Universales das nur durch ein partikulares körperliches vermittelbar war/ist.

Diejenigen also, die selbst gerne von anderen als gute liberale Multikulturalisten angesehen werden, müssen konsequenterweise ihre Gegnerschaft zu dem Film ausdrücken, wobei diejenigen die das nicht tun automatisch zu Antisemititten oder zumindest Teil der Verschwörung werden. Dies setzt voraus, dass das Verbot Juden als Jesusmörder darzustellen, das heißt, die Verwendung politisch korrekter Sprache allein schon die Tatsache und das Fortdauern eines Antisemitismus und Antijudaismus zu beseitigen imstande wäre. Dies zu glauben, hieße jedoch einen inkorrekten Kurzschluss zwischen der Sprache und der Wirklichkeit herzustellen, so also ob das Verbot der Darstellung alleine schon die Tatsachen abschaffen könnte. Das würde nur in die Hände der Verfechter eines ewigen Antisemitismus auf Seiten von Philosemiten wie auch Antisemiten spielen. Deswegen ist die Arbeit der Ideologie selbst zu analysieren.

Diverse Ausschreitungen zur Gelegenheit dieses Films verstärken nur die Binarität zwischen Islam, Judentum und Christentum, so als ob dort der Hund begraben läge. Doch real ist dies nur ein Effekt des Multikulturalismus der wieder ungeschoren davonkommt. Aber was ist Zizek‘s Alternative, sein dritter Weg für das Dilemma eines liberalen, toleranten Multikulturalismus auf der einen Seite und eines Fundamentalismus auf der anderen Seite? Tatsächlich ist die Unterscheidung zwischen beiden nicht neutral – so etwa wie es ein mainstream Liberalismus annimmt, sondern politisch. Er ist positioniert ob er es will oder nicht. Konsequenterweise ist Zizek’s Stellungnahme des einen anderen Materialismus, der nicht den neo-liberalen Konsens als gegeben hinnimmt. Damit soll Intervention ermöglicht werden.

Statt der Trennung zwischen einer reinen Doktrin und ihrer angeblich mangelhaften Realisierung etwa im Liberalismus, Islam, Judentum, Christentum beharrt Zizek darauf, dass es diese Trennung und Reinheit nie geben kann. Die Unterscheidung etwa zwischen “‘gutem‘ Islam und ‚bösem‘ islamistischen Terror“ oder auch die „typisch ‚radikal-liberale’ Unterscheidung zwischen Juden und dem israelischen Staat“ sei falsch, so Zizek. Stattdessen müsste die Spannung, Kluft in das Zentrum der jeweiligen Lehre selbst übertragen werden. Da die reine Doktrin schon immer nur und nicht anders als auf der Ebenen der materialen Praktiken verfügbar ist und daher schon immer einer politischen Instrumentalisierung unterworfen ist, muss genau das, laut Zizek kritisiert werden. Denn eine Art der Argumentation, die an einer angeblich reinen, guten Lehre festhält, und sie abgelöst von den materialen Prozessen der Ideologie (1) verstanden wissen will, trägt einen wesentlichen Teil zur Radikalisierung eben dieser in der Praxis bei. Das ist eine wertvolle Einsicht.

Dennoch, die Pole liberaler Multikulturalismus und Fundamentalismus sind andere Pole als die zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Ein dritter Weg kann sich nicht ausschließlich über Negativität generieren. Insofern Pluralismus und Toleranz Voraussetzungen für die Artikulation sogar von Zizek’s eigener Position sind, ist es fraglich wie die Realisierung eines „konsequenten Materialismus“ erfolgen könnte. Um dem Dilemma eines Fundamentalismus und Multikulturalismus zu entgehen und um nicht einem historischen Determinismus zu verfallen, genügt die theoretische Setzung und Analyse alleine nicht. Von welcher Position kann Zizek’s Modell als dasjenige aufgefasst werden, das es versteht diesem Dilemma zu entgehen? Ist die ironische Einbindung des eigenen Fundamentalismus genug um daraus bestimmte gesellschaftliche, politische Praktiken abzuleiten? Wie soll es einerseits eine a priori Unentschiedenheit darüber geben und andererseits diese trotzdem die Form/Praxis eines „konsequenten Materialismus“ aufweisen?

Zizek’s eigene Grenze beginnt sich dort aufzutun, wo er nicht klar zwischen Instrumentalisierung und Politisierung unterscheidet. Für ihn ist die Sichtbarkeit der Effekte selbst schon die Garantie ihrer Politisierung weil sie vom anderen her definiert sind, und, so scheint es, nur deswegen. Geschenkt sei, dass es keine so genannten natürlichen, dem „Wesen“ einer Sache inhärenten Charakteristika gibt, dass diese schon immer konstruiert seien.

Doch wie steht es mit der Permanenz von Praktiken sei es im Privaten sei es im Öffentlichen? Können diese als produzierter Effekt alleine verstanden werden? Nicht notwendigerweise. Es könnte Sinn machen dennoch zwischen Privatem und Öffentlichem zu unterscheiden ohne einer automatischen Politisierung, Radikalisierung oder im Gegenteil einer Depolitisierung des Privaten das Wort sprechen zu müssen. Einerseits könne man als radikal wahrgenommenen Gruppen die private Ausübung ihrer Doktrinen erlauben, andererseits ihnen verbieten ihre Symbole in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Das würde bedeuten, so Courtney Jung, nicht gegen diese Gruppen per se zu diskriminieren, sondern nur insofern sie versuchen ihre Symbole an eine Öffentlichkeit zu bringen und damit zu politisieren - mit dem ferneren Ziel die tolerante pluralistische gesellschaftliche Ordnung zu benutzen um sie abzuschaffen. Zizek’s Schema im Kontrast dazu erlaubt es nicht zwischen liberalen und weniger liberaleren Modellen und Praktiken von repräsentativer und Basis -Demokratie zu unterscheiden. Alle sind gleicherweise von ihrer Kehrseite, das heißt einem ihnen konstitutiven, wenn auch permanent verdrängtem und verdrängendem Fundamentalismus durchzogen. In Einberechnung der sie begleitenden Leidenschaft.

Mit eben dieser Fragestellung und der des Antisemitismus sieht sich die mit 2004 wesentlich erweiterte EU konfrontiert: Einerseits im Sinne eines Multi-Kulturalismus mehr an Nationalismus, Regionalismen zulassen zu müssen als ihr lieb ist – um von außen genauso angesehen zu werden wie es ihr lieb ist, nämlich als tolerant, pluralistisch - andererseits gerade damit bestimmte Aus- und Einschlüsse und nicht beabsichtigte Politisierungen herzustellen. Am besten ist dies illustriert in der Haltung Europas gegenüber der Türkei: eine angeblich gemäßigte Regierung mit islamischen Neigungen versucht scheibchenweise die mühsam errungene Säkularisierung staatlicher Institutionen mit Hilfe der EU, die auf religiöse Toleranz pocht - als eine der Bedingungen für die Erringung des Kandidatenstatus - rückgängig zu machen. In diesem Sinne scheint Zizek doch Rechtzugeben zu sein: die Bedingung der Möglichkeit des eigenen – auf beiden Seiten - versuchten toleranten, pluralistischen Anblicks von außen ist die Verdrängung und konstitutive Einschließung des Fundamentalismus nach innen, und zwar als genuin politischer Akt.

Ein Papst ohne Favorisierung des Christentums, Jesus ohne Leiden und ohne Leidenschaft, Judaismus ohne zionistischen Nationalismus, Islam ohne Gottesstaat, Demokratie ohne demos, EU mit schon immer gebändigtem Nationalismus...- die materialen Formen der Ideologie. Die Verkörperung, Materialisierung von Prinzipien is alive and well. Erlösung ist nicht absehbar.



(1)Ideologie wird hier, entgegen üblicher Annahmen nicht als „falsches Bewusstsein“ verstanden. Denn letzteres supponiert immer einen angeblichen „Kern“ der Wahrheit, der von einem privilegierten Standpunkt aus erkannt werden könne. Im Kontrast dazu ist für Zizek Ideologie jeder Form von Repräsentation immanent.